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15. August 2010
Jörg Auberg
für satt.org
  André Schiffrin: Paris, New York und zurück. Politische Lehrjahre eines Verlegers
André Schiffrin: Paris, New York und zurück. Politische Lehrjahre eines Verlegers. Übersetzt von Andrea Marenzeller. Berlin: Matthes & Seitz, 2010. 256 Seiten, € 22,90.
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Klaus Wagenbach: Die Freiheit des Verlegers. Erinnerungen, Festreden, Seitenhiebe
Klaus Wagenbach: Die Freiheit des Verlegers. Erinnerungen, Festreden, Seitenhiebe. Herausgegeben von Susanne Schüssler. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach, 2010. 352 Seiten, € 19,90.
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DAS VERLORENE PARADIES

André Schiffrin und Klaus Wagenbach blicken in ihren unterschiedlichen Lebens- und Arbeitserinnerungen auf das Verlagswesen in den USA und Deutschland zurück und lassen ihre unabhängigen Verlage als Vermächtnis für die Zukunft zurück.

Zum Handwerk gehört das Lamento. »Alles in allem sieht man, wenn man es genau nimmt«, schrieb Louis-Ferdinand Céline grollend in seinen Gesprächen mit Professor Y, »eine ganze Menge Schriftsteller in der Gosse enden, andererseits findet man nur selten einen Verleger unter einer Brücke ... ist das nicht zum Piepen?« Auf der anderen Seite beklagt der traditionelle Verleger, der im Büchermachen nicht allein ein profitträchtiges Geschäft sieht, das Aussterben seiner Spezies, da das Verlagswesen mittlerweile von krakengleichen, global agierenden Medienkonglomeraten beherrscht wird, welche die Branche und damit die Öffentlichkeit nach ihren Leitlinien des stromlinienförmigen Marketings und der optimalen Profitmaximierung formen. Während die Schriftsteller als Textproduzenten sich den neuen Gegebenheiten anpassten und auch mithilfe schakalhafter Literaturagenturen neue Einnahmequellen im E-Book-Markt jenseits der traditionellen Vertriebswege der Verlage requirieren, verendet der klassische Verleger in den sterilen Räumen der Großkonzerne. So ist nicht einmal der Kadaver eines alten Verlegers unter der Brücke zu finden, da er bereits vorher marktgerecht entsorgt wurde.

Diese Entwicklung umriss der amerikanische Verleger André Schiffrin bereits vor zehn Jahren in seinem Buch Verlage ohne Verleger, das er nun in seinen Memoiren Paris, New York und zurück als »eine Art berufliche Autobiografie über meine Rolle als Verleger« bezeichnet. Seine verlegerische Karriere begann Schiffrin Ende der 1950er Jahre in dem Taschenbuchverlag New American Library, ehe er zum Verlag Pantheon wechselte, der 1942 von den Emigranten Kurt und Helen Wolff sowie Schiffrins Vater Jacques gegründet worden war und zu einem renommierten Qualitätsverlag in den USA aufstieg, ehe er zunächst 1960 an Random House und später an Großkonzerne wie S. I. Newhouse und (als bittere Ironie der Geschichte) 1998 an Bertelsmann verhökert wurde. Im Jahre 1990 gründete Schiffrin mit The New Press einen unabhängigen, nicht-profitorientierten Verlag, der an die kritische Tradition von Pantheon anknüpft und Autoren wie Noam Chomsky, Studs Terkel, Eric Hobsbawm, Michel Foucault und Pierre Bourdieu publiziert.

Im Gegensatz zu den Schilderungen der Praktiken in der Verlagsindustrie nehmen sich Schiffrins Lebenserinnerungen, in denen er persönliche Betrachtungen gänzlich ausspart, etwas trocken aus, was nicht zuletzt daran liegt, dass der Autor selbst in den Schilderungen seiner Kindheit und Jugend in den 1930er und 1940er Jahren sich niemals aus der Perspektive des erfahrenen Verlegers zu lösen vermag. Im Jahre 1935 als Sohn Jacques Schiffrins, des Begründers der legendären Bibliothèque de la Pléiade, und Neffe des Filmproduzenten Simon Schiffrin (der unter anderem den Filmklassiker Hafen im Nebel produzierte) geboren, wuchs er in Paris in einem Zentrum der französischen kulturellen Bourgeoisie auf und machte früh Bekanntschaft mit intellektuellen Größen wie André Gide, ehe sein Vater nach der nazistischen Besetzung Frankreichs wegen seiner jüdischen Herkunft auf Druck der neuen Machthaber in der französischen Hauptstadt aus dem Verlag Gallimard gedrängt wurde und 1941 in die USA emigrieren musste. Immer schon, suggeriert Schiffrin im Rückblick, war ihm eine Karriere als Verleger vorgezeichnet. Schon als Kind agiert er wie ein Cousin des kleinen Lords Fauntleroy, präsentiert sich altklug und frühreif in der Welt der Erwachsenen, lässt sich als Vierzehnjähriger bei einem Besuch in Frankreich als geschäftsreisender Emissär seines Vaters bei Gaston Gallimard instrumentalisieren, mit dem er »vertrauliche Gespräche« über die Rückkehr Jacques Schiffrins (der wenig später an den Folgen einer Lungenkrankheit starb) in das Verlagshaus führte. Bereits im Jahre 1948 sei für ihn, schreibt Schiffrin, der Präsidentschaftswahlkampf ein bestimmendes Thema gewesen. »Politik wurde für mich das Mittel, ethische Forderungen in unserer Gesellschaft umzusetzen«, resümiert er seine Existenz als Jugendlicher, der nichts dabei gefunden habe, »als Dreizehnjähriger Wahlversammlungen und Kundgebungen zu besuchen«.

Die Problematik besteht darin, dass Schiffrin nie der Erfahrungswelt und Sinnlichkeit des Kindes Raum gibt, sondern seinem Leben die greisenhafte Summe aus der Existenz eines intellektuellen Chefs aufschlägt. Eine Entwicklung findet kaum statt: Immer schon lugt der abgeklärte Verleger hinter der Ecke vor, der Pubertät und persönliche Irrungen und Wirrungen dank der großzügigen Aussparung persönlicher und damit privater Entwicklungen überspringt. So geraten die Lebenserinnerungen zu einer unaufrichtigen Zurschaustellung des vorgeblich richtigen Lebens im Falschen. Einerseits geriert sich Schiffrin als Nonkonformist am Rande des Mainstreams, der die Privilegien der Ausbildung an Elite-Universitäten wie Yale und Cambridge genoss, andererseits aber als antikommunistischer Sozialist gänzlich ins System integriert war. »Wir waren zwar Nonkonformisten, doch keineswegs Extremisten«, erklärt er, womit er sich von den radikalen Kritikern der US-amerikanischen Gesellschaft distanziert. Er fühlte sich einer moderaten, sozialdemokratischen Linken verpflichtet, die sich in Organisationen wie der Student League of Industrial Democracy (SLID) zu artikulieren versuchte, aber bei den Studenten der späten 1950er Jahre auf wenig Gehör stieß. Obwohl die SLID die organisatorische Speerspitze für die späteren Students for a Democratic Society (SDS) darstellte, für die Tom Hayden 1962 mit dem Port Huron Statement das »Manifest für eine Generation« schrieb, waren SLID-Funktionäre wie Schiffrin für jüngere Aktivisten wie Hayden lediglich Überbleibsel einer toten Vergangenheit einer überkommenen Linken. In seinen Memoiren versucht sich Schiffrin jedoch in einer fragwürdigen »Operation Rewrite«, indem er sich und seine SLID-Genossen nach dem Motto »Wer hat's erfunden?« als wahre SDS-Gründer darzustellen versucht.

»Die Jahrzehnte, in denen ich gelebt habe, waren politisch gesehen keine glücklichen«, bilanziert Schiffrin. Ähnliches trifft auf die Entwicklung der Verlagssituation nach 1960 zu. Nach seinem Einstieg beim Taschenbuchverlag New American Library wurde er Lektor bei Pantheon, dessen Niedergang er kritisch begleitete. Nachdem er im Jahre 2002 die Verantwortung für den Verlag The New Press in jüngere Hände legte, pendelt Schiffrin zwischen New York und Paris, den kritischen Kulturen der beiden Kontinente, und agiert weiterhin als Lektor für seinen Verlag. »Man lebt unabhängig weitaus besser und glücklicher, als wenn man sich von den Großen schlucken lässt«, lautet sein Resümee, wobei er die Vergangenheit des Verlagswesens angesichts der Vorherrschaft großer, amorpher Medienkonzerne wie Bertelsmann verklärt. Betrachtet man sich die marktmäßige Zurichtung von Literatur, wie sie beispielsweise die New American Library mit ihrer Marke Signet betrieb, ist die Schiffrins Trauer um das vorgebliche Goldene Zeitalter oder das verlorene Paradies der seriösen Literatur fehl am Platz. Nicht von ungefähr monierte Theodor W. Adorno nach einem Besuch der Frankfurter Buchmesse im Jahre 1959, dass »die Bücher nicht mehr aussehen wie Bücher«.

Im Gegensatz zu seinem Kollegen verknüpft Klaus Wagenbach in seiner Textsammlung Die Freiheit des Verlegers das Persönliche mit dem Politischen, und damit gelingt ihm eine weitaus aufrichtigere Bestandsaufnahme des eigenen Lebens. 1930 in Berlin geboren, verbrachte Wagenbach seine Jugend in den tristen hessischen Landschaften, ehe er nach dem Studium der Germanistik als Lektor im Verlag S. Fischer arbeitete. Nachdem der Holtzbrinck-Konzern das Unternehmen sich einverleibt und den Lektor aus fadenscheinigen politischen Gründen entlassen hatte, gründete Wagenbach in Berlin seinen eigenen Verlag, der zunächst als gesamtdeutsche Unternehmung gedacht war, in Folge der Studentenbewegung jedoch zu einem zentralen Outlet der radikalen Linken mutierte. In der aufgeheizten Stimmung Westberlins geriet Wagenbach ins Fadenkreuz der Westberliner Allianz von Justiz und Springer-Presse, die den »Baader-Meinhof-Verlag« mit Anklagen und Prozessen überzog, während dem kleinen Unternehmen von linker Seite mit der Abspaltung des sogenannten Rotbuch-Kollektivs 1973 und den Angriffen der RAF-Gefangenen auf Texte des unabhängigen kritischen Intellektuellen Peter Brückner (der wegen seiner angeblichen RAF-Unterstützung vom Universitätsdienst suspendiert wurde) erheblich zugesetzt wurde. Noch heute wird Wagenbach (ausgerechnet in der ehemals linksliberalen Frankfurter Rundschau) der ressentimentgeladene Vorwurf gemacht, er habe mit »teilweise extrem linker Literatur« sein »Vermögen« gemacht, während ihm von einem Vertreter einer bramarbasierenden Salonlinken im verbloggten Freitag vorgehalten wird, er habe »seit zirka 1990« seinen Frieden mit den »deutschen Verhältnissen« gemacht, ohne mit auf die Rechnung zu nehmen, dass auch die sogenannte Linke Teil dieser deutschen Verhältnisse (und somit des Problems, nicht der Lösung) ist.

Ähnlich wie Schiffrin gibt Wagenbach in seinen Erinnerungen den zufriedenen Pensionär, der beizeiten die Geschäfte jüngeren Kräften übertrug, ehe er mit den Schuhen voran aus dem Büro getragen wurde oder bereits begierige Nachlassverwalter das Inventar in Beschlag nahmen. Er zeigt sich glücklich, am Ende des Krieges 1945 mit dem Leben davongekommen zu sein und etwas geschaffen zu haben, das trotz allen Unbills der Zeit eine Zukunft in den Händen anderer jenseits der großen Konzerne zu haben scheint. Während Schiffrin von den gesichtslosen Funktionären eines amorphen Konzerns heimgesucht wird, kann Wagenbach den einstigen Weggenossen den Verrat nicht verzeihen. Der Liebhaber der Karnickel (deren Leben er in einem legendären Interview mit dem Berliner linksalternativen Sender Radio 100 in den späten 1980er Jahren eindrücklich beschrieb) deklariert seine missliebigen Ex-Genossen als »Miesnickel« – wie etwa Wolf Biermann, der mittlerweile auf der rechten Seite der Mauer herausgekommen ist oder F. C. Delius, der einstige Vorzeige-Aktivist des Rotbuch-Kollektivs, der vor allem das eigene Hab und Gut in Sicherheit brachte, ehe Rotbuch havarierte.

Das Problem beider Erinnerungsbücher ist, dass eine kritische Reflexion der Vergangenheit fehlt. Schiffrin schließt jegliche Kritik hinsichtlich des Programmes des Verlages The New Press aus, als wäre es sakrosankt. Nicht jedes New-Press-Produkt ist ein Beispiel herausragender Qualität, und zuweilen hat das Verlagsprogramm einen Charakter der Beliebigkeit. Gleichfalls schirmt Wagenbach jegliche Kritik an seiner Verlagspolitik mit dem Hinweis auf die vorgeblichen Bedürfnisse des Publikums ab. Während in den 1970er Jahren die Leser bereit waren, das harte Brot der Politik zu zermahlen, wollten sie im darauf folgenden Jahrzehnt nicht mehr die harte Kost zu sich nehmen. Die Politik-Reihe, in der kritische Aufsatzsammlungen von Peter Brückner wie Über die Gewalt oder Gewalt und Solidarität erschienen, wich einem politischen Bric-à-Brac, das von dem Frankfurter ökolibertären Trendsetter und heutigen Angestellten des Springer-Konzerns Thomas Schmid geführt wurde. An die Stelle einer politisch durchdachten und intellektuell stimmigen Argumentation trat eine erbärmliche Schwurbelei, welche unter dem Deckmantel, die Linke neu zu erfinden, lediglich die Banalität des Überlaufens zur Gegenseite kaschieren sollte. Symptomatisch für die New-Wave-Prosa der 1980er Jahre war die schwülstige Einleitung Schmids zu dem Band Die Früchte der Revolte: »Es scheint mir zu früh, um größere Klarheit darüber gewinnen zu können, was um 1968 geschah ...« Allzu einfach machte es sich Wagenbach, indem er sich auf die Trinität von Geschichtsbewusstsein, Hedonismus und Anarchie berief, während er linksautonom drapierte Heißluftakrobaten in den Verlag holte, ohne der historischen Anarchie (die er so an Italien schätzt) Substanz zu verleihen. Wie Schiffrin verzichtet auch Wagenbach auf ein selbstkritisches Resümee. Am Ende triumphiert der fröhliche Pensionär, der mit Stolz auf sein Lebenswerk blickt und gegenüber der digitalen Gegenwart skeptisch ist, ohne sie als grollender alter Mann zu dämonisieren. Tatsächlich sind Wagenbach und Schiffrin Vertreter einer aussterbenden Spezies, die trotz allem ein Vermächtnis für die Zukunft hinterlassen.