Kursbuch 154
Die Dreißigjährigen
Das "Kursbuch" war mal der "New Yorker" der Bonner Bundesrepublik. Heute noch wird es als Pflichtblatt an allen linksintellektuellen Kulturstammtischen geführt, auch wenn es mit den Jahren - und mit seinen Lesern - zusehends arrivierter, bürgerlicher und sanfter geworden ist. Die 154. Ausgabe vom Dezember 2003 widmet sich dem Titel-Thema der "30jährigen".
Fangen wir mit den Lichtblicken an: Stefanie Flamm berichtet über ihre Kündigung als Mitarbeiterin der "Berliner Seiten" der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und gibt uns einen Einblick in das Seelenleben und Selbstverständnis jener jungen Halbwilden, die das holzgetäfelte Feuilleton der ehrwürdigen FAZ nur allzu kurz als Spielplatz nutzen durften. Ein bei aller vordergründigen Bitterkeit amüsanter Bericht über die Alten des Jahres 2050 von Anna Katharina Hahn beschließt den Band. Dazwischen liegt ein gescheiter Artikel über Tom Ripley, ein amüsanter Erfahrungsbericht eines jungen Vaters und eine charmante Geschichte über ein Klassentreffen.
Keine Fotostrecke diesmal. Und sonst: Beliebigkeit. Da berichtet Kerstin Grether Buhr von ihren Erlebnissen im Beinahe-Journalismus der Popkultur, nostalgisches Namedropping. René Aguigah referiert den Stammbaum der Philosophen der Postmoderne, Hilal Szegin erzählt ihre Version der E-Mail-Bekanntschaften à la "Schlaflos in Seattle", und Stephan Schlak schließlich sucht krampfhaft nach historischen Parallelen für Dreißigjährige und wird bei den Nazis fündig, deren zweite Führungsreihe durch die Bank aus der Generation der zwischen 1900 und 1910 geborenen besteht. Was für ein Fund!
Es hat schon etwas von Dreistigkeit, wie sich hier eine Kohorte von Publizisten eines Alters selbst zur Generation stilisiert. Eine "Generation", die kein gemeinsames prägendes Erlebnis gemein hat, außer dem Waren- und Kulturkonsum ihrer Kindheit. Wer mit Nutella und Wickie aufgewachsen ist, gehört dazu. Für die Friedensbewegung waren sie zu alt, und die Umwälzungen von 1989 konnten Sie auch nur passiv beobachten. Sie haben keine verlorene Jugend, wie sie die "Lost Generation" des ersten Weltkriegs beklagte, sie sind keine Antihelden eines verlorenen Kriegs, wie die Flakhelfer. Nicht einmal eine kläglich gescheiterte Revolte wie die Achtundsechziger können sie sich auf ihre Designerfahnen schreiben.
Das rächt sich. Denn im vorliegenden Kursbuch zeigt sich deutlich, dass uns die "30jährigen" nichts zu sagen haben. Das aber tun sie in wohlgesetzten Worten. Die Nabelschau, der Blick aufs eigene Ego, die selbstverliebte Auto-Analyse haben sie perfektioniert, schreiben können sie allemal. Und - wie schon Oliver Fuchs in der Süddeutschen Zeitung erkannt hat - nichts ist ihnen so wichtig wie sie selbst.
Es bleibt ein fader Geschmack, wenn man den Band durchgelesen hat. Heinrich Böll hat einmal über die Bildzeitungs-Kommentare von Peter Boenisch geschrieben, sie seien wie Brausepulver, das anfangs brizzelt und schäumt, aber am Ende doch nur künstlich und pappig schmeckt. Ein wenig geht es einem so bei den Artikeln der Thirtysomethings: alles ist flott und pfiffig geschrieben, aber nichts von den Inhalten bleibt haften, nichts drängt sich auf. Für die Rezension muss man die Artikel einzeln nachschlagen: Was war das nochmal, das hinter diesem Titel steckte? Ach ja. Ach so. Nun gut. Es ist so luftig, dass es in Milch schwimmt. Keine Begeisterung, kein Widerspruch, Mittelmaß. Nicht einmal richtig ärgern kann man sich.
Für wirklichen Unmut sorgt lediglich der Verlag Rowohlt Berlin, der es anscheinend nicht für nötig hält, die eingegangenen Artikel vor dem Druck nochmal durchlesen zu lassen. Wie sonst könnte man von "Email" lesen, wo doch elektronische Kommunikation und keine Pfannenbeschichtung gemeint ist? Wie hätte sich das unsägliche "Millenium" einschleichen können? Und wie bliebe sonst die peinliche Verwechslung des Rockmusikers Rio Reiser mit seinem französischen Namensvetter Jean Marc stehen, der Comic-Künstler war? Tot sind sie beide, immerhin.
Ein laues Kursbuch also. Die Kulturstammtische werden sich ein anderes Thema suchen müssen, wenn sie sich echauffieren wollen.