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22. November 2012 |
Kerstin Petermann
für satt.org |
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Die Geschichte(n) der MP3Die MP3 hat Geschichte(n). Jonathan Sterne erzählt sie – mal als Kulturwissenschaftler und Soziologe, mal als Physiker und Audiotechniker oder als Historiker – immer aber als Musikliebhaber. Und am Ende ergibt das Mosaik das facettenreiche Bild einer Alltäglichkeit, über die so viele Menschen wie selbstverständlich reden und die noch viel mehr Menschen nutzen, die aber nur schwer vollständig zu fassen ist. Wenn es Suzanne Vegas »Tom's Dinner« nicht gegeben hätte, würden wir heute Musik vermutlich anders hören. Jedenfalls hat Karlheinz Brandenburg – einer der Forscher, die am Fraunhofer Institut die Kompression von Audiodaten als wesentliche Voraussetzung des MP3-Formats mitentwickelt haben – »Tom's Dinner« im Radio gehört, als er an dem Algorithmus zur Komprimierung arbeitete. Als er die warme, Acapella-Stimme hörte, war ihm klar, dass sie sich mit dem aktuellen Komprimierungsalgorithmus nie so bewahren lassen würde. Fortan maß er die Funktionalität des Algorithmus an diesem Lied und dieser Stimme und modifizierte ihn so lange, bis er die Wärme der Stimme nicht mehr schmälerte. Das ist eine der kleinen Geschichten, die Jonathan Sterne in MP3: The Meaning Of A Format zum MP3-Format erzählt. Jonathan Sterne, Dozent am Institut für Kunstgeschichte und Kommunikationswissenschaften der McGill University, ist Kulturwissenschaftler, Medienwissenschaftler, Philosoph, Musiker und Techniker. Deswegen ist MP3 für ihn sehr viel: ein Dateiformat, das sich problemlos teilen lässt; eine Technik, die Audiodaten komprimiert und auf die wesentlichen – hörbaren – Teile reduziert; MP3 ist eine platzsparende Form, Daten zu speichern, die deswegen die Entwicklung der verschiedensten Abspielgeräte beeinflusst und mit ihr die Industrie. Entsprechend breit gefächert sind die Aspekte, die in MP3: The Meaning Of A Format behandelt werden. Jonathan Sterne bewegt sich als universal einsetzbarer Lehrer irgendwo zwischen Geschichtsunterricht, Physikstunde, philosophischer Diskussion und Medienanalyse, die er uns SchülerInnen mit Anekdoten schmackhafter macht, falls uns bei dem einen oder anderen Exkurs in der letzten, ermüdenden Stunde der Kopf herunterfällt. Deswegen erzählt er, wie die ForscherInnen der »Moving Pictures Expert Group« (MPEG) die Komprimierungstechnik auf verschiedenen Datenträgern wie CD-ROM, DAT oder Video Compact Disc ausprobierte, um ein Gespür dafür zu bekommen, für was man sie eigentlich verwenden könnte. Und deswegen erzählt er auch, dass eben jene Video Compact Disc zur Audiokompression geführt hat: Auf der Video-CD war zunächst nur das Video – also die Bewegtbilder – gespeichert und damit der Speicherplatz nahezu erschöpft. Wollte man das Video mit Ton sehen, musste die Audiodatei komprimiert werden. Fortan hieß die Forschergruppe Moving Pictures Expert Group – and associated audio. »For a long time we felt like the poor little associated audio guys«, zitiert Jonathan Sterne Bernhard Grill, ein Mitglied der Forschergruppe. Solche Episoden bleiben natürlich viel eher im Gedächtnis als die Beschreibung, wie der Header des MPEG-Layers und seine Bit-Zahl bestimmen, um welchen MPEG-Typ es sich handelt und wie die Synchronisierung der »header frames« durch die ersten elf Bits übernommen wird. Aber auch das ist Teil des Buches. Wer nicht gerade absolut universell interessiert ist, wird sich hier vielleicht entscheiden müssen, in welche Richtung er oder sie weiter lesen will. Absolut empfehlenswert sind die Exkurse zu den Anfängen der technischen Entwicklung – und die reichen übrigens weit zurück – bis hin zum Telefon und zur Erforschung der Funktionsweise des menschlichen Hörsinns. Und wer sich eine aktuelle Diskussion über die Bedeutung von MP3 wünscht (Anlass und Ansatzpunkte gibt es ja genug), wird auch fündig werden. Mehr noch: Im vorletzten Kapitel »Is Music A Thing« greift Sterne den Vergleich des Urheberrechts für materielle Güter mit dem immaterieller Güter auf. Ein Vergleich, der natürlich hinken muss, weil geistiges Eigentum immer an materielle und materialisierbare Produkte gebunden ist. Und wenn es an die materielle Form von MP3 gebunden ist, kann es dank des Dateiformats eben problemlos kopiert werden. Interessant an Sternes Argumentation ist vor allem die Frage, ob MP3 als Datei, die Speicherplatz belegt, materiell ist oder ob sie als Träger von Informationen und Daten immateriell ist. Bei den vielen Aspekten, die Jonathan Sterne anspricht und ausführlich darlegt, ist MP3: The Meaning Of A Format ein Buch, das auch ganz gut quer gelesen werden kann. Die Kapitelüberschriften zeigen recht deutlich, in welche Richtung es geht und je nach Laune darf sich der Leser oder die Leserin dann dem Geschichts- oder Physikunterricht widmen oder eben auf eine philosophische Diskussion einlassen.
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