Siegfried Lokatis:
Der rote Faden
Kommunistische Parteigeschichte
und Zensur unter Walter Ulbricht
In einer "durchherrschten Gesellschaft" wie in der DDR hatte die Geschichtswissenschaft eine wichtige Funktion als Legitimitätsgarant. Mit ihrer Hilfe wurde nicht einfach eine Deutungshoheit über die Vergangenheit etabliert, sondern es wurden "Lehren aus der Geschichte" gezogen, aus denen man Werte für die Gegenwart und Zukunft ableitete. Parteigeschichtliche Texten berührten den "ideologischen Kernbereich" der SED und waren als solche Teil eines "sozialistischen Metanarrativs" (Martin Sabrow). Bestimmten Standardwerken der DDR-Geschichtswissenschaft wurde dabei die Rolle eines Leittextes zugewiesen, der einen verbindlichen Geltungsanspruch besaß.
In Siegfried Lokatis Studie über kommunistische Parteigeschichte und Zensur steht die Entstehung eines solchen Werks im Mittelpunkt – die "Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung". Diese "Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung" (GdA) in acht Bänden wurde mit einem für die Geschichtsschreibung in der DDR singulären Aufwand publiziert: Über zweihundert Historiker waren an ihrer Erstellung beteiligt. Die ca. 1200 Tonnen holzfreies Papier, die für die gebundene Ausgabe benötigt wurden, entsprachen etwa "dem jährlichen Kontingent aller acht Kunst- und Musikverlage der DDR".
Obwohl der Untertitel eine Darstellung der Parteigeschichte und Zensur unter Walter Ulbricht verspricht, setzt das Buch erst mit dem Jahr 1956 ein. Die Wahl dieses Zeitpunktes überzeugt, denn der Autor stellt die Entstehung des Leittextes als einen Versuch dar, die durch die Entstalinisierung hervorgerufene Orientierungskrise mit Hilfe einer eigenen ideologischen Fundierung zu überwinden. Folglich setzt die Untersuchung mit dem Jahr ein, als Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU die Abkehr vom Stalinismus proklamierte. Im Zuge dieser politischen Wende wurde auch in der DDR die "Geschichte der KPdSU (B). Kurzer Lehrgang", die bisher Maßstab der Parteigeschichtsschreibung gewesen war, entwertet.
Die ersten fünf Kapitel des "Roten Fadens" befassen sich daher mit dem Bemühen der SED und den parteigeschichtlichen Institutionen, die "Geschichte der KPdSU (B). Kurzer Lehrgang" durch einen neuen, eigenen Leittext zu ersetzen und damit den Führungsanspruch der SED zu untermauern. Gestützt auf sorgfältig ausgewertetes Quellenmaterial gelingt es Lokatis die vielschichtigen Diskurse nachzuzeichnen, die im Umfeld der Genese der GdA geführt wurden. Dabei wird deutlich, dass die Entwicklung der Parteigeschichtsschreibung keineswegs immer gerade und zielgerichtet verlief. Neben der Darstellung der Diskurse steht immer auch die Durchsetzung des Geltungsanspruches mit Hilfe der Zensur im Mittelpunkt der Studie. Die vielen, teils sehr unterhaltsamen Beispiele veranschaulichen dem Leser diesen Prozess. Allerdings birgt diese Beispielfreudigkeit an manchen Stellen die Gefahr, dass die Studie zu sehr ausufert.
Ausgehend von der Orientierungskrise von 1956 macht Siegfried Lokatis eine Genealogie der parteihistorischen Leittexte auf, die ihren Ausgangspunkt bei den Thesen zum 40. Jahrestag der Novemberrevolution hat. Diese wurden abgelöst vom "Grundriß der Geschichte der Arbeiterbewegung" von 1962, der bis zum Erscheinen des "Achtbänders" Verbindlichkeit besaß. Die beiden letztgenannten Werke dienten der Etablierung des neuen "Roten Fadens" der Parteigeschichtsschreibung – der "nationalen Grundkonzeption". Diese prägte laut Lokatis das Geschichtsbild der DDR nachhaltig bis in die Ära Honecker. An dieser Stelle wird der Wunsch des Lesers nach einer tiefergehenden Analyse leider nicht erfüllt. Während die historische Entwicklung und die Diskurse, die zu dem "Achtbänder" geführt haben, von Lokatis sehr ausführlich dargestellt werden, ist die Wirkungsgeschichte dieses Werkes im Vergleich dazu recht kurz ausgefallen. Dies ist für den Leser unbefriedigend. Hier wäre ein etwas ausführlicher Ausblick in die Parteigeschichtsschreibung unter Honecker wünschenswert gewesen, als dies im letzten Kapitel "Acht Bände (1966-1971)" der Fall ist. Zwar wird von Lokatis betont, dass "die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung" und vor allem die in ihr ausgearbeitete Nationale Grundkonzeption "heimlich weitgehend und dauerhaft in Geltung" geblieben sei. Doch diese These bleibt bis auf ein paar kurz angerissene Beispiele im Raum stehen.
Die "Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung" war, wie Lokatis sich ausdrückt, "Urmeter" der Zensur und "Heilige Schrift" der Partei. Die Bezeichnung der GdA als "Heilige Schrift" ist lediglich ironisch gemeint. Um die Entstehung des "Geschichtswerks" zu charakterisieren, macht Lokatis immer wieder Anleihen aus dem religiösen oder kirchengeschichtlichen Sprachgebrauch. Diese sollen zwar, so betont der Autor, "cum grano salis" genommen werden, seien aber lediglich ironisch gemeint. Eine solche Verwendung religiöser Ausdrücke bei gleichzeitiger Ablehnung ihrer vollen Implikation wirkt trotz des Ironiehinweises unentschlossen. Sicherlich hätte die Verwendung von religionssoziologischen Instrumentarien die vorgelegte Studie analytisch bereichern können.
Trotz dieser Einschränkungen ist das Buch ein wichtiger Beitrag zur Untersuchung der Geschichtskultur und Geschichtspolitik in der DDR. Es liegt mit diesem Band eine informative und auf einen sehr reichhaltigen Fundus an Quellen gestützte Studie vor, die dem interessierten Leser ein Knäuel der Ariadne in die Hand gibt, mit dessen Hilfe er sich – wenn auch nicht immer auf kürzestem Wege – durch das parteigeschichtliche Diskurslabyrinth bewegen kann.