Betrachtet man die in die zahlreichen Reformbewegungen zwischen Jahrhundertwende und Beginn des Nationalsozialismus einzuordnende Körperkulturbewegung, so fällt zuerst ihre Heterogenität und Zersplitterung, kurz: ihre Unübersichtlichkeit, auf. Was hatten "das im Jahre 1900 von Lebensreformern gegründete Körperkultursanatorium auf dem Monte Verità in Ascona, die 1901 eröffnete ‘Trainierschule für Körperkultur’ des Kraftsportlers und Buddhisten Theodor Siebert, die 1908 ins Leben gerufene völkische Freikörperkultur-Loge für Aufsteigendes Leben oder die 1919 gegründete und noch bestehende Frauengymnastiksiedlung Schwarzerden in der Rhön eigentlich miteinander gemeinsam?" Was verband die Bewegungschöre und Tanzschulen mit der Yoga-Volkshochschule und der Kraft-Kunst-Schule, was die völkische Runengymnastikschule mit den kommerziellen Bodybuilding- und Fitneßschulen?
Diese Fragen stellt sich der Sportwissenschaftler und Volkskundler Bernd Wedemeyer-Kolwe, und versucht in seiner Göttinger Habilitationsschrift, die verschiedenen Erscheinungsformen der Körperkulturbewegung als zusammenhängendes kulturhistorisches Phänomen zu deuten. Anders als die auf Wettbewerb und Höchstleistungen orientierte Sportbewegung und anders als die frisch-fromm-fröhlich-freien Turner wollte die vereinsferne und individualistische Körperkulturbewegung ein umfassendes Konzept zur Erneuerung des ganzen Menschen bieten. Daher bettet die Untersuchung die Körperpraxis in die komplexen Reformzusammenhänge und die religiösen oder philosophischen Hintergründe der verschiedenen Schulen und Personen ein.
Zwei Hauptfragen will der Autor beantworten: was war das verbindende Element der heterogenen Körperkulturbewegung? Und zweitens: war die Körperkulturbewegung eine gegen die Moderne gerichtete Protestbewegung oder ein Medium zur Verbürgerlichung der aufsteigenden neuen gesellschaftlichen Schichten? Daher fragt Wedemeyer-Kolwe nicht nur nach Organisation, Übungspraxis und den kulturellen Leitideen, sondern auch nach der sozialen Trägerschicht und der gesellschaftlichen Funktion der Körperkulturbewegung. Methodisch orientiert er sich dabei an der neueren Kulturgeschichte, was sich insbesondere daran zeigt, daß er den Quellen den Primat zuspricht und nicht von einer vorgeschalteten These ausgeht.
Angelegt als Kombination aus Religions-, Utopie- und Sportgeschichte gliedert sich die Arbeit in vier Kapitel zu den Schlagworten "Rhythmus", "Reinkarnation", "Licht und Luft" sowie "Kraft und Schönheit", in denen die Quellen jeweils in drei Analysestufen untersucht werden – kulturelle Leitbilder, soziale Praktiken und individuelle Wahrnehmung der beteiligten Personen. Die wahre Quellenflut, die Wedemeyer-Kolwe vor dem Leser ausbreitet, macht es diesem nicht immer leicht, den Faden in der Hand zu behalten. Die Zusammenfassungen am Ende der jeweiligen Kapitel und am Schluß des Bandes sowie das ausführliche Register erlauben es aber, die Studie auch als handbuchähnliches Kompendium zu nutzen. Darüber hinaus sind die zahlreichen Hinweise auf Personen, Bünde und Schulen ebenso wie die fast hundertseitige Bibliographie überaus wertvoll für zukünftige Forschungen zu den Reformbewegungen.
In den Abschnitten zur Rhythmischen Gymnastik und zur Freikörperkultur gelingt es dem Autor ausgezeichnet, die Organisationen und Bünde, die Leitfiguren und ihre Ideologien mit den unterschiedlichen körper- und übungspraktischen Formen zu verbinden. Im Kapitel zur Rhythmischen Gymnastik wird auch das soziale Profil der meist weiblichen Lehrer und Gymnasten deutlich: die Gymnastik fand vor allem Anklang bei den aufsteigenden Mittelschichten, und hier besonders bei den Angestellten. Über die Lehrerausbildung strahlte die Gymnastik auf den sozialen Bereich aus. Bei der Darstellung der Asienrezeption etwa der Yoga-, Neugeist- und Mazdaznan-Lehre bleiben die Trägerschichten dagegen weitgehend im Dunkeln. Dies liegt wohl nicht nur an der ungünstigen Quellenlage, sondern auch an der viel geringeren Ausstrahlungskraft von skurrilen Sonderformen wie der Runengymnastik, auch wenn der Autor die Randstellung der unter dem Schlagwort "Reinkarnation" versammelten Körperpraktiken verneint. Leider bleibt deshalb unklar, wie viele der zahlreichen Anhänger dieser Lehren tatsächlich den mit der Zeit zunehmend rassistischer und totalitärer werdenden Ideologien ihrer "Meister" folgten oder lediglich an optimierten Atemtechniken interessiert waren.
Insgesamt leistet die Darstellung den überzeugenden Nachweis, wie eng die Körperkulturbewegung mit den Vorstellungen und Utopien des "Neuen Menschen" zusammenhingen. Diese utopischen Elemente innerhalb der Bewegung waren ausschlaggebend für die Anfälligkeit für völkische, rassistische und totalitäre Ideologien und die Anschlußfähigkeit für den Nationalsozialismus. Darüber hinaus leistet die Studie mit dem Ausblick auf die Weiterentwicklung der Bewegung während des Nationalsozialismus den Nachweis, daß für das Weiterbestehen bestimmter Institutionen der Körperkultur weniger die ideologische Nähe zum Nationalsozialismus als bestimmte lockere Organisationsformen ausschlaggebend waren.
Die Studie bietet erstmals einen zusammenhängenden Überblick über die Organisationsstrukturen und die Körperpraktiken, sowie die gesellschaftlichen Zukunftsmodelle und Körperentwürfe der Körperkulturbewegung in Kaiserreich und Weimarer Republik, als deren typisches Charakteristikum Wedemeyer-Kolwe den Versuch herausstellt, "mit einfachen Lösungen ‘die Welt von einem Punkte aus zu kurieren’ und so die komplexen Probleme der Menschen in der Industriegesellschaft mittels einer Körpertechnik zu lösen." Diese einfachen Lösungen waren für viele Menschen in Kaiserreich und Weimarer Republik attraktiv und führten zu der weiten Verbreitung der unterschiedlichsten Formen von Körperkultur.