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11. April 2013
Jörg Auberg
für satt.org
  Stanley Aronowitz. Taking It Big
Stanley Aronowitz. Taking It Big: C. Wright Mills and the Making of Political Intellectuals. New York: Columbia University Press, 2012. 276 Seiten, 32,50 US-Dollar.
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Der synthetische Denker

In seinem Buch »Taking It Big« unterstreicht Stanley Aronowitz die Aktualität des amerikanischen Sozialphilosophen C. Wright Mills auch ein halbes Jahrhundert nach dessen Tod und diskutiert das Konzept des politischen Intellektuellen im Zeitalter des akademischen Konformismus.

In der linken Mythologie nimmt C. Wright Mills einen exponierten Platz ein. Obgleich er zu den Nutznießern jenes Prozesses gehörte, den Philip Rahv, der »Commander in Chief« der New Yorker Intellektuellen, zu Beginn der 1950er Jahre als »Institutionalisierung der Intellektuellen« geißelte, und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg eine Karriere in der soziologischen Fakultät der Elite-Universität Columbia in New York verfolgte, haftete ihm stets der Nimbus des Aufsässigen, Rebellen und Außenseiters an. Typisch ist das Bild, das ihn in Ledermontur auf einem BMW-Motorrad durch die amerikanische Landschaft fahrend zeigte, womit er sein Image als »James Dean der linken Soziologie« (wie ihn Christopher Lasch einmal beschrieb) pflegte.

Für Stanley Aronowitz hat Mills auch nach mehr als einem halben Jahrhundert nach seinem Tod (im Jahre 1962 starb er im Alter von 46 Jahren an den Folgen einer Herzattacke) nichts von seiner Aktualität verloren und repräsentiert den Typus des integren »öffentlichen Intellektuellen« in den Territorien des akademisch-industriellen Komplexes. Anders als Daniel Geary in seiner intellektuellen Biografie Radical Ambition: C. Wright Mills, the Left, and American Social Thought (2009) analysiert Aronowitz in seinem Buch Taking It Big Mills' Wirken nicht aus einer historischen Perspektive, sondern er versucht in kritischen Reflexionen, Mills' Analysen der amerikanischen Gesellschaft auf die Gegenwart anzuwenden. Aronowitz selbst ist ein Beispiel für die »Akademisierung der Intellektuellen« in der Nachkriegszeit. 1933 geboren, war er zunächst als Organisator in der Gewerkschaftsbewegung aktiv, ehe er später als Soziologe an der City University of New York lehrte (CUNY) und 2002 als Kandidat der Greens für das Amt des Gouverneurs von New York kandidierte. Im Gegensatz zu vielen linken Akademikern, die »erfolgreich« den »Marsch durch die Institutionen« absolvierten, schimmert bei Aronowitz – trotz aller institutionellen Verstrickungen – weiterhin das unverbrüchliche intellektuelle Talent durch. Aber dennoch steht er – wie Russell Jacoby in seinem zornigen Abgesang auf die »öffentlichen Intellektuellen« in der Tradition C. Wright Mills (The Last Intellectuals, 1989) schrieb – »am Ende der Tradition urbaner nichtakademischer Intellektueller«.

Für Aronowitz lebt Mills als Prototyp des »radikalen Intellektuellen« fort. Gerade in Zeiten des Konformismus in den 1950er Jahren – als viele Intellektuelle den Radikalismus ihrer Jugendzeit über Bord warfen und sich den neuen herrschaftlichen Erfordernissen anpassten – hielt er die Flamme des oppositionellen Geistes am Brennen und gab sie an eine neue Generation weitergab. Legendär war sein Aufruf »Wir fangen an, uns neu zu bewegen«, den er zwei Jahre vor seinem Tod in der New Left Review veröffentlichte und der von seinem Schüler Tom Hayden bei der Formulierung des Gründungsmanifestes der Students for a Democratic Society (SDS), dem »Port Huron Statement« aus dem Jahre 1962, weitergetragen wurde. Für Aronowitz ist Mills ein »synthetischer Denker«, der scheinbar disparate Ideen und Traditionen europäischer und amerikanischer Provenienz (von Karl Marx, Max Weber und Karl Mannheim über Thorstein Veblen und John Dewey bis zu Georg Lukács, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno) zu einem eigenen stimmigen Konstrukt verband. Vor allem Mills' Analyse der amerikanischen Machtverhältnisse in The Power Elite (1956; dt. Die amerikanische Elite) hat – wie Aronowitz angesichts der aktuellen politischen Strukturen in den USA (jenseits der irrationalen Obama-Idolatrie) unterstreicht – eine ungebrochene Aktualität. Symptomatisch für die Stimmigkeit der Kritik ist der Verriss des Buches im Wall Street Journal, der dem »Occupy Wall Street«-Aktivisten Aronowitz die Fähigkeit abspricht, die Realität »konstruktiv« zu begreifen.

Die Schwäche des Buches besteht jedoch nicht im Aufzeigen der konkreten Machtverhältnisse in den USA, die Organe wie das Wall Street Journal offenbar gern verschleiern möchten, sondern in den Digressionen der Erzählung, in denen Mills als Protagonist aus dem Fokus des Geschehens verschwindet, während Aronowitz mit seinem Weitwinkelobjektiv über die akademischen Landschaften der amerikanischen Gesellschaft schweift und seine Hauptfigur zum schwarzen Partikel im Territorium schrumpft. Letztlich verortet Aronowitz den politischen Intellektuellen ausschließlich im Umfeld des »universitär-industriellen« Komplexes, der den »kulturellen Apparat«, den Mills kritisch betrachtet hatte, mit einer dicken schwarzen Schicht überzog. »Der politische Intellektuelle ist ein Denker, der im Schreiben, Sprechen und Lehren unautorisierter Ideen fortbesteht«, postuliert Aronowitz. Die Problematik dieser Konzeption besteht freilich darin, dass er die intellektuelle Existenz ausschließlich in den Grenzen der bestehenden akademischen Institutionen sieht, ohne ein »transzendentales« oder »utopisches« Projekt im Sinne Mills' in Betracht zu ziehen, das dem »radikalen Intellektuellen« ein von Kapital- und Racket-Interessen freies Terrain zusicherte. Gewiss ist sich Aronowitz der Gefahr der Korrumpierung durch die institutionelle Praxis bewusst. »Fast jeder junge Intellektuelle, der sich dafür entscheidet, als Professor in einer amerikanischen Hochschule seinen Lebensunterhalt zu bestreiten«, schreibt er, »sieht sich mit der Notwendigkeit konfrontiert, den Anforderungen zu genügen, die von den Traditionen und den Regeln seiner gewählten Fachrichtung und den Universitäten diktiert werden.«

Mills selbst unterstrich – trotz der Eingebundenheit in die institutionelle Welt der akademischen Ivy-League-Welt – die Notwendigkeit der Einheit politischer Radikalität und sprachlicher Klarheit und warnte vor der akademischen Verwahrlosung des intellektuellen Handwerks. In seinem Buch The Sociological Imagination (1959; dt. Kritik der soziologischen Denkweise) mahnte er den »öffentlichen Gehalt« (die Stimmigkeit von Form und Inhalt) im intellektuellen Diskurs an. In seiner harschen, aber gerechtfertigten Kritik der akademischen Praxis, wie sie sich in den 1950er Jahren – dem »Zeitalter des Konformismus« (wie Irving Howe diese Jahre einmal treffend charakterisierte) – etablierte, stand Mills in der Tradition der New Yorker Intellektuellen, auch wenn er politisch mit ihnen über Kreuz lag. »Im Lexikon der New Yorker Intellektuellen ist Akademiker immer ein Antonym zu Intellektueller gewesen«, konstatierte Eugene Goodheart. »Die Zweitklassigen, die Mittelmäßigen, die Pedantischen finden ihr Zuhause in den Fakultäten. Demgegenüber fühlten sich die New Yorker Intellektuellen vom Leben in der großen Stadt, jenseits der Mauern der Fakultäten, elektrisiert.« In diesem Sinne agierte Mills als intellektueller Guerillero in der akademischen Institution, wobei er jedoch in der heutigen Welt des akademisch-technokratischen Milieus wie ein Relikt aus vergangener Zeit erscheint, womit jedoch eher ein Urteil über die Armseligkeit der Gegenwart gesprochen ist. Letztlich blieb Mills aufgrund seines frühen Todes ein Unvollendeter, der nie sein großes Projekt – der Kritik des kulturellen Apparates – abschließen konnte. Zugleich blieb ihm die vollkommene Niederlage seines Agenten der Veränderung – des kritischen Intellektuellen – in den akademischen und medialen Agenturen der Macht erspart.