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29. September 2012
Jörg Auberg
für satt.org
  Leslie Page Moch: The Pariahs of Yesterday: Breton Migrants in Paris.
Leslie Page Moch: The Pariahs of Yesterday: Breton Migrants in Paris. Durham und London: Duke University Press, 2012. 256 Seiten, 23,95 US-Dollar.
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DER BRETONE ALS PARIA

In ihrem Buch »The Pariahs of Yesterday« rekonstruiert Leslie Page Moch die Geschichte der bretonischen Migration nach Paris nach 1870 und wirft einen kritischen Blick auf die öffentliche Wahrnehmung jener Zeit.

Im Paris der Belle Epoque galten bretonische Zuwanderer als Parias, wie ein französischer Geistlicher im Jahre 1898 schrieb: Gleich den späteren Einwanderern aus Nordafrika oder Osteuropa kamen die Bretonen in die französische Hauptstadt, um sich als billige Arbeitskräfte zu verdingen, die am Rande der urbanen Gesellschaft lebten, ohne in sie integriert zu sein. Letztlich waren sie in den Augen der Pariser keine »vollwertigen« Franzosen – nicht zuletzt aufgrund ihrer sprachlichen und historischen »Fremdheit«. In seiner Erzählung »La Parure« (1884; dt. »Der Schmuck« oder »Das Halsband«) beschrieb Guy de Maupassant prägnant, wie die bürgerliche Pariserin Mathilde ihre Angestellte aus der bretonischen Provinz wahrnahm: »Der Anblick der kleinen Bretonin, die den bescheidenen Haushalt besorgte, weckte in ihr Kummer, Verzweiflung und lockende Träume.« Typischerweise nimmt sie ihre Dienstbotin nicht als reale Person wahr, sondern als beliebige, austauschbare menschliche Chiffre, die als Hülle einer Projektion durch den Raum wabert.

Die Geschichte der bretonischen Migration nach Paris rekonstruiert die Historikerin Leslie Page Moch in ihrem Buch The Pariahs of Yesterday anhand zahlreicher Archivquellen wie beispielsweise Polizei- und Heiratsakten, Zeitungsberichten und Zeitschriftenartikeln sowie literarischer und filmischer Werke. Obwohl Bretonen schon seit dem Mittelalter und vor allem während der Revolutionszeit nach Paris kamen, beschränkt sich Moch auf die Zeit von 1870 bis zur Gegenwart, als eine massenhafte Migration bretonischer Arbeitskräfte in die Pariser Region einsetzte. Im 19. Jahrhundert führten hohe Geburtenraten in der Bretagne dazu, dass viele dem kargen Land entflohen und sich als Fabrikarbeiter oder Dienstboten im 14. Arrondissement von Paris oder im industriellen Vorort Saint-Denis verdingten, der auch aufgrund der starken sozialistischen Präsenz der »rote Gürtel« von Paris genannt oder als »französisches Manchester« bezeichnet wurde. Die Migranten lebten in »bretonischen Kolonien«, in überfüllten, schmutzigen Industriequartieren, wo in Folge der Kombination aus Dislokation, Depression und der ubiquitären Verfügbarkeit von Rotwein der Alkoholismus grassierte. Während die bretonischen Migranten von den Parisern ob ihrer mutmaßlichen Rückständigkeit, Naivität und Religiosität verachtet und verspottet wurden, warnten konservative Kleriker vor der urbanen Maschine Paris, die sich gefräßig immer neues Menschenfleisch einverleibte und die unbedarften Zuwanderer ins Verderben (etwa junge Bretoninnen in die Prostitution) führte.

In der öffentlichen Wahrnehmung waren Bretonen in erster Linie »Trampel vom Lande«, die nicht für das urbane Leben bestimmt waren. Bretoninnen, die vor allem als Dienstboten der Pariser Bourgeoisie arbeiteten, dienten als Projektionsfläche gesellschaftlich unterdrückter Fantasien, in denen Sexualität, Verschlagenheit und Frivolität miteinander verwoben wurden. Als Beispiel führt Moch Octave Mirbeaus Roman Le Journal d’une femme de chambre (1900; dt. Tagebuch einer Kammerzofe) an, der zwar Kritik an der verdorbenen Bourgeoisie übt, zugleich aber mit der Protagonistin Celestine die Vorurteile gegenüber den bretonischen Migranten bestärkte. Ähnlich verhält es sich mit Emile Zolas Roman Pot-Bouille (1882), in dem Zola sowohl die Bourgeoisie als auch ihre bretonischen Dienstboten denunziert, denen er einen Mangel an Hygiene, Ausbildung, Schönheit, Klugheit und Charakter unterstellt. In Karikaturen späterer Jahre wurden Bretonen als sexuelle und religiöse Heuchler oder Alkoholiker oder – in der Cartoon-Figur der Bécassine – als naive, dümmliche Tölpel dargestellt, und in frühen Filmen der Produktionsfirmen Pathé und Gaumont zwischen 1908 und 1914 wird die Bretagne als rückständiges, von Krankheit, Aberglauben, Alkoholismus, Faulheit, Elend und Armut gebeuteltes Land gezeichnet. Erst im Zuge eines wachsenden Regionalismus in den 1930er Jahren veränderte sich das Image der Bretonen, die eine selbstbewusste Identität entwickelten und gegen die Stereotypisierung protestierten. So vollzog sich schließlich im Laufe der Jahre die Integration und Assimilation der einstigen »Parias«.

Der Vorzug dieses glänzend recherchierten und gut lesbaren Buches liegt nicht allein darin, dass Moch eine verborgene Geschichte detailreich in einem unprätentiösen Stil rekonstruiert, sondern dass sie auch den Bogen von der Vergangenheit in die Gegenwart spannt. Bis zum Zweiten Weltkrieg waren die Bretonen in Paris die letzte französische Gruppe, die untergeordnete Tätigkeiten übernahmen. Danach wurden sie an Immigranten delegiert. Es ist Mochs Verdienst, dass sie die Erinnerung an eine geschichtliche Erfahrung wachhält, deren Spannung nicht verloren gegangen ist.