„Heute scheinen zwei Dinge modern zu sein, die Analyse des Lebens und die Flucht aus dem Leben“, schrieb Hugo von Hofmannsthal 1893. Die Moderne als Flucht in das Leben beschreibt Meike G. Werner in ihrer Studie „Moderne in der Provinz. Kulturelle Experimente im Fin de Siècle Jena“. Die thüringische Provinzstadt Jena war durch die expandierenden Zeiss-Werke von einer klassischen Universitätsstadt zu einer modernen Industriestadt geworden, deren Einwohnerzahl sich zwischen 1890 und 1905 verdoppelte. Die Kultur der Moderne jedoch zog ein, als Eugen Diederichs 1904 seinen Verlag nach Jena verlegte, mit dem Ziel, einen „Versammlungsort moderner Geister“ zu schaffen.
Was sich im Kräftefeld zwischen Universität, Industrie und Kulturverlag an Lebensformen, Festkultur, intellektuellen Netzwerken und weltanschaulichen Deutungsmustern entwickelte, untersucht Meike Werner mit einer Methode, die sie „kulturtopographische Hermeneutik“ nennt. Rund um den Eugen Diederichs-Verlag, die Jenaer Freistudentenschaft und den Sera-Kreis, sowie am Beispiel von Leben und Werk der Schriftstellerin Helene Voigt-Diederichs entwirft Werner ein Bild Jenas als „Labor der Moderne“, das mit den Begriffen Entgrenzung und Liminalität sinnvoll analysiert wird.
Besonders gelungen ist dies im dritten Kapitel, das dem „Jungen Jena“ um Freistudentenschaft und Sera-Kreis gewidmet ist. Basierend auf umfangreichem Archivmaterial beschreibt Werner zwei Formen jugendlicher Geselligkeit, die auf den ersten Blick trotz zahlreicher personeller Überschneidungen widersprüchlich zu sein scheinen: auf der einen Seite die „fortschrittliche“ Freistudentenschaft, auf der anderen der Sera-Kreis, der mit altdeutschen Trachten, Scholarenumzügen und Sonnenwendfeiern zunächst als antimoderner Gegenentwurf erscheint. Mit dem vom Ethnologen Victor Turner entlehnten Begriff der „Liminalität“ gelingt es Werner jedoch, diesen vermeintlichen Widerspruch aufzulösen und die Geselligkeitsformen als Ausdruck einer „transformierenden Alternative“ zur bürgerlichen Festkultur zu deuten. Das dionysische Sera-Erlebnis zeichne sich durch eine dem strukturierten, differenzierten wilhelminischen Gesellschaftssystem entgegengesetzte, inszenierte Gemeinschaftserfahrung aus, das andere, aber dennoch fortschrittliche, innovative und kreative Qualitäten hervorbrachte und nicht als regressive, mystische Weltflucht abzutun sei.
Die Ambivalenz, die in dieser alternativen Moderne angelegt war, zeigt sich eindrucksvoll an den Lebensläufen, die von der Studie nachvollzogen werden. Während für das Ehepaar Diederichs, dessen Wege sich 1908 trennen, das romantische Experiment in die Nähe antisemitischer, deutschchristlicher und schließlich auch nationalsozialistischer Kreise führte, schlugen die Ehemaligen Sera-Kreis-Mitglieder Rudolf Carnap und Wilhelm Flintner oder der frühere Freistudent Karl Korsch ganz andere Richtungen ein.
Der Weg Jenas in die Moderne weist exemplarisch die Möglichkeiten auf, die durch spezifische institutionelle und personelle Konstellationen aus deutschen Provinzstädten Experimentierfelder der Moderne machten. Neben Jena können so z.B. auch Heidelberg, Darmstadt, Weimar oder Marburg als Gegenentwürfe der Metropolen Berlin und Wien gelten. Meike Werners Studie bietet jetzt eine „dichte Beschreibung“ der Kulturgeschichte Jenas und ist zugleich eine wunderbar zu lesende, materialreiche Fundgrube für alle, die sich für die Geschichte der Lebensreform- und Jugendbewegung interessieren.