Bei manchen Suchanfragen liefert Google zwei ‚erste
Treffer’. Wenn man mein kampf eintippt, zum Beispiel. Rechts,
in der Anzeigen-Rubrik, steht dann Mein kampf bei Amazon.
Links, an der Spitze der eigentlichen Trefferliste,
führt ein Link
auf die Seiten des Deutschen Historischen Museums. Bei Amazon werden angeblich Die besten Treffer für diese
Suchanfrage angezeigt:
Ein Hörspiel von George Tabori und Stefan Schäfer, ein Hitlers ‚Mein
Kampf’ von Barbara Zehnpfennig sowie Adolf Hitlers mein
Kampf. Eine kommentierte Auswahl von Christian Zentner, in Fraktur
und schwarz-weiß-rotem Einband. Außerdem findet man dort
Kundenrezensionen von karstenjung, michaelfengler,
joybringer und anderen. Gut ist übrigens auch die Rubrik Kunden,
die dieses Buch gekauft haben, haben auch dieses Buch
gekauft. Das Deutsche
Historische Museum bietet
unter Adolf
Hitler: Mein Kampf einen Artikel aus Kindlers
Neuem Literaturlexikon, der mit Hyperlinks auf andere
Seiten des DHM versehen ist, die sich eingehender mit Adolf
Hitler, NS-Regime, Erster Weltkrieg, Revolution
1918/19, Nürnberger Gesetze, Volksgemeinschaft, deutsch-sowjetischer
Nichtangriffspakt, Machtübernahme und Außenpolitik beschäftigen,
und die dann ihrerseits weiterführende Links enthalten. Der Eintrag Antisemitismus beispielsweise
steht unter Nürnberger Gesetze. Den Eintrag NS-Völkermord habe
ich auf die schnelle nicht gefunden. Auf http://www.dh-museum.com/lemo/html/wk2/holocaust kam
ich erst, nachdem ich Google nach dhm holocaust hatte suchen lassen.
Das ist natürlich bedenklich. Aber hier geht es ja darum, dass in
dem Buch, das hier auf dem Tisch liegt, unter Mein Kampf nur Faschismus,
Nationalsozialismus steht. Die eine oder andere wird jetzt sagen „Na
ja, wenigstens Faschismus!“, aber darum geht es ja auch nicht.
Die Frage, die ich mir stelle ist: Wenn ich mich für deutsche Geschichte
im 20. Jahrhundert interessiere, was soll ich mit einem
Taschenbuchlexikon mit 450 Seiten? Ich meine, Taschenlexika
und DSL-Flat, macht da nicht die eine die anderen irgendwie überflüssig?
Es kommt natürlich auch darauf an, wonach man sucht, klar. Lässt
man Google beispielsweise nach die grünen suchen, führt
erst der 18. Treffer zum DHM, der 41. zu Wikipedia.
Vorher gibt’s nur Fraktionen, Landesverbände, die Homepage
von Volker Beck usw., aber auch gruene.at. gruene.ch,
gruenewoche- und gartentechnik.de. Das Lexikon dagegen bietet unter Bündnis
90/Die Grünen zwei Literaturangaben darunter Joachim
Raschkes tausendseitiger Wälzer Die Grünen. Wie sie wurden
was sie sind von 1993 und von PD Dr. Thomas Mergel aus Bochum
eine Seite Text, auf der Dinge angesprochen werden, von denen im Gros
der Google-Treffer nicht die Rede sein dürfte, zumindest nicht
in dieser Form. Hinzu kommen Querverweise, zur Außerparlamentarischen
Opposition etwa, oder zur Freien Demokratischen Partei. Andererseits
ist es tatsächlich so, dass mich Google bei fünf weiteren,
aus dem vorliegenden Lexikon zufällig herausgepickten Einträgen
(Sozialstaat, Urbanisierung, Deutsche Demokratische
Partei, Republikschutzgesetz und Demokratischer Zentralismus)
in vier Fällen mehr oder minder direkt zu relativ umfangreichen
und wie ich finde informativen DHM- und/oder Wikipedia-Einträgen
schickt. Das Republikschutzgesetz ist unter dokumentarchiv.de,
dem zweiten Treffer nach Wikipedia, sogar in Gänze einsehbar. Allein
das Stichwort Demokratischer
Zentralismus bereitet etwas Schwierigkeiten, sofern man sich nicht
bei der MLPD informieren möchte. Sehr google-tauglich sind dagegen
die Begriffe Koreakrieg, Zwei-plus-Vier und Einigungsvertrag,
die Rolf Steininger in seiner Besprechung vermisste [1].
Es ist natürlich
leicht, vielleicht sogar ungerecht, Steiningers Vermisstenliste,
die ich hier nur unvollständig wiedergegeben habe, weitere Stichwörter
hinzuzufügen. So enthält der Band zwar die Einträge Achtundsechziger
Bewegung, K-Gruppen, Extremistenbeschluss, Rote
Armee Fraktion und Innere Sicherheit. Eine kritische Würdigung
des für die westdeutsche Geschichte so zentralen Begriffs der Freiheitlichen
demokratischen Grundordnung sucht man jedoch vergebens. Und wenn
das Lexikon schon Beiträge zu Bundestag, Bundesrat, Bundespräsident,
Bundeswehr sowie zum Bundesverband der Deutschen Industrie enthält,
liegt die Frage zumindest nahe, warum man ausgerechnet
auf den Eintrag Bundesverfassungsgericht verzichtet
hat. Aber was heißt das schon? Denn der Herausgeber schreibt in
seiner Vorbemerkung völlig zu Recht: „Auch in einem erheblich
umfangreicheren Lexikon ließe sich keine Vollständigkeit
bei der Abbildung dieses neuesten Zeitabschnitts deutscher
Geschichte erreichen.“
Es kommt natürlich auch darauf an, was man von den Artikeln erwartet und was man mit ihrem Inhalt anstellen möchte. Zitierfähig ist Wikipedia nicht, und auch eine Fußnote mit Verweis auf die Seiten des DHM würde ich mir in Seminararbeiten verkneifen, schon der feinen Unterschiede wegen: Kindlers Neues Literaturlexikon schön und gut, aber aus dem Internet? Aber wann zitiert man schon aus einem Lexikon? Und wenn, dann doch eher aus einem ‚richtigen’, großformatigen, mit mehreren Einzelbänden? Und ist es nicht so, dass ich, will ich mich ‚mal schnell’ informieren (Wann war das nochmal? Worum ging’s da nochmal?), bei Wikipedia eigentlich ganz gut bedient bin, solange ich weiß, dass die Dinge, die da stehen, nicht der Weisheit letzter Schluss sind? Der Weisheit letzter Schluss sind die Lexikon-Einträge schließlich auch nicht. Andererseits ist in einem Lexikon wie diesem die Chance groß, dass der Text, den ich geboten kriege, aus der Feder eines Experten, vielleicht sogar des Experten oder der Expertin, für dieses oder jenes Thema stammt. Im Internet kann ich mir dieser Expertise ungleich weniger sicher sein, zumal auf Seiten wie Wikipedia. Dieser Vorteil wird spätestens dann besonders relevant, wenn es um die konzise Historisierung komplexer Phänomene wie Bevölkerung, Demokratie und Liberalismus, Deutsche Frage, Geschlechterordnung, Recht und Rechtsstaat geht, „die sich durch große Teile oder das gesamte 20. Jahrhundert ziehen“ (Vorbemerkung). Dies dürfte sicherlich eine der am schwierigsten zu ersetzenden Stärken eines in Buchform vorliegenden Lexikons sein. Ähnliches gilt für „wesentliche“ (ebd.) Phasen, Regime und Geschehnisse deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert (Erster Weltkrieg, Shoah, Alliierte Besatzung, Deutsche Demokratische Republik usw.), wobei hier gerade das DHM-Angebot eine durchaus ernstzunehmende Alternative darstellt. Ein weiterer nicht zu unterschätzender Pluspunkt sind die schon angesprochenen Literaturangaben. Im Internet herrscht bisweilen die Angewohnheit, statt auf Gedrucktes ausschließlich auf andere Websites zu verweisen.
Allein, werden diese Vorzüge dem im Klappentext formulierten Gemeinplatz gerecht, es handele sich hier um „ein unentbehrliches Nachschlagewerk für alle historisch und politisch Interessierten“? Wenn der oder die Interessierte mit einem preiswerten Internetzugang, kritischem Verstand und etwas Surf-Erfahrung, vielleicht sogar mit einem Bibliotheksausweis ausgestattet ist, würde ich sagen: Nein, unentbehrlich ist das Lexikon in diesem Falle nicht. Es stellt lediglich eine weitere Informationsquelle unter vielen dar, wenn auch eine sehr nützliche, preiswerte und netzunabhängige.
[1] Rolf Steininger, Rezension, Schildt, Axel (Hrsg.): Deutsche Geschichte
im 20. Jahrhundert. Ein Lexikon. München 2005. In: H-Soz-u-Kult,
26.05.2005.
[2] Linksammlungen für historisch und politisch Interessierte findet man u. a. unter clio-online.de und
historiker.de oder bei Google.