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Dezember 2003
Enno Stahl
für satt.org

Merkur-Sonderheft:
Kapitalismus oder Barbarei?


Merkur-Sonderheft: Kapitalismus oder Barbarei?

(hrsg. von Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel), Heft 9/10, 57. Jahrgang, Sept./Oktober 2003, Klett-Cotta, Suttgart, 18 Euro.
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Merkur im freien Fall

Enno Stahl über das Sonderheft:
"Kapitalismus oder Barbarei?"



Schon seit geraumer Zeit driftet der "Merkur - Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken", einst renommierter Vermittler zwischen wissenschaftlichem und journalistischem Diskurs, unaufhaltsam nach rechts. Spätestens seit dem 11. September 2001 scheint es zum zentralen Anliegen der Herausgeber Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel geworden zu sein, zu erweisen, wie perfide der Araber und seine Religion als solche seien. Neben solchen rassistischen Ausfällen ist es auch mit der ökonomisch-kulturellen Deutungsmacht der Zeitschrift nicht mehr weit her: in blindem Furor richtet man sich gegen die weinerlichen, politisch-korrekten Alt-68er, die allein an allem schuld seien. Die tatsächlichen Gründe für die bedauernswerte Stagnation in unserem Lande, nämlich den lastenden Druck der Lobbyisten und Interessensgruppen, die jede mögliche Veränderung bereits im Keim ersticken, ignoriert man geflissentlich. Dafür erfährt der "Merkur"-Leser, ob er will oder nicht, allerlei vom Denken und Fühlen amerikanischer Neo-Konservativer, jenen Cheneys, Rumsfelds und Fleischers, deren Position sich anscheinend auch der "Merkur" mehr und mehr zu eigen macht.

Den neuen Höhepunkt in dieser Entwicklung stellt der aktuelle Sonderband "Kapitalismus oder Barbarei?" dar, wohlverstanden als Alternative: die Herausgeber propagieren nämlich, dass nur dort, wo Kapitalismus herrsche, freiheitliche und demokratische Strukturen überhaupt möglich seien. Die NGOs, ATTAC, die (wie Bohrer/Scheel es nennen) "lunatische Linke", sie seien die wahren Reaktionäre, die nicht erkennen, dass die Freiheit des Marktes auch die politische Freiheit garantiere. Bohrer/Scheel echauffieren sich darüber, dass die Globalisierungskritiker "Lieblinge der Medien" seien, dass die öffentliche Meinung also allen "guten" Argumenten zum Trotz kapitalismusfeindlich sei, und konstruieren daraus eine Art linker Weltverschwörung. Das, obwohl im aktuellen Heft zahlreiche Redakteure und Ressortleiter von FAZ, Frankfurter Rundschau und Zeit Beiträge geliefert haben, man fragt sich, welche verhetzte Presse es denn nun sei, die ATTAC in den Himmel hebt und den "Merkur" mit Nichtachtung straft.

Die Essays selbst, speziell jene der regelmäßigen "Merkur"-Mitarbeiter, gehorchen diesem gleichen Hirngespinst, erregte Geisteswissenschaftler berauschen sich an der Blasphemie ihres "Ja" zur deregulierten Marktwirtschaft, Jörg Lau etwa versucht den konkreten Kern des Entfremdungsbegriffs zu eliminieren, ihn als bloße Fiktion hinzustellen, um das illusionistische Simulationstheater einer fröhlich-konsumierenden, arbeitsteilig gleichgestellten Einheitsgesellschaft zu skizzieren, ein besonders perfider Versuch, die real waltenden dissoziativen Tendenzen einer zunehmend abstrakten Arbeitswelt zu liquidieren. Dass ein Zeit-Redakteur sie nicht wahrnimmt, mag ja sein; diese Erfahrung dürften Aldi-Kassierer, Putzkräfte auf Honorarbasis oder polnische Leiharbeiter ihm voraus haben. Auch Mariam Lau hängt der These einer all-linken Konspiration an, trotz einiger sicherlich richtiger Ansatzpunkte der Kritik, indem sie zum Beispiel recht schlüssig die Abspaltung der Linken von den wirklichen Bedürfnissen der Weltbevölkerung aufzeigt, führt sie dies zu verstiegenen Übertreibungen, wie etwa der, die Kritische Theorie eines Anti-Liberalismus von rechts zu zeihen. Michael Rutschky sieht in einem überaus selbstgefälligen Text die Linke generell in der Situation des Bittstellers, der bar eines bürgerlichen Selbstbewusstseins – metaphorisch gesehen - beim "Paten" (der Regierung, der WTO o.ä.) unverdiente Gaben einfordere.

Es ist ein exorzistischer Eifer, der diese Beiträge diktiert; er fehlt in jenen Texten, die von Wirtschaftsexperten verfasst sind, etwa Thomas R. Fischer oder Rainer Hank: hier werden nachvollziehbar einige Aporien der Globalisierungskritik aufgezählt, jedoch gewinnt man den Eindruck, dass die Ökonomen in einem politik- und geschichtsfreien Raum operieren, sie fordern Regeln für das wirtschaftliche Handeln, eine Art Ordoliberalismus, der allerdings angesichts transnationaler Monopole, vielfältig verflochtener Interessensgruppen, Korruption und Klüngel schwer zu realisieren sein dürfte. Auch sehen sie ab von mangelnder Chancengleichheit in der Bildung, hierzulande ebenso wie im Ländervergleich. In der sicher logisch aufgebauten Argumentation Hanks steckt eine abstrakte Brutalität, wenn er dafür einsteht, dass Ungleichheit als Globalisierungsergebnis letztlich gerecht sei, weil sie die "ehemals egalisierende Ungerechtigkeit" beende: die Schrottklopfer auf dem Markt in Nairobi werden sich freuen, das zu hören. Da Leistung sich lohnen soll, haben die herrschenden Kasten, die sich großzügig an der Entwicklungshilfe bereichert haben, ihren sozialen Status nunmehr auch verdient. Dass ausgerechnet Edzard Reuter sich nicht dem hemmungslosen Markt-Optimismus vieler Mitarbeiter des Sonderbandes anschließen mag, sondern einen warnenden Essay beigesteuert hat, in dem er vehement dafür plädiert, die Globalisierungsängste der Menschen ernst zu nehmen, sollte zu denken geben.

Auf die Ökonomie-Kritik folgt eine Reihe von Texten, die das Themenfeld "Kultur und Kapitalismus" einkreisen sollen: darunter ein ausgewogener Beitrag Michael Diers‘, der Ware und Warenform in der zeitgenössischen Kunst untersucht. Guido Graf bemüht sich, die kapitalismuskritische Belletristik der letzten zwei Jahrhunderte in eigentlich kapitalismusaffirmierende Literatur umzudeuten. Er legt damit ebenso einen voraus eilenden Gehorsam gegenüber den "Merkur"-Herausgebern an den Tag, wie Bodo Mrozek, der den Leser auf eine Reise nach Banalien mit nimmt, nämlich in das arbiträre Labyrinth des Netzes, wo er über den Kryptomarxismus per Zufallsgenerator ausgeworfener Websites lamentiert.

Eine wirklich originelle Perspektive bietet hingegen der Germanist und Medien-Analytiker Jochen Hörisch, der die gängigen Wirtschaftswahrheiten einmal vom Kopf auf die Füße stellt und die ironische Frage aufwirft, ob Adam Smith‘s "invisible hand" der Marktregulation vielleicht deshalb unsichtbar heißt, weil es sie gar nicht gibt. Ebenso Norbert Bolz, der – im Bezug auf sein "konsumistisches Manifest" – ziemlich nüchtern analysiert, wie es sich heute nun mal verhält in der bunten Welt der Waren und des Konsums. Bezeichnend, dass sein Text im Seitentitel versehentlich mit "Lob der Konsumbürgerlichkeit" etikettiert ist, während der Aufsatz tatsächlich neutral "Über Konsumismus" heißt. Das verrät die inhärente Absicht der Herausgeber: der Sammelband soll eigentlich ein kompromissloses Hohelied auf Markt und Konsumwirtschaft singen, zum Glück ist das Gros der Intellektuellen nicht so gleichgeschaltet, dass sie darin einstimmen. Der Merkur-Redaktion sei empfohlen, bei aller Verachtung gegenüber der inkriminierten Linksorthodoxie irgendwelcher "Charlottenburger Privatdozenten" (Rutschky) einmal über ihre rechte Schulter zu schauen und zu prüfen, ob dort überhaupt noch Platz ist.