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23. Januar 2012 |
Jörg Auberg
für satt.org |
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DAS LEBEN UND NICHTS ANDERESThomas Waugh blickt zurück auf die Geschichte des Dokumentarfilms Als der Filmemacher Dziga Vertov zu Beginn der 1920er Jahre mit dem Kinozug durch Russland fuhr, um die Bevölkerung im Sinne der neuen Machthaber »aufzuklären«, wollte – so will es die Legende – das Publikum in den Landstrichen der entstehenden Sowjetunion nicht länger mit »Kino-Wodka« (theatralischen Filmen aus der Illusionsfabrik) beliefert werden, sondern im Kino die »ungeschminkte Realität« sehen. In einem Dorf sagte ein kollektives Ich zu den Filmleuten: »Wir kennen das Leben nicht. Wir haben das Leben nicht gesehen. Wir kennen unser Bauerndorf und die zehn Werst umher. Zeigt uns das Leben.« Für Thomas Waugh, der als Professor für Filmwissenschaft und interdisziplinäre Sexualwissenschaft an der Concordia University in Montreal lehrt, ist dies die Urszene des »sozial engagierten« Dokumentarfilms des 20. Jahrhunderts: Die filmische Durchdringung der materiellen Realität trägt zu einer Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse und Strukturen bei. In seinem Buch The Right to Play Oneself, in der zehn Essays aus der Zeit zwischen 1975 und 2008 versammelt sind, wirft Waugh einen zweiten Blick auf die Geschichte des Dokumentarfilms, wobei es ihm – anknüpfend an die Arbeiten Walter Benjamins und Joris Ivens' in den 1930er Jahren – um die Interaktion von Darstellung und Mise-en-scène in der filmischen Praxis geht. »Jeder heutige Mensch kann einen Anspruch vorbringen, gefilmt zu werden«, schrieb Benjamin 1936 voller Optimismus und sah im sowjetischen Film die Menschen als »Darsteller« im Arbeitsprozess, während in Westeuropa »dem legitimen Anspruch, den der heutige Mensch auf sein Reproduziertwerden hat«, die Berücksichtigung verwehrt werde. Der klassische Dokumentarfilm, beginnend mit Robert Flahertys Nanook of the North (1922), gab vor, lediglich beobachtend das Geschehen zu dokumentieren, und um den Schein der Authentizität zu wahren, hielten Regisseure ihre Akteure stets dazu an, nicht in die Kamera zu blicken. Während traditionelle Schulen des Dokumentarfilms wie die von John Grierson geprägte britische Dokumentarfilmbewegung in den 1930er Jahren oder die Cinéma Vérité/Direct Cinema-Richtung in den 1960er Jahren die Anwesenheit der Kamera und ihren Einfluss auf das Geschehen verschleierten oder abstritten, nutzte der niederländische Filmemacher Joris Ivens die »Personalisierung« als Strategie, um mit Hilfe von individuellen »Darstellern« einen geschichtlichen Prozess für die Zuschauer erfahrbar zu machen. Diese Hinwendung zu Dramatisierung und Inszenierung war jedoch nicht unproblematisch, wie spätere Entwicklungen im Dokumentarfilm zeigten. Herz- und Glanzstück des Buches ist der lange, dreiteilige Essay über den amerikanischen Filmemacher Emile de Antonio, in dem Waugh die Geschichte des Dokumentarfilms anhand der politischen Praxis de Antonios kritisch reflektiert. Während die Adepten des Direct Cinema wie Richard Leacock oder Donn Alan Pennebaker in den 1960er Jahren den kleinbürgerlichen Alltag in den USA oder die Spektakel der Popkultur abfilmten, arbeitete de Antonio an der politischen Geschichte des Kalten Krieges, analysierte in Point of Order (1963) und Millhouse: A White Comedy (1971) die Mechanismen von Medien und Herrschaft, zeichnete in In the Year of the Pig (1969) die Genese des Vietnamkrieges nach oder begab sich in Underground (1976) auf die Spuren der damals noch klandestin agierenden »Weather Underground Organization«. Zuletzt arbeitete er in dem autobiografischen Film Mr. Hoover and I (1989) die eigene Geschichte (die jahrzehntelange Überwachung durch das FBI) auf, wobei die an Michael Moores effekthascherische Selbstinszenierung erinnernde Darstellung nicht überzeugend gelang. Die Entstehung dieses Essays (in seiner jetzigen Form) zog sich über Jahre hin (die ersten beiden Abschnitte wurden bereits 1976/77 in der Zeitschrift Jump Cut veröffentlicht, während der Schlussteil zwischen 2006 und 2008 entstand), und Waugh stellt ihm einen längeren Kommentar voran, in dem er Kritik an einigen Positionen übt, die er vor dreißig Jahren vertrat, ohne sich von dem Text zu distanzieren oder ihn gar zu widerrufen. Neben diesen drei Größen aus dem Pantheon des Dokumentarfilms diskutiert Waugh auch Filme jenseits des Kanons, wie etwa indische Dokumentarfilme, in denen nicht einzelne Personen als Akteure im sozialen Geschehen reden, sondern Gruppen, die vor der Kamera ein »kollektives Interview« führen. In der Diskussion von lesbischen und schwulen Dokumentarfilmen weitet Waugh den Begriff des Dokumentarischen aus und schließt beispielsweise Filme wie Frank Ripplohs Taxi zum Klo (1980) ein, der zwar auf realen Erfahrungen des Regisseurs basiert, aber doch ein gänzlich fiktionaler Film ist. In Waughs Augen stellen die verschiedenen Strategien zur Repräsentation der Realität wie Doku-Fiktion oder »Performance« eine Auffächerung des Spektrums des Dokumentarfilms dar, der sich auf diese Weise viele Möglichkeiten schaffe, um in die Realität verändernd einzugreifen, doch verweigert Waugh den Blick über den Rand des Dokumentarfilms hinaus: Die Aufweichung der Grenzen zwischen Realität und Fiktion, die von Adepten des Genres mit aufklärerischem Impetus vorangetrieben wurde, die Betonung der Subjektivität von Akteuren im sozialen Raum, die Interaktion zwischen Autor und Akteur führten auch zu den bizarren Spektakeln des Reality-TV, das wie eine hohnlachende Parodie auf Vertovs Traum eines revolutionären Fernsehens erscheint. Leider reflektiert Waugh den Begriff des »sozial engagierten« Dokumentarfilms nicht kritisch, sondern begreift ihn in erster Linie als Motor gesellschaftlicher Veränderung. In Bezug auf Vertov und Ivens ist er von einer sentimental-nostalgisch geprägten Empathie gegenüber den »heroischen Zeiten« überwältigt und blockt eine Diskussion der politischen Fragwürdigkeiten dieser Autoren ab. Ivens' Film über den Spanischen Bürgerkrieg – Spanish Earth (1937) – bewegt sich im ideologischen Orbit der kommunistisch dominierten Volksfront, ohne dies dem unbedarften Zuschauer zu erkennen zu geben. Die Realität des Films reflektierte nicht die Realität des Spanischen Bürgerkrieges (in dem auch eine anarchistische Revolution stattgefunden hatte, die im Film jedoch ausgeblendet blieb), sondern verhüllte sie zu einem Großteil hinter einem ideologischen Schleier. Zum anderen feiert Waugh Vertovs Film Drei Lieder über Lenin (1934), ohne ein kritisches Wort über die Idolisierung eines autoritären Führers zu verlieren, der für die Etablierung eines umfassenden Unterdrückungsapparats und die Ausmerzung der sozialrevolutionären Opposition verantwortlich war. Trotz dieser Unzulänglichkeiten ist dieses Buch ein gelungenes und vielschichtiges Resümee der Geschichte des Dokumentarfilms.
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