Ich habe alles über dieses Mahnmal gelesen. Was es sein soll, was es nicht sein soll; wie es Peter Eisenman und wie es Lea Rosh verstanden wissen wollen; was man dort tun darf, was man nicht tun darf und was man tun soll; wie was zu interpretieren ist; ob man dort auch denken kann oder ob man nur fühlen darf, und vor allem: ob es reicht. Ob dieses Feld voll grauer Klötze das aussagt, was es aussagen soll.
Ich konnte mit diesen Interpretationen viel anfangen. Ich fand die Idee des Mahnmals gut. Am 8. Mai, als am Brandenburger Tor der "Tag für Demokratie" gefeiert wurde, ging ich schon mal die Wilhelmstraße runter und schlich um den Bauzaun herum, der das Mahnmal noch umspannte. Viel sah ich nicht, aber was ich sah, fand ich spannend. Ich nahm mir vor, so bald wie möglich, d.h. so bald das Ding für die Bevölkerung geöffnet war, hindurchzulaufen.
Nein, zu den Allerersten habe ich nicht gehört, hatte an Pfingsten keine Zeit. Ich las noch die Erlebnisberichte in der Berliner Zeitung von den Allerersten, die drin waren.
Und ein Schrei der Entrüstung ging durch die Presse: was machen die Jugendlichen da?! Sie hopsen von Stele zu Stele! Sie spielen Fangen! Sie rasen kreischend um die Blöcke! – Das waren anscheinend Dinge, die kein Mahnmal-Interpret vorher bedacht hatte. An Graffiti hatte man gedacht, daran, daß sich Leute wohl auf die Klötze setzen und eventuell – huch! - dort picknicken würden. Und nun das -! Wie sollte man damit umgehen?
Gestern nun war ich drin. Und was soll ich sagen? Es war klasse. Es war kathartisch. Aber auf eine völlig andere Weise, als ich erwartet hatte. Es kommt einem nämlich, wenn man dort zwischen den hoch aufragenden Säulen steht, noch viel mehr in den Sinn als nur beklommene Betroffenheit. Ich hatte gedacht, der Platz zwischen den Stelen sei viel enger und es sei innendrin viel dusterer. Aber es bleibt hell, überall, zumindest tagsüber. Ich lief einmal durch und dann noch einmal. Wenn man in den Stelen steht und, egal wohin man blickt, nur stumme, schwere, graue Säulengänge sieht – da wird einem schon mulmig zumute, da denkt man, wenn nicht an Auschwitz, so doch daran, als man als kleiner Steppke in der Schule von Mitschülern durch die Flure gejagt wurde und nur verzweifelt den Ausgang gesucht hatte. Das ist es, was Eisenman gefühlt haben will und was auch funktioniert.
Aber dann setzt das Denken ein. Das Denken in diesem, wie kritisiert worden war, nicht Denk-, sondern Fühl-Mal. Mir war vorher schon klar gewesen, daß dieses Stelenfeld nicht nur zum Fühlen war, sondern eben dadurch, daß es keine Denk-Wege vorschreibt, zum progressiven, aktiven Selbst-Ge-Denken anregt. Nur wie: das war mir zuvor nicht ganz klar gewesen, das fand ich erst im Mahnmal selbst heraus. Die Erkenntnis überfiel mich blitzartig, kathartisch, und ich grinste.
Jawohl: die Kinder machen es richtig! Laßt die Kinder zwischen den Stelen herumrennen und -hopsen, laßt sie Fangen und Verstecken spielen! Laßt die Omas sowie die Punks, mit oder ohne Hunde, durchziehen! Laßt, wenn nicht Graffitis, so doch Kreidebotschaften und Stelenritzen zu – das Feld kann schön als Ort für Rendezvous benutzt werden, man kann Kreuzchen an die Stelen malen, sich dort treffen, anschließend Botschaften einritzen. Laßt die Leute auf den Klötzen picknicken, ausruhen, entspannen, sich sonnen! Kurz: laßt die Leute in und mit diesem schönen Säulenfeld LEBEN!
Denn das Holocaust-Mahnmal ist kein Museum. Es steht da, open-air, vierundzwanzig Stunden begehbar, für jung und alt, arm und reich, schäbig und elitär. Es soll für alle da sein, jederzeit – also weg mit dem Konjunktiv: es IST für alle da! Es ist ein öffentlicher Teil der Stadt, also geht rein, Leute, und laßt es als Teil der Stadt leben! Heilig ist es nicht; was heilig ist, lebt nicht; was heilig ist, macht statisch.
Und: das Holocaust-Mahnmal ist auch kein Friedhof. Wenn die Stelen Grabsteine sein sollten, wäre es verständlich, daß das Hopsen von Stele zu Stele verboten wird. Aber Grabsteine sind die Stelen eben nicht, auch nicht symbolisch. Sondern sie sollen in ihrer zunehmenden Höhe die zunehmende Bedrohlichkeit des Nazi-Regimes für den Einzelnen darstellen.
Haben wir in diesem Fall den Ernst des Mahnmals nicht gerade dann richtig begriffen, wenn wir uns von den Stelen nicht paralysieren lassen? Ist es nicht ein wesentliches Charaktermerkmal der Deutschen, daß sie äußerst autoritätshörig sind? War nicht das eins der Grundprobleme 1933ff? Sollten wir nicht eben ein bißchen mehr an unserer eigenen Grütze feilen, sollten wir nicht ein bißchen mehr selbst denken lernen, statt alles nur zu tun, weil es "halt so ist" bzw. von irgendwelchen selbsternannten Führern hat verordnet wird?
Wir können das. Wir sind fähig zum Selbstdenken und zum Selbsthandeln. Wir sind fähig zur Zivilcourage! Das hab ich am 8. Mai gesehen, als sich Berlin nicht von der NPD-Demo paralysieren ließ, sondern den Herren Reaktionären spontan entgegentrat und somit den Nazis auf die Stiefel spuckte. Symbolisch, aktiv, konkret. Denn bekanntlich kann nur jemand zum Führer werden, der von unten dazu gemacht wird. Wer potentielle Führer-Männchen gar nicht erst ernstnimmt, sondern auslacht und ihnen so ihre Eindimensionalität aufzeigt, amüsiert sich nicht nur, sondern rettet seine Freiheit!
Es ist so einfach, und es ist so offensichtlich. Nehmt den Ernst der Stelen nicht zu ernst, dann habt ihr den Ernst der Lage begriffen. Fühlt die beklemmenden Reflexe, die hochkommen, wenn ihr das erste Mal durch die Säulen wandert – aber unterdrückt dann nicht die aufkeimenden Impulse des aktiven Geistes! Macht es wie die Kinder: tanzt den Stelen auf der Nase herum, sprich den Obermackern, denen, die uns runterdefinieren wollen! Man hat sich einmal paralysieren und verrückt machen lassen von dunklen, bösen Mächten – und man läuft nun durch den Stelenwald und denkt grimmig-trotzig-selbstbewußt und voll intelligenter Negation: NIE WIEDER! Und springt auf die Stele und köpft sein Bier. Wir räumen den Stelen, die die Naziherrschaft symbolisieren, nicht zuviel Raum ein. Wer da kommt und uns vorschreiben will, was wir hier zu fühlen und zu denken haben, der hat überhaupt nicht verstanden, wie viel "Gedenken" mit Eigen-Denken zu tun hat, mit Eigen-Sinn, Eigen-Verantwortung.
Indem wir das Mahnmal aktiv mit Leben erfüllen, integrieren wir es in das Leben dieser Stadt und machen dadurch klar, worauf es im Grunde bei jedem Gedenken ankommt: AUF DEN LEBENDIGEN MENSCHEN DER JETZTZEIT. Man will ja, daß heute, hier, uns nicht dasselbe passiert wie denen damals, man will, daß man lebt – gut, leben wir!
Ein Denkmal funktioniert erst, wenn es integriert wird und jenseits aller A-Priori-Thesen von den Menschen angenommen wird. Auch auf anderen Denkmälern klettert man herum, setzt sich drauf, schläft drin. Wenn wir das im Holocaust-Mahnmal auch machen, haben wir den Fingerzeig der Geschichte, den nicht mal Eisenman und Rosh gesehen haben, verstanden. Dann haben wir unserer schicksalhaften Autoritätsfixiertheit ein Schnippchen geschlagen.
Ich freu mich schon auf meinen nächsten Besuch in diesem famosen Denk-Anstoß-Feld. Durch Konformität (der Stelen) erwacht des Einzelnen Nonkonformismus. Wunderbar! Hier können sogar die verdümpeltsten Spießer Eigendenke lernen … wenn wir Glück haben … na hey, warum denn nicht?