Die gesellschaftliche Demarkationslinie verläuft heute nicht mehr zwischen sozialen Klassen, Arbeitern, kleinen Angestellten und dem Bürgertum, sondern zwischen Arbeitsplatzinhabern und solchen, denen das nicht vergönnt ist.
Je schwerer die Krise, desto härter der Krieg um die wenigen Jobs, desto härter die Anspannung jener momentan Privilegierten, der Arbeitenden, wenn es darum geht, ihren Besitzstand zu wahren, ihn gegen das andrängende Heer der Arbeitssuchenden zu verteidigen. Entsolidarisierung ist in der neo-liberalen Gesellschaft vorprogrammiert.
Durch die Vorhaben der Hartz-Kommission wird dieser Tendenz weiter Vorschub geleistet. Denn das Hartz-Papier zeigt die generelle Richtung, die von allen Parteien außer der PDS weitgehend gebilligt wird, bereits an. Es hat sich zur illusorischen (bzw. ideologischen) Aufgabe gemacht, die Arbeitslosigkeit in drei Jahren zu halbieren, eine Prämisse, die rein wahltaktisch zu verstehen war und die vom IAB (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit) als „nicht seriös abgeschätzt“ angesehen wird. Nach IAB-Angaben werden „die den Vorschlägen zugerechneten Effekte weder im geplanten Umfang noch in der vorgesehenen Frist auch nur annähernd zu erreichen“ sein. Anstelle von Maßnahmen, die zu einer Zunahme der gesamtwirtschaftlichen Beschäftigung führten, setze die Hartz-Kommission überwiegend auf arbeitsmarktpolitische Instrumente, deren Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt eher gering sein dürften [zit. nach: Daniel Kreutz (Sozialreferent des Sozialverband Deutschland/SOVD), Zur Bewertung der Ergebnisse der Hartz-Kommission, in: www.labournet.de.
Das dient vor allem der statistischen Bereinigung, aber nicht nur: gleichzeitig werden soziale Besitzstände der BRD ausgehöhlt, das Volksvermögen weiter umverteilt. Der Druck auf die Erwerbslosen wird erhöht. Einige der Kommentatoren sprechen von einem Kampf gegen die Arbeitslosen.
Worum geht es im Einzelnen?
Hartz und seine Mitarbeiter haben „13 Module“ entworfen, die zu einer Umgestaltung der Bundesanstalt für Arbeit führen sollen, zu einer „aktivierenden Politik“ gegenüber den Arbeitssuchenden, einer schnelleren Vermittlung und zu mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt, abstrakte Formulierungen, die für Betroffene jedoch konkrete Konsequenzen besitzen. Am meisten diskutiert ist die Verschärfung der „Zumutbarkeitsregeln", von den Arbeitsgebern natürlich begrüßt. Stellvertretend seien etwa die Stellungnahmen des Bayerischen Industrie- und Handelskammertages (BIHK) und des Bayerischen Handwerkstages erwähnt, die positiv herausstreichen, dass nunmehr die „Beweislast umgekehrt“ werde (s. www.muenchen.ihk.de/service/aktuell/2002/pm570.htm). Schon vom Jargon her ein schönes Zitat: wie ein Verbrechensverdächtiger hat jetzt der Erwerbslose glaubhaft zu belegen, warum er nicht längst in Lohn und Brot steht! Das in einer Situation, in der sich 7 Arbeitssuchende um eine Stelle balgen! Den Bayerischen Wirtschaftskammern, die explizit bedauern, dass die Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld nicht deutlich verkürzt werden soll, sind die Hartz-Pläne offensichtlich noch nicht unsozial genug.
Die Zumutbarkeitsklausel regelt, welche Stellenangebote ein Arbeitsloser annehmen muss. Bislang galt der Grundsatz einer freien Wahl des Wohnortes, jetzt soll dieser zur Disposition gestellt werden. Noch schlimmer ist aber, dass auch unterqualifizierte Angebote und Lohneinbußen in Kauf genommen werden sollen. Das bedeutet konkret, dass jede/r Erwerbslose, unter Androhung des Leistungsentzugs, gezwungen werden kann, irgendwo in Deutschland für weit weniger Geld eine Arbeit zu verrichten, die ggf. weit unter ihren/seinen Befähigungen liegt. Wenn auch dieser Job verloren geht (was heutzutage immer möglich ist, zumal viele Stellen ja von vornherein befristet sind), wird das Arbeitslosengeld natürlich auf der Grundlage der letzten Beschäftigung bemessen, was zu einer fortgesetzten Spirale nach unten führen kann. Einmal im minderqualifizierten Bereich ist dann auch eine noch niedrigere Tätigkeit zumutbar, ein Heer von Tütenpackern im Supermarkt, Klomännern und Schuhputzerinnen mit Diplom steht bereits in Startlöchern, um den „Black-Suit"-Trägern aus den Versicherungen, Banken und Kommunikationseliten willfährig Dienstleistungen zu erweisen. Wer sich weigert, bekommt nach Hartz ein „filigranes System individueller Sanktionen“ zu spüren. Durch Anhebung der 325-Euro-Grenze für Mini-Jobs in Privathaushalten auf 500 Euro, ist für die Kaste der Besserverdienenden übrigens auch wieder ein angemessener Nachschub an Dienstboten, Putzfrauen und Gärtnern gewährleistet.
Wohl nach holländischem Vorbild sollen aus den Arbeitsämtern moderne Jobcenter werden, was immer das heisst: ob diese Umbenennung allein die Vermittlungsquoten der jetzigen Arbeitsamt-Mitarbeiter überproportional befördert, ist mehr als fraglich. Aus Arbeitslosen sollen Angestellte der sogenannten Personal Service Agenturen (PSA) werden, wo sie per Tarifvertrag beschäftigt werden, allerdings mit niedrigen Einstiegslöhnen. Sie können dann jederzeit, notfalls für kurz, an Firmen „verliehen“ werden, ein Kündigungsschutz besteht nicht. Der Bremer Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel spricht von der Möglichkeit eines „Drehtüreneffekts": „Unternehmen schicken bisher Beschäftigte in die Arbeitslosigkeit. Diese kommen dann vermittelt über die PSA - als Zeitarbeiter zurück". (Beitrag für NDR, s. unter: www.zait.uni-bremen.de/rudolf-hickel/word-dateien/Hartz-Kommentar.doc oder: www.ndr.de/hf/radio3/sendungen/data/20020816_hartz.pdf
Die Gefahr indirekter Lohnsenkungen durch die Hintertür ist groß: auch diese Maßnahme produziert Scharen von Billiglohnarbeitern außerhalb der normalen Tarifverträge, ein Witz eigentlich, dass die Gewerkschaften dem zustimmen und für eine rasche Umsetzung der Hartz'schen Denkfrüchte plädieren. Es zeigt einmal mehr, wessen Anwalt sie sind: sicher nicht der der Erwerbslosen!
Dass diese Prozeduren so rasch wie möglich umgesetzt werden können, soll zusätzlich durch die Einrichtung eines Zeitarbeiterpools erreicht werden, der über private Leiharbeitsfirmen organisiert werden soll. Was davon zu halten ist, zeigt unter anderem eine Untersuchung, angestellt von der Arbeitslosenzeitung quer aus dem Raum Oldenburg (quer.infos@web.de): sie sahen sich das Angebot von Zeitarbeitsfirmen einmal genauer an und stellten fest, „dass es sich häufig nicht um tatsächliche Stellenangebote handelt, sondern darum, die eigenen Karteien mit potentiellen Arbeitnehmern zu füllen - für den Fall, dass die Zeitarbeitsfirma einmal einen Auftrag bekommen sollte, in der die entsprechende Qualifikation gefragt ist.“ (s. unter: www.attac-netzwerk.de)
Fast schon zu einem (Un)Wort des Jahres ist die Hartz'sche „Ich-AG“ gediehen (von den Berliner Glücklichen Arbeitslosen sogleich in „Ohnemich-AG“ umgetauft). Dies ist eine besonders knifflige Variante, wird dadurch doch die „Scheinselbstständigkeit“ wieder eingeführt, die die rot-grüne Koalition in der Anfangszeit ihrer Regierung erst abgeschafft hatte. Umsätze bis 25000 Euro im Jahr sollen nur mit 10% besteuert werden. Dass der Staat ein Interesse an solch einer scheinhaften Förderung der Selbstständigkeit hat, ist klar. Selbstständige kosten nichts, bringen aber viel ein: neben den normalen Steuereinnahmen Umsatz- und Gewerbesteuer, immense Krankenkassenbeiträge in die gesetzlichen Kassen usf.
Wenn der Ex-Arbeitslose, Jetzt-Mikro-Unternehmer es tatsächlich schaffen sollte, sich 3 Jahre durchzuhangeln, ist er für den Staat kein Problem mehr, ist sein Anspruch auf Arbeitslosengeld erloschen, ist er ein Fall fürs Sozialamt, also für die Kommunen.
In einer Situation, in der reihenweise Architekten, Journalisten und IT-Spezialisten dort anlanden, ist ein solcher Vorschlag blanker Hohn. Wer in Deutschland selbstständig ist, lebt auf eigenes Risiko, ohne Netz und doppelten Boden. Krankheiten oder Urlaube kann sich der/die Selbstständige nicht erlauben, die Gefahr besteht, dadurch postwendend vom Markt gefegt zu werden.
Wollte man Selbstständigkeit tatsächlich fördern, müsste staatlicherseits eine echte Chance gegeben werden, die Überlebenskosten zu senken, niedrigere Beiträge, leichtere Gewährung auch von Kleinkrediten, ggf. befristete Steuerbefreiungen in der Aufbaufase. Da ist es eigentlich kein Wunder, dass die Selbstständigkeitsquote im Deutschland der 90er Jahre ziemlich konstant bei 10% Prozent lag (beim einem Durchschnitt von 15% in anderen europäischen Ländern [nach Angaben des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung, andere liegen deutlich tiefer!]), allen Gründungsinitiativen zum Trotz, die jedoch sicherlich einigen Werbeagenturen etwas eingebracht haben. Hierin besäße in der Tat ein Mittel zur Senkung der Arbeitslosigkeit.
Während für die meisten Vorschläge der Hartz-Kommission allein die Arbeitslosen heran gezogen, in die Pflicht genommen werden, wird den Arbeitgebern die Schaffung neuer Stellen durch zinsgünstige Kredite versüßt. Bezahlt werden soll das durch den sogenannten „JobFloater", ein festverzinsliches Wertpapier mit einem Zinssatz von 2,5-3%, nach der Telekom-Aktie also einer weiteren Art Staatsanleihe, die unmissverständlich klar stellt, auf wen die Aktivierung des Arbeitsmarktes abgewälzt wird. Während die Bevölkerung brav einzahlt, werden die Unternehmen aus diesem Fonds finanziell begünstigt. Das heißt konkret: „Die Beschäftigung von Menschen zum Zweck privatwirtschaftlicher Renditeerzielung wird zunehmend zu einem öffentlichen Subventionsbestand.“ (Daniel Kreutz, a.a.O.)
Zur Finanzierung zusätzlicher Ausbildungsplätze soll ein „AusbildungsZeit-Wertpapier“ (AZWP) eingeführt werden, mittels dessen Eltern und Großeltern bereits einen Anteil für die Ausbildung ihres Nachwüchsigen leisten. Die Unternehmen werden so aus ihrer verfassungsgerichtlich bestätigten Pflicht entlassen, im Rahmen des dualen Ausbildungssystems ein ausreichendes und auswahlfähiges (d.h. 1,25-faches der Nachfrage) Ausbildungsplatzangebot zu erbringen.
Ursprüngliche Pläne zur pauschalen Senkung der Lohnersatzleistungen (Arbeitslosengeld bzw. -hilfe, demnächst: Arbeitslosengeld I und II) wurden zwar gestoppt, dennoch wird durch den „Verzicht auf die jährliche Anpassung des Bemessungsentgelts“ auf längerer Sicht eine effektive Kürzung vorgenommen. Senkungen des „Sozialgelds“ (bisher: Sozialhilfe zum Lebensunterhalt) sind ebenfalls wahrscheinlich. Man sieht, wer die Zeche zahlen muss, die TAZ urteilt zurecht:
"Vermögen ist kein Thema, man konzentriert sich auf die Armut und debattiert: Zeitarbeit unter Tarif, Niedriglöhne oder ein neues „Arbeitslosengeld II". Stets kreist der Diskurs um die unteren Schichten. Dabei wird unterstellt, dass der Arme nicht mehr arm sei, wenn er arbeiten könnte. Nichts ist ferner der Realität. Die Armut wird unter den Armen umverteilt. Wer jetzt schon Arbeit hat, aber wenig vrdient - der wird bald erleben, dass sein Einkommen noch weiter sinken kann. Die Billigkonkurrenz der Niedriglöhner macht es möglich. Die scheinbar so „überparteiliche“ Kommission ist Partei - für die Wohlhabenden.“ (taz, 17./18.8.2002)
Die Umgestaltung der Gesellschaft hin zu einem System arbeitender Armer steht bevor, bald wird bei uns für viele (ebenso wie in den „vorbildlichen“ USA) ein Job nicht mehr ausreichen, um das Überleben zu sichern, die Niedriglöhner dürfen sich mit dem Gedanken an zwei oder gar drei verschiedene Tätigkeiten gewöhnen, ein Leben neben der Arbeit findet dann nicht mehr statt. Die Gesellschaft zerfällt in zwei getrennte Sektoren, jenen der Begüterten und den der Unterprivilegierten, die sich noch so sehr krumm legen können, aber immer nur von der Hand in den Mund leben. Diese Asiatisierung der westlichen Welt, die eine Art Manchester-Kapitalismus im Zeichen der Dienstleistungsgesellschaft mit sich bringt, führt über kurz oder lang zu einem Ende des Solidarpakts.
Denn für die (besserverdienende) arbeitende Bevölkerung wird es immer unattraktiver, in eine Arbeitslosenversicherung einzuzahlen, die im Bedarfsfall nurmehr sehr reduzierte Leistungen erbringt. Wie bei Renten- und Krankenversicherung wird die Verantwortung auf eine individuelle Privatvorsorge abgewälzt. Die zwangsläufige Konsequenz ist eine Entsolidarisierung der Bevölkerung im großen Stil, was um so bedenklicher ist, als dass heute wieder eine Nachbarschaftshilfe und ein kommunitaristisches Gesellschaftsideal zum Ausgleich sozialer Defizienzen beschworen wird, die unter diesen Bedingungen gar nicht mehr gedeihen können.
Was wäre zu tun? An der Tatsache, dass einfach nicht genug Arbeit für die große Zahl der Arbeitssuchenden vorhanden ist, kommt man nicht vorbei. Da ein Großteil konjunktureller Gewinne gerade durch sogenannte „Rationalisierungen", also die Vernichtung von Arbeit, gemacht werden, weist der Gedanke der „Glücklichen Arbeitslosen", so utopisch er ist, in die richtige Richtung: die Unternehmen müssten solche, die freiwillig aus dem Arbeitssystem austreten, die Arbeitslosen-Verwaltung entlasten, an ihren Gewinnen beteiligen, durch Zahlung eines Existenzgeldes (s. Guillaume Paoli (Hg.), Mehr Zuckerbrot, weniger Peitsche. Aufrufe, Mainifeste und Faulheitspapiere der Glücklichen Arbeitslosen, Berlin: Edition Tiamat 2002, S. 35) Das wäre gewissermaßen so etwas wie die Tobin-Steuer für den Arbeitssektor, möglicherweise könnte man diese beiden Abgaben sogar kombinieren, da der Zusammenhang zwischen Globalisierungsgewinnen und Arbeitsplatzverlusten in der westlichen Welt auf der Hand liegt.
Gleichzeitig müssten Maßnahmen eingeleitet werden, die das Angebot an Arbeit (für jene, die arbeiten wollen) wirklich erhöhen, neben der erwähnten Forderung der Selbstständigkeit etwa durch den Abbau (besser: das generelle Verbot) von Überstunden, durch eine echte Förderung von Teilzeit - das Gesetz über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge aus dem letzten Jahr, das der Teilzeit ein besseres Image und endlich eine rechtliche Grundlage schaffen sollte, bleibt schwammig: „Der Arbeitgeber hat einen Arbeitsplatz, den er öffentlich oder innerhalb des Betriebes ausschreibt, auch als Teilzeitarbeitsplatz auszuschreiben, wenn sich der Arbeitsplatz hierfür eignet.", heißt es da in Paragraph 7. Welche Vorschriftlichkeit das nun haben soll, ist unklar, es ist jedem Arbeitgeber ein Leichtes zu behaupten, dieser oder jener Job eigne sich nun per se nicht zur Verteilzeitung.
Auch wenn hier und da in öffentlichen Stellenausschreibungen die Möglichkeit eines Teilzeit-Splittings eingeräumt wird, meint man selbst in diesen neutralen Sachtexten das Ressentiment heraus zu spüren, ist eine solche Ausschreibung eben nur Ergebnis einer veränderten Gesetzeslage, es würde von zwei Bewerbern sicherlich der bevorzugt, der sich für Vollzeit entscheidet. Neben den kontraproduktiven Auswirkungen für den Arbeitsmarkt ist das auch ein weiterer Akt in der andauernden Benachteiligung von Frauen mit Kindern.
Natürlich muss die Bevölkerung ebenfalls bereit sein, Einbußen in Kauf zu nehmen - was nicht nur eine Form der Selbstbescheidung wäre, sondern ein Akt der Solidarität. Arbeitende könnten mit einem Übergang zur Teilzeit (oder auch nur Arbeitszeitverkürzungen) erwerbslosen Kollegen wieder eine Beschäftigung verschaffen. Die Forderung nach vollem Lohnausgleich, wie sie speziell die Gewerkschaften unverbrüchlich aufrechterhalten, erscheint da illusorisch und macht einmal mehr klar, dass den DGB-Funktionären das bloße Prinzip flächendeckender Tarifverträge wichtiger ist als die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Auch über die Einführung eines freiwilligen Rotationsprinzips, das einige Arbeitstheoretiker ins Spiel bringen, sollte man nachdenken. statt von dem Gedanken lebenslangen Schaffens auszugehen, könnte das Konzept festgelegter Pausejahre, an denen andere weiter führen, um dann ihrerseits wieder zu pausieren, eine gewisse Attraktivität besitzen. Anstelle eines „survival of the fittest“ in der Arbeitswelt würde so dem Prinzip Rechnung getragen, dass Leben eben nicht nur Arbeit ist, dass auch andere Dinge zur Aus- und Erfüllung des Lebens existieren. Das mag manchem abstrus vorkommen, aber offensichtlich ist doch, dass die aktuellen Konzepte nicht zur Bewältigung der Krise beitragen, weder die gesellschaftliche Stimmung verbessern noch die Einzelnen glücklicher machen.
Dass die bundesrepublikanische Gesellschaft so gelähmt wirkt, liegt am unflexiblen Betonverhalten der Funktionäre und Lobbyisten ebenso wie an bürokratischen Verkrustungen - da hat der BDI ausnahmsweise einmal Recht: wer sich in den Blätterwald begibt (gleich auf welchem Bereich, Gewerbe, öffentliche Förderungen, Verwaltung, was immer) findet so leicht nicht mehr heraus und muss einen Großteil seiner Zeit, die eher für Kreativität und Innovation, also die Sache selbst, frei bleiben sollte, diesen tertiären Tätigkeiten zuwenden. Dieses Gefühl einer allgegenwärtigen Verlangsamung hat gewiss auch mit einer Politik der Mittelmaßförderung auf hohem Niveau zu tun, die nicht erst unter Kohl einsetzte. Eine unbewusste, deutsche Angst vor dem Kreativen, also Extremen, also Gefährlichen, hat möglicherweise dazu geführt, dass hierzulande viele Positionen mit dem Typus des pflegeleichten, verlässlich-stetigen Arbeitstiers besetzt worden sind. Dieser Typus erfüllt seine Aufgaben, aber darüber geht er auch nicht hinaus. Gerade in den Universitäten ist er recht verbreitet, und gerade hier passt er am wenigsten hin. Dies ist sicherlich mit ein Grund, warum der Innovationsschub ausbleibt, wie vielerorts beklagt wird. Mir scheint, das liegt auch an einem grundsätzlich stereotyp-technokratischen Denken, das zur Interdisziplinarität unfähig ist. In Deutschland fördert man einseitig die Naturwissenschaften, baut Geisteswissenschaften ab, ohne zu begreifen, dass ein fächerübergreifender Dialog wichtig ist, um ein neues gesellschaftliches Gesamtgefüge heraus zu bilden. Gerade in Ländern wie Großbritannien und den USA werden haufenweise Philosophen- oder Historikerstellen besetzt, die Hälfte aller Germanisten arbeitet in den USA.
Während alle Welt sich vernetzt, das Internet dazu die gigantische Metapher darstellt, werden in Deutschland die Sparten weiter säuberlich getrennt, nach Kantischem Muster kategorisiert und transzendiert. Die eigene Scheuklappe steht dabei im Vordergrund. Deutsche Webseiten bieten dafür ein schönes Beispiel: viel Mühe wird für die Darstellung der eigenen Belange aufgebracht, das ist alles; in Amerika lag bereits vor Jahren der Schwerpunkt auf ellenlangen Linklisten, also auf der Vermittlerfunktion, die sich eher als Teil eines Systems auffasst.
Das nur als kurze Skizze gesellschaftlicher Grundzustände, die hierzulande längst mit thematisiert werden müssten, gerade auch im Kontext mit wirtschaftlichen Fragen. Alles kommt irgendwoher, natürlich führt die wenig praxisorientierte Bildung in Schule und Universität zu einer Erwerbswelt (d.h.: Arbeiter-, Angestellten-, Manager-, Funktionärs- und Politikerwelt) mit mangelhaftem Pragmatismus.
Das Hartz-Papier krankt daher schon daran, dass es Pragmatismus in einer Gesellschaft einführen will (noch dazu mit untauglichen, antisozialen Mitteln), der es daran komplett gebricht. Die sozialen Folgen solcher Bestrebungen sind unabsehbar. Genau genommen, kann ich mir kaum vorstellen, dass deutsche Unternehmer, die jetzt so markig die Aussetzung der Lohnersatzleistungen verlangen, wirklich möchten, dass 50% der Bevölkerung auf der Straße leben. Es könnte sehr gefährlich für sie werden.
Das Hartz-Papier als Kurzfassung sowie in voller Länge ist als PDF-Download unter:
www.arbeitnehmerkammer.de/sozialpolitik/seiten/1_politik_arbeitsmarktreform.htm erhältlich