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8. Dezember 2009
Jörg Auberg
für satt.org
  Sigrid Hauser: Kafkas Raum im Zeitalter seiner digitalen Überwachbarkeit.
Sigrid Hauser: Kafkas Raum im Zeitalter seiner digitalen Überwachbarkeit. Löcker Verlag, Wien 2009. 296 Seiten, 29,80 Euro.
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KAFKAS LACHEN

In ihrem Buch „Kafkas Raum im Zeitalter seiner digitalen Überwachbarkeit“ kontrastiert Sigrid Hauser Szenen aus Franz Kafkas Romanen mit dem gegenwärtigen Alltag der digitalen Überwachung und wirft einen kritischen Blick auf die technologische Rationalität von Kontrolle und Manipulation im öffentlichen Raum.

Kürzlich wurde einem ausgebrochenen Mörder sein Faible für moderne Kommunikationsmedien zum Verhängnis. Ehe er über die niederländische Grenze fliehen konnte, ortete ihn die Polizei über sein Handy und überwältigte ihn auf seinem Fahrrad in der flachen, kahlen Landschaft des Niederrheins. In diesem Szenario, in dem die ubiquitäre Macht als Zuschauer, Beobachter, Verfolger und Vollstrecker agierte, demonstrierte der Herrschaftsapparat im globalen Raum der Überwachung seine Überlegenheit und ließ die Figur wie in einer Verschwörungsfantasie aus dem Gefängnis ins vorgeblich Freie ausbrechen, um ihr im letzten Akt hohnlachend die eigene Nichtigkeit und Erbärmlichkeit vor Augen zu führen.

Diesen Raum der Überwachung beschreibt Sigrid Hauser, Professorin für Architekturtheorie an der Technischen Universität Wien, in ihrem bemerkenswerten wie eindrucksvollen Buch „Kafkas Raum im Zeitalter seiner digitalen Überwachbarkeit“, in dem sie die aktuelle digitale Welt mit Fragmenten aus Franz Kafkas Romanen „Der Verschollene“, „Der Process“ und „Das Schloss“ kontrastiert und aus dieser Gegenüberstellung neue kritische Perspektiven der herrschenden Gesellschaft entwickelt. In Anlehnung an Walter Benjamins Theorie der Reproduzierbarkeit des Kunstwerks, in der er eine kritische Philosophie des Fortschritts neuer Medien wie Fotografie und Film auf die konventionellen Wahrnehmungsweisen in der Massengesellschaft entwickelte, beschreibt Hauser eine Topographie der digitalen Welt, die sich über die Regelung von Zugriff und Zugang zu informatorischen Systemen, die machtpolitischen Mechanismen von Sicherheit und Kontrolle, die Verwaltung von Verbindungs- und Verkehrsdaten, die technologische Rationalität von Ortung und Navigation und die Datenhäufung im öffentlichen Raum definiert. Die Demokratisierung der Information geht einher mit der Demokratisierung der Überwachung: Alle sind verdächtig und müssen überwachbar sein. Die Ubiquität der Kontrolle trifft nicht allein den entflohenen Mörder, sondern jeden, der allein durch seine Existenz verdächtig ist. Frappant an Hausers Darstellung ist ihre weit gefächerte Perspektive, der es gelingt, nicht lediglich einen kritischen Blick auf die digitale Überwachungsindustrie zu werfen und einen verdichteten Überblick über die aktuellen Erscheinungsformen der Observations- und Verfolgungssysteme zu geben. Zu den bizarren Entdeckungen Hausers gehört das Unternehmen „Digital Angel“, das seine Überwachungstechnologien nicht allein ökonomischen und militärischen Unternehmungen zur Verfügung stellt, sondern auch die permanente Überwachung von Ehepartnern im privaten Sektor ermöglicht. In der Fusion von Schrift, Bild und Ton zum Bit potenzieren sich Kontroll- und Überwachungsmöglichkeiten. Zugleich bilden sich in der globalen Vernetzung gigantische, kaum überschaubare Weltkonzerne heraus, die nicht allein die Konsumenten an die Industrie verkaufen, sondern zugleich den rechtsstaatlichen Schutz des Individuums aushebeln. Benjamins Forderung „Jeder heutige Mensch kann einen Anspruch vorbringen, gefilmt zu werden“ wird heute zur zynischen Prämisse des Überwachungsapparats, der jede Regung digitalisiert und in die globale Zirkulation transferiert. Ob Soldaten in Internierungslagern, „freischwebende“ Hobbyfilmer der Boulevardpresse oder professionelle Roboter der Überwachungsindustrie die Reproduktionstechnologien für ihre Zwecke nutzen – nichts entgeht dem „Kamera-Auge“, das einmal in der Vision Dziga Vertovs Nachrichten von der Revolution an das Weltproletariat kommunizieren sollte.

In die Strukturen der gegenwärtigen Überwachungsgesellschaft sind Szenen aus den Romanen Kafkas montiert, in denen die jeweiligen Protagonisten (Karl Rossmann, Josef K. oder der Landvermesser K.) sich einer undurchschaubaren Architektur der Autorität mit ihren Herrschaftstechnologien ausgesetzt sehen, wobei die Hierarchie im Machtgefüge unklar und undurchsichtig bleibt. Kafkas Protagonisten sind – mit Hannah Arendt gesprochen – „Parias“, Ausgestoßene, Flüchtlinge, Asylanten, die um Aufnahme ins Gefüge nachsuchen und mit Handlangern und Mundstücken des sozialen Überwachungsapparats konfrontiert sind. Durch die Architektur der Herrschaft hallt Kafkas Lachen, das mit den herrschenden Verhältnissen unversöhnt ist und unversöhnlich bleibt. Da alles Fragment bleibt und das Ende verweigert wird, besteht die Hoffnung fort, da das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.

Das Buch ist in einem angenehm unakademischen Stil gehalten, obgleich Hauser zahllose Zitate aus Internet-Quellen verwendet und sie kursiv in die Struktur einflechtet, ohne den Leser mit einem überbordenden Anmerkungsapparat zu belästigen. „Die Sprache ist Zeuge“, konstatiert Hauser. „Als Zitat wird sie in diesem Zusammenhang zum Verräter, denn auch unsichtbar spricht die Macht in allen Belangen: Indem sie überredet und verführt, kontrolliert und überwacht sie, indem sie Sicherheit verspricht, produziert sie Unsicherheit, das Bauwerk ist bestenfalls ihr Werbeträger, und als vereinnahmendes Sprachrohr ist sie in allen Netzwerken organisiert.“ So ist der Text von einem avancierten Konstruktionsprinzip geprägt, das neue Bedeutungen in der autoritären Praxis der digitalen Überwachung offenlegen kann. Allerdings birgt die Fokussierung auf Kafkas Raum auch die Gefahr, technologische Herrschaftsrationalität als zeitloses Phänomen zu beschreiben, ohne die Veränderungen, die im Laufe der Zeit stattfanden, mit auf die Rechnung zu nehmen. Den Faktor „Zeit“ lässt Hauser vollkommen außen vor. Wie Lothar Baier vor Jahren in seinem Essay „Keine Zeit!“ treffend schrieb, hat sich ein ganzer Apparat zwischen das Individuum und das „Rauschen der technischen Kommunikation“ geschoben, sodass sich Überwachung im sozialen Zwang permanenter Erreichbarkeit ausdrückt. Zudem hat der ausschließliche Blick auf den Außenseiter im Überwachungsprozess zur Folge, das Individuum als Opfer, nicht aber als Täter zu beschreiben. Jene Informatiker, die komplexe Suchalgorithmen ersinnen, um in den riesigen Informationsmengen Beziehungen und Muster zwischen disparaten Daten offenzulegen und so den bereits grassierenden autoritären Tendenzen weiteren Vorschub leisten, spielen in dieser Gesellschaft beide Rollen: Sie unterliegen der Herrschaft des Systems und gewährleisten zugleich seinen Fortbestand und Ausbau. Aber auch wenn Hauser diese Problematik vernachlässigt, stellt ihr Buch dennoch eine wichtige Kritik der herrschenden Praxis der Überwachung dar.