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1. Juli 2013 |
Jörg Auberg
für satt.org |
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Bibliophilie in Zeiten der CholeraAngesichts der sich ausweitenden Digitalisierung der Bücher reflektiert Andrew Piper in seinem luziden und eloquenten Essay »Book Was There« über die Situation des Lesens im elektronischen Zeitalter. »Mit keinem wechselte er Worte, Antiquare und Trödler ausgenommen. Er war schweigsam und in sich gekehrt, verdüstert und trübsinnig. Einen einzigen Gedanken hatte er, eine einzige Leidenschaft: die Bücher! Und diese Liebe, diese Leidenschaft verbrannten sein Innerstes, verdarben sein Leben, verschlangen sein Dasein.« »Der ehemals so angenehme Duft zerfallenden Papiers übt keine Anziehungskraft mehr auf mich aus; er ist in meiner Erinnerung zu eng mit paranoischen Kunden und toten Fliegen verbunden.«
Nun ist es allenthalben zu hören, das Sterbeglöcklein für das Buch. Kürzlich prophezeite der Blogger Harald Taglinger im Internetmagazin Telepolis den langsamen Tod des Buches als Folge der zunehmenden Digitalisierung der »Contents«. »Bücher verschwinden sozusagen von selbst«, ist Taglinger sich gewiss. »Sie werden digital. Und nach den aktuellen Marktzahlen aus den USA ist das inzwischen mehr als signifikant.« Das Buch werde den Weg der Langspielplatte gehen und auf dem medialen Friedhof der Menschheitsgeschichte enden. Die Aufnahmebereitschaft der aktuellen Kundschaft verlange kürzere Formate, während »längere Stücke«, zumal in einer konzeptionellen Form wie Buch oder »Long Player«, zunehmend obsolet seien. Während Blogger die eigene Borniertheit zum Maßstab aller Dinge erklären und als Sprachrohre eines technolibertären Positivismus im Buch lediglich einen medialen Container sehen (der entsprechend achtlos behandelt wird), befürchten die Bibliomanen angesichts der Digitalisierung die kulturelle Verelendung. Nicht mehr müssen Barbaren Bücher verbrennen und Bibliotheken brandschatzen: Mit der Überführung des Buches in die elektronische Form verschwindet die »Signifikanz« in einem gigantischen Fundus amorpher Texte und Zeichen. Die ubiquitäre Verfügbarkeit, die krakenhafte Konzerne wie Google unter dem Deckmantel der Philanthropie anpreisen, ist kongruent mit absoluter Beliebigkeit, einer »alternativen« Zerstörung. In diesem Szenario ist das Projekt Google Books als universales, weltumspannendes Archiv die hohnlachende Erfüllung des Unternehmens »Fahrenheit 451«. Zwischen diesen Extremen nimmt Andrew Piper eine Mittelposition in seinem Essay Book Was There ein, einer kritischen Reflexion über das Lesen im elektronischen Zeitalter. Zum einen ist er durch seine Affinität zur Literatur geprägt (er lehrt deutsche und europäische Literatur an der McGill University in Montréal); zugleich kennt er sich durch eigene Erfahrung in den Bereichen Programmierung und Internet aus. Sein Buch, das im Titel Gertrude Stein zitiert, ist der Versuch, zu einem Verständnis zu kommen, wie sich das Lesen im Zuge der flächendeckenden Digitalisierung zu verändern beginnt, wobei er in seinen Betrachtungen über die taktilen, visuellen, räumlichen und sozialen Beziehungen des Lesers zum Buch und seinen einzelnen Elementen wie Seite, Layout und Typografie eine groß angelegte Expedition durch die Kulturgeschichte unternimmt, ohne sich prätentiös oder schulmeisterhaft zu gebären. Pipers Stil ist eloquent und luzide zugleich, frei von Manierismen und feuilletonistischer Salbaderei. »Es ist Zeit, die Sorgen hinter sich zu lassen und mit dem Denken anzufangen«, schreibt er in seinem Prolog. »Es ist Zeit, den digitalen Utopien und den Elogen auf das gedruckte Buch ein Ende zu setzen … Jetzt ist die Zeit, die reichhaltige Geschichte dessen zu verstehen, was Bücher möglicherweise für uns getan haben und was digitale Texte vielleicht anders tun könnten.« Diesen Anspruch verfolgt Piper mit seinem Essay, der in seiner Tour de Force durch die Vergangenheit nochmals Marshall McLuhans »Rückspiegeltheorie« bekräftigt (»Wir sehen auf die Gegenwart durch einen Rückspiegel«, gab der kanadische Literaturwissenschaftler zu Protokoll. »Wir gehen rückwärts in die Zukunft.«). Die mittelalterlichen Schriften haben mit ihrer Verknüpfung von Text, Typografie, Bildern und Dekorationen die Interaktion zwischen Medium, Text und Körper, wie sie heute von Internet-Seiten als Standard verwendet werden, vorweggenommen. Gleichfalls hat das öffentliche Lesen in literarischen Salons, Leseklubs und Unternehmungen des »social reading« stets auch Akt des Teilens beinhaltet, der heute in hyperkommerzialisierter Form weitergeführt wird. Zugleich aber wanderten mit dem alten Medium auch alte Deformationen in die schöne, neue Medienwelt ein. »Die Bibliothek, der Ort der Bücher, ist auch der Geburtsort von Obsessionen«, konstatiert Piper. Die »Lesewut« oder die »Lesesucht«, die Gier nach immer mehr Text, wie sie beispielsweise in der deutschen Romantik grassierte, wuchert in das scheinbar neue Medienzeitalter hinein, in dem die suchtgetriebene Jagd nach dem Text den Erkenntnisgewinn überschattet. Die schwärmende Suche nach Fetischobjekten, welche die Existenz des Bibliomanen bestimmte, generiert auch im »Internet-Zeitalter« ein »falsches« oder (wie es bei Georg Lukács heißt) ein »individuelles, isoliertes, robinsonhaftes« Bewusstsein, das den »Benutzer« vom Leben abtrennt und in eine »Parallelwelt« abtauchen lässt. Aber während das traditionelle Buch die Gedanken schweifen und einen dunklen Raum der Fantasie offen lässt, befördert die aktuelle Internet-Kultur – kritisiert Piper – ein Publikum »zerstreuter Leser«, denen die Konzentrationsfähigkeit fehle, um die Lektüre eines Buches zu beenden. Die daraus resultierenden Verhältnisse sind – wie in Ray Bradburys Fahrenheit 451 – nicht das Ergebnis einer diktatorischen oder totalitären politischen Macht, sondern einer gesellschaftlichen kulturellen Praxis. Es bedarf keiner pervertierten Feuerwehr mehr, um Bücher zu vernichten: Dies besorgt der kulturindustrielle Apparat selbst, deren Agenten Autoren, Verleger, Redakteure, Journalisten und PR-Beauftragte sind. Sie tragen, stellte Jurek Becker in seinen Vorlesungen unter dem Titel »Warnung vor dem Schriftsteller« im Jahre 1989 fest, »den Bedürfnissen eines veroberflächlichten Publikums Rechnung, das an gesellschaftlichen Fragestellungen desinteressiert« sei. »In der freien Marktwirtschaft«, fuhr der leider viel zu früh verstorbene Autor in seiner Kritik fort, »ist ein Buch ein Produkt wie jedes andere, es unterliegt keinen besonderen ethischen Regelungen. Die Ware hat möglichst profitabel zu sein, ob sie nun Leberwurst oder Panzerfaust oder Buch heißt.« Diese Verhältnisse wurden in der digitalen Variante von Aldous Huxleys Brave New World nicht überwunden, sondern als »unterbrochene Folge endgültiger Verschlechterungen« (wie es bei Samuel Beckett heißt) verstärkt. Bücher, als beliebige wie nichtige »Contents«, werden dem Fetisch der Mobilität und Ubiquität unterworfen, während die Kanäle der Lesbarkeit durch eine profitorientierte Industrie betrieben werden. Wie ein Text zu lesen ist, geben die Designer des globalen Marktes vor, der nicht nur den Inhalt der Ware bestimmt, sondern auch deren Konsumptionspraxis. Die Gefahr einer globalisierten Uniformität sieht auch Piper in der aktuellen Digitalisierung des Buches. »Das universale Medium«, schreibt er in seinem Epilog, »ist wie die universale Bibliothek ein Traum, der mehr Schaden anrichtet, als dass er Gutes tut.« Der universale Wissensspeicher birgt Gefahren der Monopolisierung und Kartellierung in sich; zudem können sich in Form der institutionellen »Gatekeeper« (die darüber bestimmen, was im universalen Speicher bewahrt werden soll und was nicht) Strukturen der Zensur etablieren. Diese Gefahren lassen sich auch nicht, wie es der Verleger André Schiffrin vorschlug, durch eine öffentlich-rechtliche Regulation minimieren, denn längst haben Rackets Schlüsselpositionen in den gesellschaftlichen Apparaten besetzt und die brutale Herrschaft der Stärkeren gegen die Schwächeren zementiert, sodass ein herrschaftsfreier Diskurs einer kritischen Öffentlichkeit unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht möglich ist. Die Technifizierung des Lesens gehört zur Struktur der Rackets, die – wie Max Horkheimer 1943 schrieb – ihren Produktionsapparat »wie Räuber ihre Kanone« einsetzen. Texte werden nach puren ökonomischen Kriterien in die digitale Realität überführt, wobei jedes Racket eigene Formate und Beschränkungen für sein Herrschaftsterritorium einführt, sodass der universale Charakter der Texte unter dem Diktat der Ökonomie verloren geht. Die Beschränkungen des digitalen Formats werden schon am vom Verlag zur Verfügung gestellten Rezensionsexemplar von Pipers Buch deutlich: Es wird im Rahmen des Digital Rights Management (DRM) als Adobe Digital Edition vertrieben, die nicht mit jedem E-Book-Reader (beispielsweise dem weitverbreiteten Amazon Kindle) lesbar ist. Allein, wer seine persönlichen Daten gegen eine Adobe-ID eintauscht, kann das PDF-Dokument lesen. Offenbar ist dieses PDF-Dokument nicht für die Bildschirmgröße unterschiedlicher E-Book-Reader optimiert, sondern stülpt die ursprüngliche Paginierung des gedruckten Buches dem elektronischen Text über, sodass vielfach weiße Abgründe in der elektronischen Darstellung unvermittelt auftauchen. Gleichermaßen sind in den Fußnoten keine Links hinterlegt, und Abbildungen – wie etwa ein von El Lissitzky entworfener Buchumschlag aus dem Jahre 1927 – verlieren alle grafischen und farblichen Details, sodass das elektronische Buch in dieser Fassung von minderer Qualität ist. Selbst Vorzüge eines E-Book-Readers wie des Sony PRS-T2, Markierungen und Notizen zum Online-Notizprogramm Evernote hochzuladen, werden durch die DRM-Beschränkung konterkariert: Eine Notiz wird auf die Länge von 140 Zeichen beschnitten. So werden selbst die Vorteile neuer Technologien dem maschinellen und autoritären Diktat untergeordnet. »Im Umgang mit der Maschine lernt der Mensch, daß die Befolgung der Anleitungen der einzige Weg ist, um die gewünschten Resultate zu erzielen«, schrieb Herbert Marcuse 1941. »Zurechtzukommen heißt, sich dem Apparat anzupassen.« Die Apparate werden selbst zu einem umschließenden Environment. Die zurzeit herrschende Mesalliance aus technolibertären Apparatschicks und Propagandisten des Hyperkommerzialismus (die sich – mit einem Wort des Internet-Kapitalismus-Kritikers Robert W. McChesney – als »Technophilanthropen« auf der Weltbühne zu gerieren versuchen) revitalisiert nicht die Idee einer »neuen Freiheit«, sondern befeuert anti-emanzipatorische Tendenzen. Die Rationalität der Apparate (je kleiner sie sich auch immer dimensionieren) fördert die »Mechanik der Konformität«, die auf jeden Punkt des gesellschaftlichen Getriebes Zugriff hat. »Die Individuen werden ihrer Individualität beraubt«, beobachtete Marcuse, »aber nicht durch äußeren Zwang, sondern eben durch die Rationalität, die ihr Leben bestimmt.« Selbst das Lesen ist mittlerweile in das Herrschaftssystem der Rationalität über die »verteilten Systeme« (die einstmals dem gigantomanischen Moloch der Großrechner-Industrien Widerstand entgegensetzen sollten) integriert worden. Die Freiheit ist anderswo.
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