Das subjektive Erleben, Deuten und Erzählen von Leiden hervorbringenden gesellschaftlichen Verhältnissen als Untersuchungsgegenstand der Soziologie hat Anfang der 1990er Jahre wieder einen deutlichen Popularitätsschub bekommen. Pierre Bourdieus Projekt "Das Elend der Welt" machte damals den Versuch, eine Bestandsaufnahme der sonst in Sprach- und Repräsentationslosigkeit versackenden Geschichten der Ränder der Gesellschaft vorzunehmen, in seinem Fall der französischen. Wie jede hermeneutische qualitative Sozialforschung machte er es sich zum Auftrag eine Rekonstruktion subjektiver Deutungsmuster sowie ein Verstehen von sozialen Sinnkonstruktionen vorzunehmen. Einen Zugang zu Befindlichkeiten, zu Sichtweisen und Interpretationen von Wirklichkeit zu entwickeln und diesen dann in eine soziologische Rahmung mit theoretischen und empirischen Vorannahmen zu überführen, lässt sich auch als Grundmotiv des nun vorliegenden Projekts "Gesellschaft mit begrenzter Haftung", das sich mit "Zumutungen und Leiden im deutschen Alltag" auseinandersetzt, herausschälen. Herausgegeben von den Soziologen Franz Schultheis und Kristina Schulz wurden in über zweijähriger Feldarbeit (von 20Februar 2004) zahlreiche teilnarrative Interviews zusammengetragen, mit sozialwissenschaftlichen Interpretationen versehen und in ein knapp 600 Seiten starkes Buch gegossen. Dabei arbeiten die interpretierenden, kommentierenden wissenschaftlichen Noten mit einer parallelen Anwendung inhaltsanalytischer, hermeneutischer Verfahren sowie quantitativem, makrosoziologischem und sozialstrukturellem Material. Beachtenswert ist dabei die konstruktivistische Herangehensweise, die zunächst einmal keine Taxierung der Narrationen auf ihren Wahrheits- oder Glaubwürdigkeitsgehalt vornimmt, sondern sie als mit zu bestimmenden Bedeutungshöfen ausgestattete Ausdrücke gesellschaftlicher Wahrnehmungsweisen aufnimmt. Schultheis verweist selbst auf das Problem einer naturalistischen Verkennung des Erzählungscharakters der Texte, dem man aus dem Weg gehen wollte, indem man ganz einfach die Frage danach ins Zentrum rückte, warum Geschichten gerade in dieser Form und nicht anders erzählt wurden. Methodologische Prämisse ist folglich, die Erzählungen "als aus einem bestimmten Winkel repräsentierte Wirklichkeiten anzusehen und dabei den Winkel selbst als der uns interessierenden Wirklichkeit zugehörig zu betrachten und in verstehenden Nachvollzug der subjektiven Schilderungen systematisch einzubeziehen". Auf den ersten Blick mochte man zwar bezweifeln, dass der induktive, zur Selbstüberraschung befähigende Blick qualitativer Forschung so ganz eingelöst werden kann, so unhintergehbar sind teilweise die Vorverständnisse, theoretischen Annahmen und ihre Implikationen für die gefolgerte Herangehensweise. Andererseits zeigen viele Teile der Untersuchung, wie fruchtbar es sein kann, wenn man unter dem Primat der Offenheit wirklich ein Verstehen von sozialen Sachverhalten über Erzählungen sucht. Reflektiert man, um nur eines von vielen möglichen Beispielen anzuführen, die von Daniela Böhmler und Peter Scheiffele getragene Untersuchung der Kulturarbeiter, die präzise aus dem Narrationen gebärenden Feld heraus ein modellhaftes Bild prekären Schaffens destillieren, dann scheint sich das gewählte Vorgehen voll auszuzahlen. Dass gerade für den Zusammenhang der Lebens- und Arbeitsbedingungen von Kultur- und Wissensproduzenten die unsichere Existenz jenseits gesicherter Arbeitsplätze und fester Gehälter, sozialer Absicherung oder geregelter Zeit- und Projektrhythmen eine unangenehm selbstverständliche Erscheinung geworden ist, wird hier anschaulich ausgearbeitet.
An Bourdieus Gruppe geschult und von einem klaren Bekenntnis zu eingreifender, politischer Wissenschaft getragen, man kann hier mit dem Franzosen von einer entfatalisierenden Soziologie sprechen, wird hier von der deutsch-schweizerische Forschungsgruppe eine gesellschaftliche Panoramaschau vorgelegt, die vor allem an den Rändern Halt macht und die Diktiergeräte warmlaufen lässt. Hervorgebracht, bzw. vielmehr angestoßen hat dieses Team aus sehr vielfältig forschenden Sozialwissenschaftlern eine an kritischer Rahmung einerseits, an präziser, zurückhaltender Initiationshilfe zur Artikulation von persönlichen Erfahrungen mit der deutschen Gegenwartsgesellschaft andererseits, wenig zu wünschen übrig lassende Studie. Dass dabei viele aus heterogenen Forschungszusammenhängen bekannte und schätzenswerte Kräfte wie beispielsweise Alessandro Pelizzari, Michael Vester oder Uwe Bittlingmayer zum Gelingen beitrugen, lässt sich am sehr begrüßenswert interventionistischen und richtungsweisenden Produkt dieses "kollektiven Intellektuellen" nur positiv ablesen. Werturteilsfreiheit kann in einem solchen Unterfangen natürlich nicht zur Maxime werden, schon gar nicht, wenn man in einem von Herrschafts- und Gewaltverhältnissen gezeichneten gesellschaftlichen Raum mit Ungerechtigkeit, Ausgrenzung usw. verkehrt und sich wenigstens um die adäquate Repräsentation unterdrückter oder wenig auftretender Stimmen und ihren Weltentwürfen bemühen will. Zentrale Stellung hat für das Projekt, an dem insgesamt dreißig Sozialwissenschaftler partizipierten, eine die Entwicklung der Gesellschaft betreffende Diagnose, die den Neoliberalismus, auch hier ganz in der Tradition des politisch-interventionistischen Spätwerks Bourdieus, als destruktive, physische und psychische Abgründe nach sich ziehende Kraft einstuft und angreift. Nun gab es auch in der Rezeption der von Frankreich und zentral Bourdieu ausgehenden Raisons d'agir, dem Netzwerk gegen den Neoliberalismus, zahlreiche Kritikpunkte, die sich auf einen staatstheoretischen und einen ideologietheoretischen zusammenfassen lassen: das Historisch-Kritische Wörterbuch des Marxismus spricht unter dem Stichwort Globalisierungskritik von einem "reduzierten Staatsverständnis" in der linkskeynesianischen Kritik Bourdieus und hebt damit vor allem auf die dort präsentierte Opferrolle des Staates, der dem Markt dichotom gegenübergestellt wird, ab. Dass dies eingedenk der Motoren- und Katalysatorenfunktion des "nationalen Wettbewerbsstaates", der ökonomische Globalisierung und Neoliberalisierung erst produziert und auch weiterhin reguliert, eine analytische Fehlleistung ist, lässt sich leicht konstatieren. Auch der zweite Einwand, der vor allem auf die Idealisierung des europäischen Sozialstaats gegenüber dem invasorisch-aggressiven angloamerikanischen Kapitalismus abzielt, hat seine Berechtigung. Erwähnung soll dies hier nur finden, damit die Traditionslinie, in der sich die vorliegende Publikation bewegt, keine widerspruchslose, geschweige denn unproblematische ist, transparent wird. Und doch hat diese Forschung – auch vorliegende neigt manchmal etwas unkritisch, wenngleich viel differenzierter, wie man am Beispiel Kristina Schulz’ sieht, zu den ausgeführten Positivbezugnahmen auf Fordismus und Staat – einen extrem großen Vorteil: sie macht ernst mit dem Versuch, das Unbehagen an der ökonomischen, sozialen, im Grunde metasektoriellen Umgestaltung der Gesellschaft bei den Ausgestoßenen der Gesellschaft zu fassen zu kriegen und ihr Elend, wie sie es wahrnehmen und erleiden aus der Wortlosigkeit herauszuführen. Damit ist nicht nur eine für die Betroffenen wichtige Initiation zur Reflektion und manchmal stattfindende Rückführung ihrer Situation auf überindividuelle Zusammenhänge gewonnen, auch eine ganz simple strategische Wirkung ist hier angelegt: die Erfahrungen mit strukturellen Ausgrenzungseffekten verbreitende und ergo ganz plastisch fassbare werdende Destruktivität einer neuen Phase des Kapitalismus. Ob Schultheis und seine Mitstreiter nun Reformisten sind oder womöglich einen falschen Staatsbegriff haben, wird darüber zum Nebenschauplatz. Denn sie reaktivieren ein Bild der Soziologie als Krisenwissenschaft, die sich an gesellschaftlichen Brüchen und Schieflagen orientiert und diese beispiellos plastisch machen durch das Abfragen von biografischen Ausdrucksformen von Krisenerfahrung und -stimmung und dabei nie vergessen, auch die exemplarische, zur Typisierung geeignete Dimension ihrer Fälle herauszupräparieren. Ob es das wirtschaftlich und symbolisch ins Abseits geratene Bauernehepaar ist, die Supermarktverkäuferin, die jeden Tag aus verschärftem internen Konkurrenzkampf heraus eine Stunde zu früh zur Arbeit erscheint, der sozial und beruflich deklassierte Leiharbeiter, zusammengetragen werden die Resultate politischer Strukturentscheidungen. Beeindruckend umfassend und gleichwohl tief ist das Gesamtbild, das dennoch herausragende Fälle kennt. Eine Psychiaterin berichtet von der wörtlich zu verstehenden krankmachenden Wirkung von Arbeitslosigkeit aber auch prekärer, intensivierter Arbeit, bei der sie eine Medikalisierung von eigentlich sozial induziertem Elend vornehmen muss. Ein aus Verdachtsmomenten nach verbüßter Strafe in Sicherheitsverwahrung gehaltener Mann, der von Klaus Schönberger sehr plausibel als repräsentativ für eine Entwicklung gedeutet wird, die er als Kriegserklärung an einen Teil der Bevölkerung begreift, "der sozial abgeschrieben und für den vor allem die Repression vorgesehen ist". Gerade die Vielzahl und Vielfältigkeit der dargestellten und analysierten Fälle wird aber auch zum selektiven Lesen einladen, die kontinuierliche, lineare Lektüre vermutlich die Ausnahme sein, wenn bestimmte Entwicklungssphären, anders als im Buch, prioritär studiert und rezipiert werden. Etwas lernen können über marginalisiertes Leben in Deutschland wird hier vermutlich jeder.