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Juli 2005
Tina Manske
für satt.org

Volkmar Sigusch: Neosexualitäten
Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion
Campus Verlag 2005

Volkmar Sigusch: Neosexualitäten (Campus)

br., 225 S., 24,90 €
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Volkmar Sigusch:
Neosexualitäten

Dem Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft der Universität Frankfurt am Main und Begründer der Kritischen Sexualwissenschaft gelingt mit diesem Buch eine tiefgreifend analytische, politisch diskursive und obendrein auch noch literarisch ambitionierte essayistische Abhandlung.

Nie waren wir so frei wie heute, unsere divergierenden Sexualitäten auszuleben. Nie wurde diese unsere Sexualität so korrumpiert und vom Kapitalismus zur Ware degradiert wie heute. Mit diesen zwei knappen Sätzen könnte man die Bestandsaufnahme von Volkmar Siguschs Buch "Neosexualitäten" zusammenfassen. Um es gleich vorwegzunehmen: Dem Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft der Universität Frankfurt am Main und Begründer der Kritischen Sexualwissenschaft gelingt eine tiefgreifend analytische, politisch diskursive und obendrein auch noch literarisch ambitionierte Veröffentlichung, die zumindest im Moment auf diesem Gebiet allein auf weiter Flur stehen dürfte. Selten konnte man in letzter Zeit eine Aufsatzsammlung (einige Texte sind bereits früher in anderen Zusammenhängen veröffentlicht worden) mit solch hoher Aphorismusdichte und solch scharfsinnigen und unzynischen Betrachtungen zur Gesellschaftsgegenwart lesen. Denn "Neosexualitäten" ist nicht nur ein Buch über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion; es ist ein Buch über unsere aktuelle westliche Kultur, die von einer derartigen Fetischisierung der Liebe genährt wird, dass man davon krank werden kann.

Sigusch besteht auf terminologischer Eindeutigkeit, zu deren Gunsten er unterhaltsame Neologismen einführt: So plädiert er dafür, in Analogie zur Homo- und Heterosexualität den Transsexuellen die "Normalen" als "Zissexuelle" gegenüberzustellen – während die einen diesseits ihrer Geschlechtergrenzen verharren, betreten die anderen jenseitiges Neuland. Die sogenannten "Normalen" sollten, so Sigusch, ihre Hochnäsigkeit ablegen, da ihre Sexualität nicht weniger einer diskursiven Formung und gesellschaftlicher Prägung unterliege wie die der sogenannten "Perversen". Die Codierungen unterliegen einem stetigen Wandel: Vieles, das früher als pervers verpönt war, gilt heute als normal (s. Homosexualität) oder umgekehrt (s. Pädophilie). Sigusch zufolge ist die Liebe selbst in unseren Breitengraden durch den Hang zur Verstofflichung zu einem Fetisch geworden und damit zu einer Perversität, ohne die jedoch, auch das macht der Autor klar, keine Beziehung über Jahre frisch bleiben könnte. Ob man nun ein Gummidress oder das Gefühl der Verliebtheit braucht, um in Stimmung zu kommen: das ist alles so nah beieinander (in Kategorien des "Perversen"), dass nun wirklich kein Feigenblatt dazwischenpasst. Und zur Verteufelung des als pervers Verschrieenen in der modernen Gesellschaft bemerkt er: "Jenen aber, die die Perversen denunzieren, ist offenbar nicht bewusst, dass sie das wünschen, was sie so laut verleugnen und verfolgen." Perversion als Positiv der Normalität.

Die Erörterung der Stellung der Frau ist ebenfalls ein Thema, dem sich Sigusch in der vorliegenden Publikation eingehend widmet. In Anlehnung an Louise J. Kaplan beschreibt er die Liebe, wie sie gemeinhin als "normal" angesehen wird, als eigentliche weibliche Perversion, da sie auf einem inegalitären Mann-Frau-Verhältnis der Gesellschaft und der "geistig-ideologischen Diskriminierung und materiellen Zurücksetzung der Frauen als Genus" basiert. Eine Gleichberechtigung der Geschlechter allerdings sei nur gemeinsam mit einer Erneuerung der Gesellschaft zu erreichen, nicht unabhängig von ihr (davon reden im übrigen die Feministen - denen ich Sigusch hinzurechne - seitdem es sie gibt, und da man manche Wahrheiten entgegen der Volksdummheit nicht oft genug wiederholen kann, sei es fürs Protokoll erwähnt: Feminismus handelt nicht von der Ermächtigung der Frauen, sondern von der Ermächtigung aller Menschen). Womit wir bei der Frage des Kapitalismus wären, denn Sigusch betont, "dass eine entscheidende Schwächung des Patriarchalismus ohne eine materielle Gleichheit von Männern und Frauen nicht zu erreichen sein dürfte".

Man sieht, Sigusch gibt sich nicht mit kleinen Randbemerkungen zufrieden – er betrachtet das große Ganze, er interessiert sich für Zusammenhänge und sieht diese ohne Schwierigkeiten auch da, wo andere anfangen Bäume zu fällen, um zum Wald durchzudringen. Allein das ans Ende des Buches angehängte "etwas andere Glossar", das "Mundus sexualis", lohnt die Anschaffung des Bandes. Hier hat Sigusch auf engem Raum und in komprimierter Form all seine vorher elaborierten Thesen noch einmal in Kurzform und alphabetisch zusammengefasst. Dass Sigusch auch einen nicht zu verhehlenden Hang zu trockenem Humor hat, wird besonders in diesem Teil des Buches deutlich; so manches mal fühlt man sich an den großen Lichtenberg und seine Sudelbücher erinnert. Zum Stichpunkt "Theorie" etwa liest man hier: "Kategorien vögeln nicht und werden nicht schwanger. Das trennt Theorie und Praxis." Und zum Lustmord notiert Sigusch: "Der Lustmord mag aus Unlust und Hass entstehen, der Unlustmord aus Lust und Liebe, womit bewiesen wäre, dass alle Menschen zu beidem fähig sind."

Ich wünsche diesem Buch eine Verbreitung, die nur unwesentlich von einer Bepflasterung der deutschen Marktplätze und Buchhandlungen abweicht. Wir haben es nötig, das zu lesen.