Mein Poppott
von Marc Degens
Letztes Jahr im Mai fuhr ich mit der Bahn von Berlin nach Dorsten, in Wanne-Eickel musste ich zum zweiten Mal umsteigen. Ich verpasste den Anschluss, der Intercity, mit dem ich aus Münster kam, hatte über zehn Minuten Verspätung. Die nächste Bahn nach Dorsten fuhr erst in knapp einer Stunde. Ich schlenderte durch das Bahnhofsgebäude, betrat den Vorplatz, es war ein sonniger Tag, die Bahnhofskneipe hatte ein paar Tische und Plastikstühle vor die Tür gestellt, ich nahm Platz, direkt neben einer Werbetafel mit der Kreideaufschrift „Frisch gezapfter Jägermeister -20º“. Die Bedienung kam, ich gab meine Bestellung auf – kurze Zeit später brachte sie mir ein großes Pils. Ich schaute mich um: Die große leere Kreuzung, das überdimensionierte Postamt, die Wartenden an der Bushaltestelle, der unzerstörbare Bunkerturm, das Hinweisschild: Heinz-Rühmann-Platz ... Sogleich erfasste mich eine Art Schreibzwang, so wie fast immer, wenn ich in meiner alten Heimat bin. Ich zückte das Notizbuch und einen Stift und notierte eine Gedichtzeile, skizzierte ein irrwitziges Piktogramm oder hielt die Ideen für eine neue Erzählung fest.
Ich wurde 1971 geboren, wuchs in Essen auf, Anfang der achtziger Jahre zog ich mit meinen Eltern an den Rand des Ruhrgebiets, nach Dorsten, „das Tor zum Münsterland“. Nach dem Abitur studierte ich an der Ruhr-Universität in Bochum, ich zog zurück nach Essen, schrieb literarische und journalistische Texte, gab ein Literaturfanzine heraus, spielte in einer Band, trat auf ... Im Un- und Hintergrund. 1999 dann, direkt nach meinem Universitätsabschluss, siedelte ich nach Berlin über. Immer wieder wenn ich im Ruhrgebiet bin, ganz gleich ob in Essen, in Dorsten oder in Bochum, spüre ich es: Mein Schriftstellertum ist eine Art Flucht. Keine Flucht vor der Arbeitswelt, denn Literatur machen ist Arbeit, sondern eine Flucht vor der Welt der Angestellten.
Fotos © Marc Degens
Peter Handke hat es so ausgedrückt: „Eigentlich seit ich angefangen habe zu denken, wollte ich immer Literatur machen. Oder besser: nicht Literatur machen, sondern als Schriftsteller leben.“ Oft male ich mir in Gedanken mein Alternativleben aus, mal sehnsuchtsvoll, mal gruselnd, was wäre gewesen, wenn alles seinen gewohnten Gang genommen hätte? Ich würde heute im öffentlichen Dienst arbeiten, in dem selben Verwaltungsorgan wie meine Mutter, mein Stiefvater, meine Tante und zwischenzeitlich auch mein Onkel, ich hätte mich hochgedient, vom Ferienjob zur Festanstellung, von der Poststelle über die Datenerfassung hin zur Datenkontrolle. Meine Frau arbeitet eine Etage unter mir, dreimal im Jahr fahren wir in den Urlaub, immer ultra all inclusive, einmal in die Türkei, zweimal nach Ägypten – und alle paar Jahre ganz weit weg. Wir haben eine Eigentumswohnung im Essener Süden, ganz in der Nähe von Jens Lehmanns Elternhaus, samstags filmen wir mit der Digitalkamera Amateurpornos auf dem Cordsofa unter der Dachschräge. Meine Frau liest Taschenbücher, die auch an Autobahnraststätten verkauft werden, ich lese gar nicht, in Multiplexkinos schauen wir uns deutsche Komödien an. Oder ich bin Lehrer. Diese Vorstellungen verbinde ich mit dem Ruhrgebiet.
All das sind Klischees, ich weiß. Aber sie fühlten sich so real an, damals, nachmittags, während meiner Schul- und Semesterferienjobs. Wenn es in der Poststelle nichts mehr zu tun gab, verschwand ich auf der Toilette, schloss mich ein, las Enzensberger-Gedichte und bastelte an meinen Versen. Urs Widmer definiert Dichtung als „Abweichen von der Norm“: „Du musst dich, möglichst klarsehend, der Abweichung stellen, der Differenz, du musst sie aushalten und ihr die geeignetste Form geben und darfst dennoch nicht an jenen Ort abgetrieben werden, an dem die Kommunikation aufhört und der vereinzelte Wahnsinn anfängt.“ Widmer bezieht sich auf die Sprache, doch das Gesagte reicht natürlich weiter: Sprache ist Denken ist Leben – und Schriftstellertum gerade auch gesellschaftliches „Abweichen von der Norm“.
Was hat das alles mit dem Ruhrgebiet zu tun? Angestellter oder Lehrer kann man doch auch in Osnabrück, in Augsburg, Köln oder Schwerin sein. Stimmt, allerdings glaube ich, dass die Angestelltenkultur das Ruhrgebiet in den letzten zwei Jahrzehnten in einem entscheidenden Maße geprägt hat, viel ausgeprägter als anderswo. Das fing schon beim Studium an. An den Massenuniversitäten in Bochum, Essen, Duisburg oder Dortmund traf man keine Studenten, sondern Studierende: Junge Menschen, die wie Angestellte studierten. Die Kultur der Angestellten klassifizierte Siegfried Kracauer folgendermaßen: Massenmediale Öffentlichkeit, inszenierte Zerstreuungskultur, Boom an „freizeitkulturellen Obdachlosenasylen“, Rationalisierung des Sport- und Kulturbetriebs, Uniformierung. Diese Merkmale kennzeichnen in meinen Augen sehr genau das kulturelle Klima im Ruhrgebiet der neunziger Jahre – trotz aller Pluralität der Lebensstile, die oft genug in einem „Mainstream der Minderheiten“ mündete. Naturgemäß empfindet der Schriftsteller in solch einem Umfeld die eigene „Abweichung von der Norm“ als sehr groß – und so erkläre ich mir die inspirierende, schöpferische Kraft, die das Ruhrgebiet bis heute auf mich ausübt. Man kann im Ruhrgebiet prima Literatur machen, ich zumindest. Aber als Schriftsteller hier leben und die Abweichung aushalten? Das ist etwas anderes und das empfinde ich als schwierig, oft sogar als unmöglich. Ich kenne jedenfalls kaum einen anderen Landstrich in Deutschland, in dem so wenige Schriftsteller leben wie hier.
Ich will nicht falsch verstanden werden: Kultur konsumieren – lesen, hören, sehen – kann man überall in Deutschland, dank Internet und Email heute noch viel mehr und wesentlich bequemer als früher. Und natürlich gab und gibt es im Ruhrgebiet viele großartige Kulturangebote: Spektakuläre Events, ein einzigartiges Literaturcafé wie das „Taranta Babu“ in Dortmund, außergewöhnliche Initiativen wie das „Zinefest“ in Mülheim oder das aus Leipzig importierte „Turboprop“-Lesungsformat in Essen, ein Theaterfestival mit Weltruf ... Und ohne Zweifel ist das Ruhrgebiet auch als kultureller Produktionsstandort ertragreich. Aus Essen kommt das „Schreibheft“, die in meinen Augen beste Literaturzeitschrift Deutschlands. In Mülheim lebt Helge Schneider, der nicht nur ein begnadeter Musiker ist, sondern auch ein großartiger Filmemacher und Schriftsteller. Aus Duisburg stammen die wunderbaren „Flowerpornoes“ um Tom Liwa, die die avancierte deutschsprachige Popmusik bis heute inspirieren. In Bochum entwickelte Wolfgang Welt seine schnörkellose Tagebuchprosa als eigenwillige Spielart der Popliteratur. Und gewiss entsteht auch gerade in diesem Augenblick im Ruhrgebiet wieder etwas ganz Eigenes und Unverwechselbares. Allerdings sind die aufgezählten Beispiele meines Erachtens nicht die Aushängeschilder einer lebendigen Kunst- und Kulturszene, sondern Ausnahmeerscheinungen: Solitäre, die deshalb auch etwas so Eigenständiges und Unverwechselbares schaffen konnten, weil eine Szene fehlte und es so viele Anstrengungen kostet, die extreme „Abweichung von der Norm“ vor Ort auszuhalten. Das prägt – den Schöpfer und das Schaffen.
Als Kulturschaffender hatte man es seinerzeit im Ruhrgebiet besonders schwer. Es herrschte ein kräftiger Gegenwind, in der Bevölkerung war eine antiintellektuelle und kunstfeindliche Stimmung weit verbreitet, sozialgeschichtlich kann man sie gewiss mit dem Fehlen einer selbstbewusst auftretenden Bildungsbürgerschicht erklären. Meine Startbedingungen als Literaturmacher waren widrig, vielleicht aber gerade deshalb ideal. Michael Rutschky schreibt: „Wahrscheinlich ist das eine Voraussetzung des Schreibens, daß, wer sich daran macht, am Rande, in einiger Entfernung vom gesellschaftlichen Zentrum, in Abwesenheit eines Publikums zu schreiben anfängt.“ Nicht nur das Publikum, die Literatur insgesamt war im Ruhrgebiet relativ abwesend, zumindest abwesender als anderswo. Freunde, Bekannte und Verwandte konnte man nicht mit dem Abdruck einer Erzählung im „Alltag“ oder in „ndl“ beeindrucken, sondern damit, dass man behauptete, einer „Ultimate Frisbee“-Bundesligamannschaft anzugehören. In solch einem Umfeld wird Literatur lebenswichtig und das eigene Schreiben existentiell bedeutsam: Ein Rückzugsort, ein Rettungsanker. Im Mittelpunkt steht die Literatur – und nicht das Prestige des Literaturmachers.
Da vorgefertigte Strukturen fehlten, wurde man zur Selbstorganisation gezwungen. Meine ersten Lesungen habe ich selbst organisiert, die meisten meiner Texte erschienen in den von mir herausgegebenen Literaturfanzines, ich debütierte in einer Art Selbstverlag, besprochen wurde das Buch von meinem besten Freund in meiner eigenen Zeitschrift. Das ist durchaus eine sinnvolle Berufsvorbereitung, denn den Löwenanteil ihrer Arbeitszeit verbringen die meisten Berufsschriftsteller mit Büroarbeiten, Kontaktpflege und Reklame für das eigene Werk. Man bewirbt sich um Preise und Stipendien, schlägt Verlagen Buchprojekte vor, lässt sich zu Lesungen einladen ... Nur wenige Autoren können sich den Luxus leisten, diesen Aspekt der Arbeit zu vernachlässigen: Auf der einen Seite die sehr erfolgreichen, auf der anderen Seite die sehr erfolglosen Autoren.
Im Ruhrgebiet kenne ich auffallend viele vermeintlich verkannte, größtenteils sogar unveröffentlichte Privatschriftsteller. Wenngleich die Isolation des Schreibers anfänglich schreibförderlich ist, kann sie auf Dauer zu bleibenden Schäden führen, zu Allüren, Kritikresistenz, seichten oder privatreligiösen Texten. Nicht selten auch zur Aufgabe. Das Risiko, an den Ort abgetrieben zu werden, „an dem die Kommunikation aufhört und der vereinzelte Wahnsinn anfängt“, ist meiner Meinung nach im Ruhrgebiet besonders hoch. Urs Widmer schreibt: „Es ist einfach, ein Dichter zu werden. Es ist schwierig, einer zu bleiben.“ Oft frage ich mich, ob meine Mitschüler, die damals Literatur machten, auch heute noch schreiben – beziehungsweise, ob sie es noch tun würden, wenn sie an einem anderen Ort mit dem Literaturmachen angefangen hätten. Vieles im Leben hat bekanntlich mit Zufällen zu tun, in diesem Fall mit Auftrittsgelegenheiten, Veröffentlichungsmöglichkeiten, einem anerkennenden Schulterklopfen ... Ich bin gleichfalls überzeugt, dass man Zufälle auch erzwingen kann, erzwingen muss.
Wir waren viele, erstaunlich viele, „zu einer gewissen Zeit des Lebens ist das ja fast eine Art Gesellschaftsspiel, daß in einer Gruppe von Jugendlichen geschrieben wird“, erklärt Peter Handke. Trotzdem verblüfft mich die hohe Zahl meiner damaligen „Autorenkollegen“ bis heute, möglicherweise ist sie ein Indiz für unsere guten Startbedienungen. Wir waren eine Notgemeinschaft und lasen uns gegenseitig – und kompensierten so die Abwesenheit des Publikums. Man sagt den Menschen im Ruhrgebiet Toleranz und Offenheit nach, doch ich empfand es seinerzeit eher als Gleichgültigkeit, zumindest was kulturelle Dinge anging. Thomas Kapielski, ein ausgewiesener Kenner und Liebhaber des Ruhrgebiet, schreibt: „Nun pflegt der Mensch des Ruhrgebietes einen ganz eigenen Makel; es ist dies eine gänzlich verkitschte, rückwärts gewandte Staublungenromantik, irgendwie auch mit elegischer Taubenscheiße verquirlt, immer sauber verbrämt mit glitschiger Jammerei über das verlorene Idyll. Nichts und nie geht es ab ohne romantischen Stahl-, Kohle- und Kanalmuff! Auch das Bedürfnis nach staatsväterlicher und versicherungsmütterlicher Vollversorgung wurzelt tief bis auf die verödeten Flötze. Auf der ganzen mir bekannten Welt, habe ich nie einen Zeitungsladen bemerkt, der, so wie hier, erst um neun öffnet, dann aber schon wieder, wie eigentlich alle hier, gegen halb eins in eine zweistündige Mittagspause eskapiert. Und dann rauschen sie hier auf ihren Rollatoren oder Motorrollern rum, flaulabern ständig nur gedrückt über ein geheimnisvolles Früher, bemäkeln die hiesige Ereignislosigkeit und das Fehlen der Kultur und dann kommen bei freiem Eintritt nur zwei Figuren zum Orgelkonzert: Der Mann mit dem Hörgerät und der Mann aus Berlin! Oh, Mann!“
Die hiesige Staublungenromantik lässt sich mit der relativen Traditions- und Geschichtslosigkeit des Ruhrgebiets erklären: Die Städte und Erinnerungsorte sind verhältnismäßig jung, das Ruhrgebiet wurde im Zweiten Weltkrieg zu weiten Teilen ausgebombt, hinzu kommt der nicht geglückte Wandel vom Kohle- und Industrie- hin zum Technologiestandort. Besuchern zeigt man das Centro in Oberhausen – und nicht das verbaute Münster in der Essener Innenstadt. Aber das ist ein anderes Thema. An dieser Stelle wichtiger ist die von Thomas Kapielski beobachtete, selbst diagnostizierte kulturelle Verwahrlosung des Ruhrgebiets. Und dafür mache ich in erster Linie die beispiellos schlechte Kulturberichterstattung verantwortlich. Immer wieder, wenn ich mich im Ruhrgebiet aufhalte, bin ich entsetzt über die kläglichen Kultur- und Lokalteile der Tageszeitungen. Und angesichts des kümmerlichen Niveaus der Stadtmagazine wollte ich die Flinte seinerzeit oft genug ins Korn werfen. Nur Kabarett und Ruhrgebietkrimis, es war deprimierend! Welche Bedeutung die Berichterstattung für das kulturelle Leben einer Region spielt, habe ich dann später in Berlin gelernt: Mögen die Nischen auch klein sein und immer kleiner werden – eine gute Berichterstattung produziert auch Berichtenswertes.
Der Vergleich mit Berlin ist in vielerlei Hinsicht aufschlussreich. Selbstverständlich kann man „das Abweichen von der Norm“ in Berlin besser aushalten als in Mülheim, Duisburg oder Marl, insbesondere als Schriftsteller. Freie, prekäre Berufsmuster sind viel verbreiteter, Berlin verdankt seine kulturelle Vielfalt ja gerade auch der unfreiwilligen Selbstausbeutung der „urbanen Penner“ (Mercedes Bunz). Ich kenne in Berlin bestimmt über hundert andere Literaturmacher, man kann sich beratschlagen und Hilfestellung leisten, das ist gut, man kommt aber auch kaum umhin, sich zu vergleichen. Und angesichts der Masse an Vergleichsmöglichkeiten kann man eigentlich nur den Kürzeren ziehen. Die Welt wird in Berlin wirklich klein, mitunter grotesk klein: Meine erste große Liebe aus Dorsten wohnt inzwischen im Prenzlauer Berg, sie ist verheiratet und ihr Mann hat soeben einen „Paparoman“ in meinem Wunschverlag publiziert. In der Stadt wohnt auch noch ein Literaturmacher aus Dorsten, der, obwohl er deutlich jünger ist, schon mehr Bücher als ich veröffentlicht hat, allesamt in den besten Häusern, und kürzlich von meinem Schriftstellervorbild öffentlich gelobt wurde. Der eine schreibt schneller, andere besser, viele schlechter, beides ist bitter. Man fühlt sich überlegen, übergangen, empfindet Neid, Stolz, Mitleid und Wut.
Ich bezweifle, dass es für die Textarbeit hilfreich ist, wenn man permanent das Marktgeschehen und die Produkte der anderen Anbieter vor Augen hat, ganz im Gegenteil. Die Konzentration auf die eigene Arbeit geht dabei verloren, und manchmal auch die Freude. Die Freiheit, sich seine Vergleiche selbst aussuchen zu können, ist in meinen Augen sogar die wesentliche Voraussetzung für eine eigenständige Literaturproduktion – und ich glaube, dass man diese Freiheit eher in Recklinghausen, Dortmund oder Wuppertal als in Berlin oder Leipzig oder Hamburg oder Köln oder München oder Frankfurt erhalten kann. Gewiss brauchen einige Literaturmacher für ihre Arbeit die Impulse und den Zeitgeist der Großstadt, ein Internettagebuch von Rainald Goetz aus Herne mag man sich nur schwer vorstellen, doch nur die wenigsten Gewächse entfalten ihre ganze Pracht im Treibhaus.
Nicht jede Konkurrenz ist für den Literaturmacher also unbedingt Ansporn – und keinesfalls halte ich es für ratsam, sich seine Verbündeten aus der unmittelbaren Nähe zu suchen. Anders beurteile ich die Situation der Kulturvermittler, ganz gleich ob sie Veranstaltungsmacher, Journalisten, Verleger oder Herausgeber sind, für sie ist Berlin ein traumhafter Standort und eine dankbare Herausforderung. Nähe, Austausch und eine große Resonanzfläche sind für die Arbeit der Kulturvermittler wichtig und förderlich. Als ich 1999 von Essen nach Berlin zog, hat mich anfänglich sehr die „Verkiezung“ der Stadt gewundert: Ich war es bis dahin gewohnt, für ein Konzert manchmal bis nach Münster, Köln oder Bielefeld zu fahren, in Mitte wiederum fand man kaum Leute, die sich abends nach Kreuzberg bewegten – und umgekehrt. Andererseits ist die Unbeweglichkeit natürlich eine ideale Voraussetzung für die Entstehung von Szenen und Netzwerken. Dass diese im Ruhrgebiet fehlen, dafür ist die Zersiedelung der Region hauptverantwortlich – und das ist ein strukturelles, kaum lösbares Problem. Für den Weg von meiner Essener Wohnung zur Bochumer Ruhr-Universität brauchte ich abends mit dem öffentlichen Nahverkehr rund anderthalb Stunden.* Meines Erachtens können noch so viele Zechen- und Fabrikgelände in Museen, Proberäume, Galerien und Ateliers umgewandelt werden – das Ruhrgebiet wird sich dadurch nie in eine blühende Kulturlandschaft verwandeln: Es entstehen Oasen, inmitten der Wüste. Immerhin.
* Ich wohnte früher in Essen-Gerschede, in der Nähe des Wasserturms, mein Freund Martini konnte nicht verstehen, wie ich so weit weg vom Schuß in einer so spießigen Gegend leben konnte, mit Kleinstfamilien, vielen Witwen, „Plus“, „Edeka“ und einem kroatischen Restaurant. Über mir wohnte eine alleinerziehende Mutter mit ihrem Lover, einem vorbestraften „Wolfgang Petry“-Double, später dann ihr Bruder, ein Neonazi, der die Nachbarschaft mit seinem Liedgut beschallte: „Rudolf Heß, du bleibst immer in unseren Herzen“. Die Gegend war keine Naturidylle, aber auch nicht häßlich. Erst spät entdeckte ich den Pfad neben „Plus“, der zu einem kleinen Mischwald führte, dann zu einer Ackerfläche, einem Friedhof und schließlich an einem Shop für US-Comics endete. Jahrelang habe ich die erste Ausgabe meiner damaligen Lieblingscomicserie „Shade – The Changing Man“ gesucht, ich habe Comicshops in Berlin, Hamburg und in München durchsucht, in Paris, Brüssel und in Kopenhagen, vergeblich, selbst im „Forbidden Planet“ in London wurde ich nicht fündig – gefunden und erstanden habe ich das Heft schließlich in dem Comic-Shop keine zwanzig Minuten fußwärts von meiner damaligen Wohnung.
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Eine halbwegs funktionierende Pop- und Subkulturszene habe ich seinerzeit allein in Dortmunds Nordstadt entdeckt: Extravagante Clubs, ausgefallene Veranstaltungen, billige Altbauwohnungen ... Subrosa, Solidaritätsvinyl, Hartmuth Malorny. Ansonsten aber traf ich im Ruhrgebiet fast immer nur auf Zusammenschlüsse, und einige hatte ich selbst initiiert, denen der schale Ruch einer Selbsthilfegruppe anhaftete. In besonders lebhafter Erinnerung ist mir dabei die Schreibwerkstatt des boSKop (bochumer Studentische Kulturoperative) geblieben, in dem seit vielen Monaten an den ersten Seiten eines Gemeinschaftsromans geschrieben wurde, der zum Ende des Zweiten Weltkriegs spielt und in dem drei alte Jungfern ängstlich das Eintreffen der russischen Soldaten erwarten, die dann plötzlich auch in der Tür stehen, mit Kalashnikovs im Anschlag – obwohl das Sturmgewehr erst 1947 in Produktion ging! Nach der Sitzung fragte der Leiter dann, wer noch mit ins Kino käme, „Titanic“ oder so, und als alle Teilnehmer ihren Arm hoben, wusste ich, dass Schreibwerkstätten nichts für mich sind. Gewiss wird man solche Gruppen auch in Berlin zuhauf finden, doch im Ruhrgebiet war sie eine der raren Nadeln im Heuhaufen, eine Perle.
Letzten Sommer, inmitten von Umzugskartons, habe ich für die Ausstellung „Pop am Rhein: Popliteraturgeschichte(n) 1965-2007“ des Heinrich-Heine-Instituts in Düsseldorf Leihgaben zusammengesucht, die meine popkulturellen Arbeiten bis zu meinem Umzug nach Berlin dokumentierten: Lesungsplakate, Verlagsprogramme, Comic- und Literaturfanzines, Collagen, Flyer, Rezensionen ... Dabei spürte ich oft eine gewisse Erleichterung darüber, dass mein schriftstellerisches Tun nur eine begrenzte Reichweite hatte, und erkannte, wie wichtig und hilfreich das Ruhrgebiet für meine literarische Entwicklung war, weil es auch einen gewissen Schutzraum bot, in denen ich relativ unbemerkt meine Testballons aufsteigen lassen konnte. Ganz anders waren meine Empfindungen beim Betrachten und Hören der Zeugnisse der Musikgruppen, denen ich angehörte. Ich war überrascht von der frühen Reife und Qualität: Stendal Blast 1993 in Arnsberg – da waren wir wirklich gut, ganz eigen und kraftvoll, sehr poetisch. Gewiss hatte das Ruhrgebiet auch daran seinen Anteil, für den Niedergang der Band mache ich allerdings die Isolation und die Ahnungslosigkeit im Ruhrgebiet hauptverantwortlich. Erst später in Berlin habe ich erfahren, wie wichtig Auftrittsmöglichkeiten sind, ein neugieriges, zugleich aber auch anspruchvolles und kritisches Publikum. Wie bereichernd der Austausch mit anderen Musikern ist, die Szene, neue Eindrücke, ein Feedback ... Im Gegensatz zur Literatur braucht avancierte Popmusik unmittelbare Reaktionen, und es ist nie schlecht, auf der Höhe der Zeit zu sein und sich am Wochenende mal von einem Kollegen eine neue Gerätschaft ausleihen zu können. Als Musikliebhaber kann man es im Ruhrgebiet prima aushalten, ich habe im Ruhrgebiet viele tolle Konzerte gesehen, Rocko Schamoni, Andreas Dorau, Stereo Total, Tocotronic, aber als Macher empfand ich den Poppott stets als Kerker, eng und bedrückend, ein Knast, in dem wir unsere entscheidenden popmusikalischen Jahre verschwendet haben. Selber Schuld.
Ich bin sehr froh darüber, nicht in einer Scheingroßstadt wie Essen, sondern in Dorsten aufgewachsen zu sein, denn so geriet ich gar nicht erst in Versuchung, mich hier einrichten und die „Abweichung von der Norm“ auf Dauer aushalten zu wollen. Mir kommen oft die Verse von John Cale und Lou Reed in den Sinn: „When you're growing up in a small town / you know you'll grow down in a small town / there is only one good use for a small town / you hate it and you'll know you have to leave“. Ich bin ein großer Fan von James Kochalka, Comicmacher, Sänger und Superstar, der mit seiner Frau, seiner Katze und seinen zwei Söhnen in einer Provinzstadt im US-Staat Vermont lebt, ganz im Einklang mit sich und seiner kleinen Welt, und ich habe mich schon oft dabei ertappt, wie ich mich innerlich frage, ob Dorsten mein Burlington sein könnte, meine Niemandsbucht. Doch ein Gang durch die Fußgängerzone reicht: Nein, dafür ist Dorsten einfach zu häßlich! Ein Freund, der mit mir in Dorsten aufwuchs, zitiert wiederum bis heute gern die Beschreibung, die ich machte, als ich vor einigen Jahren meine Eltern besuchte und durch die Innenstadt lief: „Dorsten, diese schon am Nachmittag leergefegten Straßen, durch die es weht ‚Selbstmord’, ‚Selbstmord’ ...“ Seit einem halben Jahr wohne ich mit meiner Frau in Eriwan in Armenien und genieße die Betriebsferne. Ich bin der einzige Schriftsteller weit und breit, doch mein Beruf spielt eigentlich keine Rolle. In Eriwan werde ich vorrangig als Ausländer wahrgenommen – und das ist eine gute Voraussetzung zum Literaturmachen.