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6. April 2010 |
Jörg Auberg
für satt.org |
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UNVERSÖHNLICHE ERINNERUNGENIn seinem Buch „Schweigen heißt Lügen“ blickt der Historiker Howard Zinn zurück auf die Geschichte der Bürgerrechts- und Friedensbewegung der USA und bleibt trotz aller Niederlagen hoffnungsfroh für die Zukunft. Nachdem der bekannte Historiker und Bestsellerautor Howard Zinn am 27. Januar 2010 einer Herzattacke im Swimmingpool eines kalifornischen Hotels erlegen war, eilte eine Phalanx von Prominenzen aus Wissenschaft, Kultur und Politik herbei, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Nicht allein linke Historiker wie Eric Foner und Paul Buhle zollten ihrem bewunderten Kollegen Respekt, sondern auch so unterschiedliche Personen wie Ralph Nader, Daniel Ellsberg, Alice Walker und Jane Fonda trugen sich in die Kondolenzliste ein. Obwohl Zinn über Jahrzehnte in erster Linie als Professor an der Boston University gewirkt hatte, blickte er in seinem Engagement für Bürgerrechtsbewegung und gegen die Kriege in Vietnam und im Irak auch immer über den akademischen Tellerrand hinaus. Seine dezidiert linken Positionen brachten ihm Anfeindungen ein, doch erwarb er sich auch große Anerkennung – nicht zuletzt aufgrund seines Buches A People's History of the United States (1980), das mit seiner Darstellung der US-Geschichte aus dem Blickwinkel der Unterdrückten und Beherrschten zu einem Standardtext für Generationen von Schülern und Studenten wurde. Kurz nach seinem Tod liegt nun sein erstmals 1994 erschienenes Buch Schweigen heißt Lügen in einer erweiterten Fassung auf deutsch vor, wobei der Originaltitel You Can't Be Neutral On a Moving Train: A Personal History of Our Times treffender ist, da es sich weniger um eine „Autobigraphie“ (wie der deutsche Verlag das Buch deklariert) handelt als um eine persönlich reflektierte Zeitgenossenschaft. Im ersten Abschnitt rekapituliert Zinn seinen Weg von New York, wo er an der Columbia University promovierte, nach Atlanta, Georgia, wo er am Stelman College, das ausschließlich von schwarzen Frauen besucht wurde, unterrichtete, ehe ihm aufgrund seines politischen Engagements und seiner „Insubordination“ gekündigt wurde. Im Zentrum des zweiten Teils steht die Entwicklung Zinns vom eifrigen Bombenschützen während des Zweiten Weltkrieges zum radikalen Kriegsgegner in den sechziger Jahren. Bereits 1965 opponierte er gegen den Krieg in Vietnam, unterstützte militante Kriegsgegner wie Daniel Berrigan und ließ sich in einem symbolischen, Thoreau-artigen Akt des Widerstands für einen Tag ins Gefängnis sperren. Aus diesem Kontext rührt der Titel des Buches: „Zuzeiten heißt Schweigen: Lügen“ ist ein Zitat des Philosophen Miguel de Unamano aus dem Spanischen Bürgerkrieg. Für Zinn leitet sich die Empathie mit den Unterdrückten und Schwachen und der Notwendigkeit, die Stimme gegen Unrecht zu erheben, aus seiner persönlichen Erfahrung ab, die er im dritten Teil schildert: Als Kind jüdischer Immigranten aus Österreich und Russland wuchs er in einfachen Verhältnissen auf und hielt sich während seines Studiums in New York mit „odd jobs“ über Wasser. Auch als er später ein arrivierter Professor an der Boston University war, hielt er an seinem Klassenbewusstsein fest und opponierte gegen die neokonservative Politik der Universitätsadministration. „Ich bin ein Träumer“, resümiert er im Nachwort zur deutschen Ausgabe. „Ich will alles. Eine friedliche Welt. Eine egalitäre Welt. Keinen Krieg. Keinen Kapitalismus. Ich will eine anständige Gesellschaft.“ Er habe kein Recht zu verzweifeln, insistiert er. „Ich bestehe auf Hoffnung.“ In Zeiten der „neuen Unübersichtlichkeit“ der Postmoderne erscheint vielen Kritikern diese Sicht als zu simpel. Mit dem Erfolg seiner kritischen Geschichte der USA wurde Zinn vorgehalten, er sei ein Popularisierer, der die Perspektive lediglich umstülpe und Schurken in Helden verwandele, während Schattierungen und Grautöne in seiner Erzählung nicht vorkämen. Einer der harschesten Kritiker Zinns ist der linke Historiker Michael Kazin, der Zinn 2004 in der Zeitschrift Dissent eine untaugliche Unmittelbarkeit vorwarf und ihn als „Evangelisten mit wenig Phantasie“ denunzierte. Wenige Tage nach dem Tod Zinn trat er in der Londoner Tageszeitung Guardian noch einmal nach und warf ihm einen manichäischen Ansatz vor, der plebejischen Verlierern eine Stimme verliehen, aber nie eine Erklärung gefunden habe, warum die Herrschenden trotz aller vorgeblichen Opposition des „Volkes“ immer wieder gewählt würden. Nicht von der Hand zu weisen ist, dass Zinn in seinen Büchern nicht gerade mit einer vor Komplexität strotzenden Erzählstruktur aufwartet. Seine literarischen Einflüsse sind Charles Dickens, Upton Sinclair und John Steinbeck, die er gegen die „Literatursnobs“ in Schutz nimmt. Während Zinn die einfachen Wahrheiten eines radikalen amerikanischen Linken verteidigt, der in der Großen Depression der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts sozialisiert wurde, pochen nachwachsende Generationen von Akademikern auf eine „postmoderne“ Komplexität der Verhältnisse, wobei sie sich „im Zweifelsfall“ eher auf die Seite der Vollstrecker der Macht wie Barack Obama oder Hillary Clinton stellen als auf die der Unterprivilegierten. In der traditionellen leninistischen Perspektive der Intellektuellen ordnen sich die Akademiker den „Führern“ der Lokomotive der Geschichte unter, anstatt sich auf die Seite der „Heizer“ zu schlagen. Auch wenn Zinns Darstellung nicht immer die Komplexitäten der Geschichte adäquat zu reflektieren vermag, hält sie doch grundlegende Einsichten – wie in die Ausweglosigkeit des Krieges – aufrecht, die als Prämissen des alltäglichen politischen Geschäfts gelten müssten. |
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