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Mai 2006 |
Dominik Rigoll
für satt.org |
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Gerhard Schröder ist ja kein richtiger 68er. Als er irgendwann Anfang der Achtziger am Zaun des Kanzleramts rüttelte, tat er das nicht als jemand, der die Kämpfe des Trikont wenigstens symbolisch in die Metropolen tragen wollte, sondern, man ahnt es, „als einfacher Bundestagsabgeordneter“ (gerhard-schroeder.de). Durch seinen „Werdegang in der Jugend“ war er einfach „zu sehr mit der Realität konfrontiert worden, um jetzt in abgehobene Diskussionen über das Wesen des Staates als Gesamtmonopolist einzusteigen“ (ebd.). Aber die paar Hanseln, die sich Ende der Sechziger in Berlin West und Frankfurt/Main im SDS engagierten, Kommunen gründeten, ungenehmigte Demos, sit-, go- und teach-ins organisierten? Das waren dann die richtigen? Fischer zum Beispiel, der seit 1969 versuchte, die Beschäftigten der Opelwerke Rüsselsheim von der Notwendigkeit einer revolutionären Erhebung zu überzeugen? Angeblich schmiss der Mann später sogar Brandsätze! Oder ist vielleicht schon die Frage falsch gestellt? Neues aus der BewegungThomas Etzemüller zufolge ist sie das. Etzemüller vergleicht die fünfziger bis siebziger Jahre in Schweden und Westdeutschland unter der Prämisse, „dass ,1968’ Teil einer einschneidenden gesellschaftlichen Transformation und Ausdruck eines vielgestaltigen Umbruchs in der westlichen Welt war, und dass man deshalb auch Rocker, ,Halbstarke’, ,Gammler’, konservative Hausfrauen, Teenager oder Priester einschließen muss; dass man den Blick nicht auf den Protest fixieren sollte, und nicht auf die Demonstrationen, sondern dass man ganz verschiedene kulturelle Äußerungen aufgreifen muss“. Eine solche Perspektive bietet sich schon deshalb an, weil es zwar auch in Schweden Leute gab, die sich wie Dutschke als revolutionäre Theoretiker verstanden oder sich im Dienste der Weltrevolution daneben benahmen wie Fritz Teufel. Allein, es waren nicht besonders viele und sie machten auch weniger Lärm. Vor allem aber krochen sie zügiger als hierzulande zurück in den Schoß eines Schweinesystems, dessen fast schon penetranter Reintegrationswille deutschen Lesern und Leserinnen den Atem stocken lässt. Während die BRD ihre Neue Linke strafrechtlich belangte (Repression!), mit Berufsverbot belegte (Disziplinierung!) oder ihre Stipendien strich („Dreht den Geldhahn zu für die Spinner von FU und TU!“), klopfte der schwedische Staat den seinen einfach so lange auf die Schulter, bis sie entnervt aufgaben und mit den anderen Kindern ABBA hörten. Der Begriff „Scheißtoleranz“So unterschiedlich die 68er-Bewegungen in beiden Ländern auch waren, so sehr ähnelten sich die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen, die sie begleiteten: Die immateriellen Nebenwirkungen eines beispiellosen Strukturwandels (hin zu mehr Sozialstaat, Konsum, Freizeit usw.), die in den siebziger Jahren als silent revolution beschrieben wurden und die man heute gemeinhin unter der etwas weniger schmissigen Chiffre „Wertewandel“ zu fassen sucht. Pointierter als in Etzemüllers Schlussbetrachtung („Warum es so ähnlich und so anders lief“) sind diese Zusammenhänge meines Wissens selten dargestellt worden. Überhaupt besticht die Studie durch ihre klare, unaufgeregte Sprache. Dem Autor gelingt das Kunststück, kritisch über den für den politisierten Teil der 68er so charakteristischen revolutionsverliebten Voluntarismus zu schreiben, ohne in das mittlerweile auch in wissenschaftlichen Darstellungen übliche Bashing zu verfallen. Indem er kontextualisiert und erfahrungsgeschichtlich dekonstruiert, ausführlich über „Vorstellungswelten“ und „Perzeptionen“ schreibt, wird nachvollziehbar, weshalb Ende der sechziger Jahre viele junge und gar nicht mal so wenige ältere Leute in den Notstandsgesetzen, den NPD-Wahlerfolgen, den Westberliner Lynchmobs, der massiven Präsenz ehemaliger Parteigenossen in den Institutionen der Republik, im brutalen Vorgehen der Polizei oder in der antikommunistischen Hysterie, die nicht nur die Springer-Presse verbreitete, ungleich dramatischere Symptome zu erkennen glaubten, als die zeitgeschichtliche Forschung heute. „Obrigkeitsstaatliche Überhänge“ nennt man das jetzt achselzuckend, kein Grund zur Aufregung. Wo der SDS totalitäre Tendenzen erblickte, erkennt Etzemüller Gelegenheiten zur normbildenden Auseinandersetzung, die „gewissermaßen als Medien fungierten, den Zustand der Gesellschaft zu verhandeln“. Der Mord an Benno Ohnesorg, ein Zündfunke, der uns dann doch irgendwie nach vorn brachte, weil er sozialdemokratischen Polizeireformern die Argumente lieferte? So funktionalistisch-cool interpretierte das damals wohl niemand, am allerwenigsten vielleicht die neomarxistischen Möchtegern-Dialektiker an den Universitäten. Die sahen den Weltgeist eher in die entgegengesetzte Richtung walten. Ohnesorg stand hier für den Anfang vom Ende, für einen Staat, dessen Refaschisierung unmittelbar bevorstand und der nur revolutionär beizukommen war. Jedenfalls nicht, indem man sich wie die SPD ein systemstabilisierend-zaghaftes „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ auf die Fahnen schrieb. Schon dass Demokratisierung ein Wagnis sein sollte, musste Argwohn erregen. Wagnis für wen? Doch wohl nur für die, die auch so schon am Drücker saßen?! Willy Brandt nannte die radikalisierten 68er „objektiv reaktionär“, weil er von ihren Aktionen vor allem das Wasser auf den Mühlen eines Franz-Josef Strauß und anderer konservativer Hardliner wahrnahm. Andererseits saß Brandt mit Strauß drei Jahre lang am selben Kabinettstisch und arbeitete auch sonst mit der Crème de la Crème des dumpfdeutschen Gefühlsantikommunismus zusammen, wenn es galt, „Regierungsfähigkeit“ zu beweisen. Lag es wirklich so fern, den ausgewiesenen Antifaschisten Brandt ebenfalls für einen Handlanger der Reaktion zu halten? 1967ff war es eben noch lange nicht ausgemacht, ob sich die Gesellschaft weiter liberalisieren würde oder nicht. Für nicht wenige Zeitgenossen erschienen Revolution und Restauration als durchaus realistische Optionen, ganz gleich ob sie sie nun fürchteten oder herbeisehnten. Während die einen Symptome eines wiederkehrenden Faschismus halluzinierten, sahen andere mit den demonstrierenden Studenten Weimarer Verhältnisse heraufziehen. Während die einen auf das linke Theorie- und Parolenarsenal der zwanziger Jahre zurückgriffen, forderten andere die Wiederbelebung eines streitbar-demokratisch verbrämten Obrigkeitsstaates, den Leute wie Heinemann in mühevoller Kleinarbeit eben erst zurückgebaut hatten. Neues von der AltenEtzemüller umgeht geschickt die Anachronismus-Falle, in die heute all jene tappen, denen zu „1968“ wenig mehr einfällt als „Mein Gott, was waren die bescheuert!“ Dies gelingt der vorletzten Nummer von Ästhetik & Kommunikation nicht immer. Das Doppelheft trägt den etwas irreführenden Titel „Mythos Bundesrepublik“, denn eigentlich geht es um die Geschichte der alten BRD. Im Vorwort heißt es, das Heft mache sich „frei von Bekenntniszwängen und sichtet dafür lieber das Feld“. In der deutschen Zeitgeschichte sieht es nämlich aus wie bei Hempels, wo „die Gestalten und Szenen noch vollkommen ungeordnet und wild durcheinander wirbeln“. Dass die Beiträge dann doch nicht so ganz frei von Bekenntniszwängen sind, wird in den Zeitzeugengesprächen mit Hermann Lübbe, Claus Offe und Heinz Bude besonders deutlich, die zugleich Experteninterviews sind. In dem Gespräch mit Offe beispielsweise wird man das Gefühl nicht los, als wollten Alexander Cammann, Jens Hacke und Stephan Schlak von ihrem Gegenüber ein Mea culpa hören, ein Eingeständnis der eigenen Beschränktheit. „Okay, okay. Wir war’n bescheuert. Zufrieden?“ Der Clou ist: Offe schert sich einen Dreck um die zeitgeschichtlichen Interpretationsangebote der nachgeborenen Klugscheißer: Warum er „in der sozialliberalen Reformphase solch maßlos kritische Bücher“ geschrieben habe? („Wieso ,maßlos’?“) Wie er auf die fünfziger Jahre zurückschaue, die man ja lange als „muffige Reaktionszeit verdächtigt“ hätte, die aber heute „überall unter liberalen Vorzeichen neu rezipiert“ würden? („Das Attribut ,Liberalität’ würde mir nicht einfallen.“) Auch die abgefahrene Frage, ob er mit seiner vor gut vier Jahrzehnten erschienenen Denkschrift Hochschule und Demokratie die „heutige Bildungskatastrophe“ nicht irgendwie „herbeigeschrieben“ habe, schließlich sei diese ja „nicht zuletzt“ auf die Hochschuldemokratisierung zurückzuführen, verneint Offe („mit Verlaub“). Davon abgesehen sind die Interviews großartig. Nicht, dass sie so ungeheuer viel Neues böten. Was sie so lesenswert macht, ist die Virtuosität, mit der sich Offe, Lübbe und Bude als professionelle BRD-Erklärer abfeiern lassen, wobei sich Bude mit Abstand am wenigsten Mühe gibt, seine Eitelkeit zu verbergen. Lustig! Zu den Perlen des Heftes gehört auch „Die geheime Geschichte Herbert Marcuses“. Tim B. Müller porträtiert den „väterlichen Freund der Studentenbewegung“ während des Zweiten Weltkriegs, als er dem amerikanischen Geheimdienst dabei half, die Welt vor den Deutschen zu retten und dabei die parlamentarische Demokratie, die er später so vorbildlich bekämpfen sollte, als verteidigenswert empfand. Oder „Der Kommissar ermittelt“ von Matthias Dell, einem Beitrag zur Krimiserie Der Kommissar, die Dell zufolge „schon bei ihrer Erstausstrahlung zwischen 1968 und 1976 unzeitgemäß“ war: „Auf die mentalen Bedingungen der Bundesrepublik um 1970 blickte sie durch den Filter der ,guten alten Zeit’“. Auch die Artikel zum Weg des ehemaligen Indie-Historikers Götz Aly in den wirtschaftsliberalen Mainstream (in dem leider etwas wenig von den siebziger Jahren die Rede ist) und über das Verhältnis des italienischen Verlegers Giangiacomo Feltrinelli zur BRD, unter besonderer Berücksichtigung der radikalen Linken und des Verfassungsschutzes. Natürlich finden sich auch weniger originelle Texte. Über die Institutionen Bundeskanzler und Beckenbauer beispielsweise, oder über die Gruppe 47. Befremdlich erscheint auch, weshalb wissenschaftliche Abhandlungen immer noch mit „Mythos Soundso“ betitelt werden, was im vorliegenden Heft gleich zwei Mal der Fall ist. Einer der Beiträge widmet sich allen Ernstes dem „Mythos RAF“, ohne auch nur in einer Fußnote auf die gleichnamige Karikaturen-Reihe von Greser & Lenz in der Titanic hinzuweisen Ich persönlich hätte gerne Artikel über Massenarbeitslosigkeit vor 1965 und nach 1975 gelesen, über Flick, Mannesmann und die D-Mark, über das Bild Toni Schumachers in Frankreich (vor und nach Sevilla 1982). Vielleicht hätte man sich ja auch an einer Geschichte der Zeitschrift Ästhetik & Kommunikation versuchen können? Die hatte die ja auch mal Mao-Kitsch auf dem Cover. |
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