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28. November 2011
Jörg Auberg
für satt.org
  Rebel Voices. An IWW Anthology
Joyce L. Kornbluh (Hg.): Rebel Voices – An IWW Anthology. Mit Beiträgen von Fred Thompson, Franklin Rosemont und Daniel Gross. Oakland, CA: PM Press, 2011. 447 Seiten, 27,95 US-Dollar.
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SPUREN DER REVOLTE

Die von Joyce Kornbluh herausgegebene Anthologie »Rebel Voices« erinnert an eine vernachlässigte oppositionelle Arbeiterkultur in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Bücher über die 1905 in Chicago von Anarchisten, Sozialisten und Syndikalisten gegründete Gewerkschaft Industrial Workers of the World (IWW) füllen Bibliotheken, doch ragt die von Joyce Kornbluh erstmals 1964 herausgegebene und nun in erweiterter Form neu aufgelegte Anthologie Rebel Voices aus der Masse der Veröffentlichungen heraus. »Keine akademische Studie hat je die Brillanz von Rebel Voices erreicht und wird es jemals tun«, konstatiert Daniel Gross, der Mitbegründer der IWW Starbucks Workers Union, mit Recht in seinem Vorwort zur Neuausgabe. Die Einzigartigkeit des Buches liegt darin, dass es aus Zeitungsartikeln, Augenzeugenberichten, Essays, Gedichten, Liedern, Cartoons und Comics die vitale »Gegenkultur« der »Wobblies« (wie die IWW-Mitglieder genannt wurden) vor Augen führt und die Geschichte der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts in Nordamerika aus vielen Perspektiven der Unterprivilegierten und Unterdrückten im Ausnahmezustand rekonstruiert, als vieles (selbst die Revolution) möglich schien und sich doch letzten Endes zerschlug.

Die IWW organisierte jenen Teil der Arbeiterklasse, den die Facharbeitergewerkschaft American Federation of Labor (AFL) ignorierte. Durch die Entwicklung der maschinellen Produktion hatte sich die Zahl der ungelernten Arbeiter, die in prekären Verhältnissen lebten, eklatant erhöht, doch wurden die Interessen von Immigranten, Wanderarbeitern und industriellen Hilfskräften von der AFL nicht wahrgenommen. Dabei agierte die IWW nicht allein als gewerkschaftliche Opposition, sondern schuf einen kulturellen Rahmen, in dem sich die Kritik der herrschenden Gesellschaft artikulieren konnte. Auch wenn die Mehrheit der Wobblies keine Ambitionen hatte, sich künstlerisch oder intellektuell auszudrücken, bot ihr die IWW mit ihren Aktionen und Medien die Möglichkeit, ihre Stimme in einem gemeinsamen Kampf für eine bessere Einrichtung der Gesellschaft zu erheben. Darüber hinaus verzichteten die Wobblies mit ihrer spielerischen, subversiven Agitation, schreibt der Historiker Michael Kazin in seinem Buch American Dreamers: How the Left Changed a Nation (2011), auf »die steifen Frömmigkeiten der viktorianischen Linken«. Für Kazin ist die IWW mit ihrem romantischen Elan, der keine dauerhafte Spur in der amerikanischen Politik hinterlassen konnte, eine »Organisation der schönen Verlierer«.

Doch waren die Wobblies weitaus mehr als bloße Träumer. Im Kampf um ihre Rechte – sei es in den Textilfabriken des Ostens, auf den Feldern des Mittelwestens oder in den Wäldern des Westens – kämpften die IWW-Mitglieder auch für von der Verfassung garantierte Bürgerrechte wie die Rede- und Organisationsfreiheit. In der amerikanischen Realität sahen sie sich jedoch Formen der barbarischen und institutionalisierten Gewalt ausgesetzt: Vigilanten und Lynchmobs malträtierten und ermordeten IWW-Aktivisten, während Polizei und Justiz gegen führende Wobblies vorgingen, um Streiks und direkte Aktionen im Keim zu ersticken. Trotz allem hatte die IWW bis zum Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg 1917 (als eine landesweite Repressionswelle gegen die linke Opposition im Lande einsetzte) einige Erfolge zu verbuchen. Die von den Wobblies entwickelten Streiktechniken (wie Betriebsbesetzungen oder kampagnenunterstützte direkte Aktionen) hielten Einzug in das Gewerkschaftsarsenal, und die Kämpfe um die Redefreiheit wurden später von der Bürgerrechtsbewegung in den 1960er Jahren wieder aufgegriffen. Nichtsdestotrotz setzte in den 1920er Jahren der Niedergang der Organisation ein, was teilweise auf die technologische Entwicklung infolge der Massenproduktionen zurückzuführen war als auch auf interne Querelen, die 1924 zu einer Spaltung und zusätzlichen Schwächung der IWW führte. In jüngerer Zeit kehrte die IWW mit einer erfolgreichen Organisation der Baristas der Kaffeehauskette Starbucks, die von anderen Gewerkschaften ignoriert worden waren, in die Schlagzeilen zurück. Für Daniel Gross ist dies der Beweis einer »revitalisierten IWW«, doch ist ihr Einfluss immer noch gering.

Die kulturelle Leistung der Wobblies bestand in der Subversion und im »Detournement«, führt Franklin Rosemont in seiner kurzen Abhandlung über den Wobbly-Cartoon aus. Ähnlich wie später die Situationisten nutzten die Wobblies den Cartoon als Medium, um die Propaganda der kapitalistischen Presse in ihr Gegenteil zu verkehren, indem sie Symbole und Kontexte verfremdeten und so »dekonstruierten«. Ähnlich verfuhren sie mit populären Songs: Sie nahmen die Melodie und stülpten ihr einen neuen Text über. So schufen sie eine reichhaltige Sammlung revolutionärer Lieder wie »Hallelujah I'm a Bum«, »The Preacher and the Slave« oder »Casey Jones, Union Scab«, die in dem legendären Litte Red Songbook der Organisation gesammelt wurden und mittlerweile fester Bestandteil der amerikanischen Populärkultur sind. Ähnlich verhält es sich mit den Cartoons und Comics, die zwar propagandistischen Wert haben sollten, aber nie dumpf wie die später propagierte »proletarische Kunst« daher kam. Da sie von Ironie, Parodie und Humor geprägt waren, hatten sie stets einen spielerischen Charakter. Bestes Beispiel sind die erstmals 1913 von dem deutschstämmigen Cartoonisten Ernest Riebe gezeichneten Cartoons um die Figur des Mr. Block, eines holzköpfigen Arbeiters, der stets aus Dummheit und Ignoranz sich vor den Karren der Unternehmer und des Staates spannen lässt.

»Gestern gefürchtet, heute fast vergessen«, schrieb Joyce Kornbluh 1964 am Ende dieser einzigartigen Anthologie, »haben die Wobblies nichtsdestotrotz ein unauslöschliches Zeichen in der amerikanischen Arbeiterbewegung und amerikanischen Gesellschaft hinterlassen.« Dieses materialreiche Buch bietet nicht nur eine prägnante, facettenreiche Geschichte der Wobblies, sondern stellt zudem eine umfangreiche, vom IWW-Historiker Fred Thompson 1987 aktualisierte Bibliografie, ein Glossar zur Sprache der amerikanischen Wanderarbeiter sowie ein umfangreiches Register zur Verfügung. Damit gehört dieses Buch in die Bibliothek der All-Time Favorites.