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Juni 2003
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Anne Hahn
für satt.org | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
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Im Namen des VolkesEine Sammlung von 80 Gerichtsurteilen, die komisch und ergreifend sind"Im Namen des Volkes. Der Angeklagte wird wegen fortgesetzter Beleidigung zu einer Geldstrafe von acht Tagessätzen zu je dreißig DM verurteilt, im übrigen freigesprochen … Gründe: Der Angeklagte hat zu seinem Leidwesen mit seiner Sexualität ab und zu Probleme. In der Nacht vom 17. zum 18. November 1982 begab er sich in den Tiergarten und zeigte dort der Marion Brand und der Sabine Brecht, die dort als Prostituierte auf Kundschaft warteten, sein steifes Glied. Als die beiden zu ihm sagten, er solle "abhauen" und sie nicht in ihrem sogenannten Gewerbe stören, beschimpfte er sie mit den Worten Hure und Miststück. Der Angeklagte hat diesen Sachverhalt in der Hauptverhandlung glaubhaft zugegeben. Die Staatsanwaltschaft hat ihn als fortgesetzte Beleidigung nach § 185 und als fortgesetzte exhibitionistische Handlung nach § 183 StGB anzusehen. Richtig ist, dass die Ausdrücke, die der Angeklagte verwendete, beleidigend sind, auch das Wort Hure, weil Hure’ zwar eigentlich nichts anderes bedeutet als Prostituierte, heute aber nur noch als Schimpfwort gebraucht wird. Der Tatbestand des § 183 StGB ist jedoch nicht erfüllt. Normalerweise hätte sich der Angeklagte durch seine Handlung schon als Exhibitionist strafbar gemacht, denn seine Handlung ist durchaus geeignet, bei den Betrachtern Abscheu und Ekel hervorzurufen oder zumindest das Schamgefühl zu verletzen … Bei Prostituierten, nachts im Tiergarten, liegt das aber anders. Von steifen Gliedern sind sie in ihrem seelischen Befinden nicht zu beeinträchtigen, im Gegenteil: so etwas gehört als wesentlicher Bestandteil zu ihrem Gewerbe … Für die Beleidigung genügt eine kleine Geldstrafe, auch schon deshalb, weil der Angeklagte wegen der Tat bereits andere erhebliche Nachteile gehabt hat. Er wurde nämlich, wie er in der Hauptverhandlung glaubhaft gesagt hat, von einem Mann, vermutlich von dem Zuhälter der einen Prostituierten, mörderisch verprügelt. Warnstädt." Dieses ist eines der älteren und kürzeren Urteile, die formal alle nach dem gleichen Schema abgedruckt wurden. Urteil, Gründe, Kostenentscheidung. Das klingt viel trockener, als es in Wirklichkeit ist, denn der Amtsrichter Warnstädt war ein Komiker in Robe und sozialkritischer Beobachter seiner Ära zugleich. Frappierend ist die Wärme und Einfühlsamkeit, mit der er die kleinen Leute beurteilt. Nur wer ein wirklich böser Finger war, kam mit deftigen Strafen hinter Gitter. Freigesprochen wurde ein promovierter und unbeschäftigter Germanist, der in verzweifeltem Zustand Klebstoff mopste, um ihn sogleich einem Papierkorb zu überantworten. Ebenso ungeschoren kam ein arbeitsloser Schelm davon, der ehemals am Schillertheater arbeitete und sich ein umfangreiches Druckwerk über Wohn- und Mietrecht ohne Bezahlung aneignen wollte – hier ließ Warnstädt Gnade vor Recht ergehen, da die Geschädigten als gesellschaftlich überflüssig gewordene Figuren schon gestraft genug seien. "Warnstädt ist nicht der Stadtromantiker, der vorgibt, die kleinen Leute zu lieben. Er benutzt sie und erhebt sie zugleich, er macht sie zu literarischen Figuren einer Aufführung, des ewigen Spiels von Schuld und Sühne, Tragödie, Farce oder Lehrstück, je nachdem." So beschreibt Renate Rauch im Vorwort der Sammlung die Haltung des nunmehr pensionierten Amtsrichters Rüdiger Warnstädt. Sie muss es wissen, denn über etliche Jahre hinweg erfreute Renate Rauch die Leser der Berliner Zeitung mit ihren Notizen aus dem Gerichtssaal Berlin Moabit, bei denen der Amtsrichter eine besondere Rolle spielte. Seine Urteile und Kommentare waren so populär, dass Gymnasiasten, Rentner, Polizeischüler und Verehrerinnen zu ihm pilgerten und ihre Besucher von auswärts ins Gericht führten, wie sonst in die Oper. Die 80 hier gedruckten Urteile sind der zufälligen Auswahl Warnstädts zu verdanken. Jeweils kurz nach dem Prozess (oft in Cafes’ unter den Linden) geschrieben, bewahrte der Richter von den gut 8.000 Urteilen, die er "gemacht" hat, nur einige auf. "Die meisten sind verschollen, an viele erinnere ich mich mit Wehmut." So entstand eine "ruhige Bestandaufnahme", ohne jeden Anflug von Ambitioniertheit, was der Sammlung den liebenswerten und lebensechten Charme verschafft. Bei der Beschreibung der Angeklagten fällt häufig das Wort Alkohol, viele der Beschuldigten sind der Neonaziszene oder den Asylbewerbern zuzurechnen. Das ist nichts neues, jedoch aus der Sichtweise Warnstädts sind die Angeklagten niemals nur Fälle, sondern immer Einzelschicksale, über deren Beweggründe und Entwicklungen nachgedacht wird. "Der noch nicht einmal ganz 30 Jahre alte Angeklagte ist leider ein Säufer. Der Ausdruck ist gerade richtig, nicht um den Angeklagten zu kränken, sondern um ihm zu zeigen, dass keinerlei Beschönigung über seinen jammervollen Zustand angebracht ist." Mitleid hingegen verdient der Angeklagte, der beschuldigt wird, sich unerlaubt im Bundesgebiet aufgehalten zu haben (§ 8 Abs. 1 Ausländergesetz). "Der Angeklagte, jetzt 28 oder 29 Jahre alt, ist seit über zehn Jahren in Deutschland. Seit damals gelingt es der Ausländerbehörde nicht, ihn wieder loszuwerden. Woran das liegt, soll hier nicht näher ausgeführt werden. Aber es ist doch so, dass derjenige, der zehn Jahre so unfähig war, einen Zustand zu beseitigen, den Zustand im Ergebnis duldet. Jedenfalls muss man den Zustand dann als unvermeidlich hinnehmen. Recht so, denkt sich der Leser und bangt schon jetzt, ob es einen ebenso einfühlsamen Richter für die Grenzfälle der Kriminalität noch einmal geben kann, ob das Werk Warnstädts fortgeführt wird. Dieser Sammlung von Urteilen ist deutlich anzumerken, wo es hapert in unserer spätkapitalistischen Gesellschaft, an Zivilcourage, an schneller und unbürokratischer Entscheidungsgewalt, an Menschlichkeit und Achtung vor dem Individuum. Trotz aller sprachlicher Komik enthalten diese eigentlich amtlichen Texte ein großes Maß an Sozialkritik, Politikerrüge und Aufputschmittel für die Sinne. Warnstädts Urteile sollten Lesestoff für die Gesellschaftskunde an allen Schulen werden, damit ein Aufwachen beginnt, ein Lernen und Staunen. Und Freisprüche wie der folgende sollten rückwirken auf die Verhandlungsverursacher; die beiden Angeklagten sind seit 1982 miteinander verheiratet, der Mann ist Türke, die Frau Deutsche. Ihnen wird ein Verstoß gegen das Ausländergesetz zur Last gelegt, sie hätten ausgesagt, zusammenzuleben, obwohl das nicht den Tatsachen entspräche. Warnstädt: "Diesen Strafprozess hätte es nicht geben dürfen, aus verschiedenen Gründen nicht. Er ist diskriminierend. In ihm werden Menschen nur deshalb schlechter behandelt, weil sie mit einem Ausländer verheiratet oder selbst Ausländer sind. Die Ehe der beiden Angeklagten wird nämlich nur deshalb angezweifelt, weil der eine Ehegatte nicht die deutsche Staatsangehörigkeit hat. Der Prozess verstößt zugleich gegen die Menschenwürde. Die Angeklagten werden aufgefordert anzugeben, welchen Zweck ihre Ehe habe und wo sie sich kennen gelernt hätten usw. So etwas geht niemanden etwas an. Der Prozess verstößt auch gegen Geschmack und Anstand. Die Wohnung der Angeklagten ist durchsucht worden, es ist im Bett nachgesehen worden, im Haus sind Nachbarn zur Wiedergabe von Klatsch und Tratsch aufgefordert worden. Das sind keine Ermittlungen, sondern Schnüffeleien, die auch nur anzuhören schon eine Zumutung ist. Die Staatsanwaltschaft wird dringend gebeten, ihre Finger von solchen Sachen zu lassen.
Warnstädt."
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