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19. Juli 2014 |
Jörg Auberg
für satt.org |
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Die Phantome der FreiheitIn seinem Buch »The Battle Against Anarchist Terrorism« bereitet Richard Bach Jensen in beeindruckender Weise die Geschichte des anarchistischen Terrorismus zwischen 1878 und 1934 auf und entschlüsselt die Zusammenhänge zwischen der Entwicklung von Waffen- und Medientechnologien und individuellen Akte der Revolte. Als nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington im September 2001 der »Krieg gegen den Terror« ausgerufen wurde, besann man sich auf akademischer und publizistischer Seite eines globalen Feindes aus dem letzten Jahrhundert. Das britische Wirtschaftsblatt The Economist stellte eine simple historische Analogie zwischen der anarchistischen Bedrohung im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert her, vermischte Anarchisten und Nihilisten zu einem breiigen Hotchpotch und projizierte Anarchisten als Vorläufer der Dschihadisten auf die historische Leinwand, ohne die fundamentalen Unterschiede zwischen einer politisch-ökonomisch motivierten Bewegung und reaktionär-religiösen Rackets in Betracht zu ziehen.1 Ähnlich – obgleich weniger schematisch – ging der US-Historiker James Gelvin vor, als er in seiner Analyse des Terrorismus (im Rahmen einer »Terrorologie«) eine Analogisierung von Anarchismus und Al-Qaida vornahm, wobei er vor allem auf medial vermittelte Stereotypen von Anarchisten und Islamisten rekurrierte. Für Gelvin ist der Anarchismus ein »episodischer Diskurs«, der sich im Hang nach temporärer Aktion und periodischer Eruption erschöpft.2 Auch der ehemalige Anarchist Paul Berman, der nach seiner Apostasie als liberaler »Falke« die Kriegszüge George W. Bushs unterstützte und sich als intellektueller Wiedergänger Albert Camus' stilisiert, stellte den militanten italo-amerikanischen Anarchisten Luigi Galleani in eine Reihe mit dem »eingeborenen« US-amerikanischen Terroristen Timothy McVeigh und dem ägyptischen islamistischen Prediger Sayyid Qutb. Man müsse nur »Anarchie« mit »Scharia« und »Anarchismus« mit »Islam« übersetzen, behauptete Berman, und man erhalte aus den Texten Galleanis die gleiche inhaltliche Essenz wie aus den Werken Qutbs.3
Auch wenn diese historischen Analogien nicht immer eine Gleichsetzung von Anarchismus und Islamismus beinhalten, so ist die politisch motivierte Delegitimierung jeglicher Kritik des Bestehenden, die den herrschenden Konsens sprengt, intendiert. Ohnehin sind Vergleiche »nur zu oft Produkte von Denkfaulheit«, konstatierte Siegfried Kracauer. »Sie dienen dazu, einen dem Anschein nach vertrauten Gegenstand durch den zu ersetzen, der als weniger vertraut erachtet wird; und jene, die vergleichen, stellen gewöhnlich oberflächliche Ähnlichkeiten groß heraus, um so rasch wie möglich in den Hafen heimzukehren, aus dem sie ausfuhren.«4 In willentlicher Ignoranz der historischen Realitäten werden die einfallslosen Eintöpfe der »nouvelle cuisine des posthistoire«5 (wie Lothar Baier diese intellektuellen »Kochshows« a priori nannte) aufgewärmt und grobe Zutaten mit dem großen Pürierstab zermust, um den faden Geschichtsbrei aus dem Reich der ewigen Mitte in gleichförmigen Dosen zu verabreichen. Die Analyse der gesellschaftlichen Zusammenhänge von Autorität, Gewalt und Terror steht angesichts der terroristischen Bedrohung nicht auf der politischen Tagesordnung; stattdessen wird im Namen des antitotalitaristischen Kampfes der Belagerungszustand ausgerufen, in dem Opposition mit Verrat und Kritik mit Sabotage gleichbedeutend ist. »Wer kritisiert, vergeht sich gegen das Einheitstabu, das auf totalitäre Organisation hinauswill«, konstatierte Theodor W. Adorno wenige Monate vor seinem Tod im Jahre 1969. »Der Kritiker wird zum Spalter und, mit einer totalitären Phrase, zum Diversionisten.«6 Im Gewölbe des liberalkonservativen Antitotalitarismus tobt der humanitäre, konvulsivisch an der eigenen Seligkeit sich berauschende Wüterich, den die Gerüchte über das dissidente Unwesen stets aufs Neue in Wallung bringen. Die reale Geschichte des anarchistischen Terrorismus im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert enthüllt der Historiker Richard Bach Jensen in seinem exzellenten Buch The Battle Against Anarchist Terrorism, in dem er sich virtuos zwischen den Makro- und Mikro-Dimensionen im historischen Raum bewegt. Wie Kracauer unterstrich, ist der Historiker häufig von einem Gegenwartsinteresse geleitet, doch erfordern gründliche Erkundungen der Vergangenheit die Fähigkeit, sich in die geschichtlichen Texte versenken zu können. Dies ist Jensen, der an der Northwestern State University in Louisiana Geschichte lehrt und sich seit 1981 mit diesem Thema beschäftigt, in beeindruckender Weise gelungen. Nicht allein bezieht er Archiv- und Forschungsmaterialien aus englischen, französischen, spanischen, italienischen, deutschen, US-amerikanischen und argentinischen Quellen als Grundlage seiner historischen Analyse ein, sondern zudem gelingt es ihm, die Resultate seiner Forschungen in einer überaus lesbaren Form aufzubereiten und über den »Tatsachenschutt« (wie Kracauer es nannte) hinaus eine originelle, überaus nuancierte Analyse des Phänomens des anarchistischen Terrorismus aus verschiedenen Blickwinkeln zu entwickeln. Dabei agiert Jensen im besten Sinne des Wortes »unparteiisch«: Weder dämonisiert er die anarchistischen Täter noch zeichnet er die Akteure auf der staatlichen und polizeilichen Gegenseite als Organe eines globalen Totalitarismus. Vielmehr beschreibt er die verschiedenen Ausprägungen eines anarchistischen Terrorismus als Reaktion auf die Entwicklung eines enthemmten Kapitalismus, der einerseits die technologische Entwicklung von Waffen wie Dynamit und Nitroglycerin oder der Massenkommunikation vorantrieb und zugleich mit seiner industriellen Produktionsweise traditionelle Sozialverbände zerrieb und Verelendungen und Emigrationsbewegungen auslöste. Anfangs setzte der Anarchismus nicht auf die Waffe des Terrorismus: Sowohl Pierre-Joseph Proudhon als auch Michail Bakunin sprachen sich gegen die »Propaganda der Tat« aus. Für Bakunin waren proletarische Insurrektionen und revolutionäre Geheimbünde erfolgsversprechender. Erst bei zunehmender Repression durch Polizei und staatliche Autoritäten wurde die »Propaganda der Tat« innerhalb der anarchistischen Bewegungen auf den verschiedenen Kontinenten populärer. Vor allem im italienischen Aktionismus des späten 19. Jahrhunderts überwog die Überzeugung, dass für die Revolte jegliches Mittel – auch der Einsatz von terroristischer Gewalt durch Bomben – gerechtfertigt sei. Anarchistische Attentäter operierten jedoch nicht auf Befehl oder im Rahmen eines organisierten Netzwerkes. Eher waren sie zumeist Einzeltäter, die zwar von kleineren Gruppen oder Zirkeln unterstützt wurden, jedoch sich als Individualisten betrachteten, die in einem Aufschrei der Gewalt gegen das herrschende Unrecht Attentate auf Potentaten der verhassten Regime wie General Trepow 1878 in St. Petersburg, auf europäische Herrscher wie Wilhelm I., Alfonso XII. oder Umberto I., die österreichische Kaiserin Elisabeth oder den US-Präsidenten McKinley verübten. Während diese desperaten Einzeltaten die herrschenden Regime keineswegs erschütterten, lösten sie in den jeweiligen Bevölkerungen Massenhysterie und Furcht vor anarchistischen Verschwörungen auf globaler Ebene aus. Dabei spielten zum einen die gezielten Unterwanderungen anarchistischer und gewaltbereiter Zirkel durch staatliche agents provocateurs, Informanten und Polizeispitzel eine wesentliche Rolle, die zum Schüren hysterischer Ängste und zur Mobilisierung antianarchistischer Affekte beitrugen. Zum anderen fiel das Zeitalter des anarchistischen Terrorismus mit der Herausbildung des Massenjournalismus zusammen, der – wie Jensen herausstellt – eine entscheidende Rolle im Aufpeitschen der Hysterie bezüglich anarchistischer Gewaltakte spielte. Mittels Simplifikation und Stereotypen blähte dieser neue Typus eines sensationalistischen Journalismus isolierte Ereignisse zu einer grandiosen Weltverschwörung auf. Der Medienapparat schuf ein Bild von einem übermächtigen Gespenst des anarchistischen Terrorismus, womit er nicht allein die Gewaltphantasien der Herrschaftssysteme bediente, sondern auch über die diffuse globale Bedrohung des Anarchismus die eigenen Profite steigerte. Die Ironie der Geschichte war freilich, dass die anarchistische »Gegenöffentlichkeit« (die teilweise verdeckt von staatlichen Stellen finanziert wurde) auf die gleichen Mechanismen setzte, Einzeltäter als »Märtyrer« glorifizierte und in der Publikation von Anleitungen zur Bombenherstellung einem »mediengetriebenen Terror« Vorschub leistete. Ein weiterer Aspekt des anarchistischen Terrorismus war der Versuch, eine multilaterale Antiterror-Politik zu initiieren, wobei sich jedoch nationale Interessen im Wege standen. Während konservativ-autoritäre Staaten wie Deutschland und Russland eine restriktive Politik voranzutreiben versuchten, beharrten liberale Monarchien wie England – trotz der Massierung von anarchistischen Emigranten in London – auf Einhaltung der demokratischen Grundrechte. Die zunehmende Repression in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts führte schließlich zu weiteren anarchistischen Aktionen der Rache, so dass sich die Gewaltspirale immer weiter drehte. In Italien ging man zu einer anderen Diskreditierung des sozialen Protests über: Die Aufständischen wurden als Delinquenten, Psychopathen und Kriminelle pathologisiert, und so wurde die Revolte ins Reich der Geisteskranken manövriert. Mit dieser außerordentlichen Studie legt Richard Bach Jensen eine kritische Analyse des anarchistischen Terrorismus der Vergangenheit vor, wobei er nicht allein eine breitgefächerte, nuancierte Geschichte der Revolte und Repression entwickelt, sondern auch die entstehenden Waffen- und Medientechnologien des sich formierenden industriellen Kapitalismus in origineller Weise in seiner Erzählung einfließen lässt. Ohne explizit die Vergangenheit mit der Gegenwart zu verknüpfen, artikuliert Jensen – wie es Walter Benjamin formulierte – das Vergangene nicht, »wie es denn eigentlich gewesen ist«, sondern enthüllt in den einzelnen Bildern der Geschichte die Momente der Verbindung zur Gegenwart. Darin liegt der überragende Wert dieser Arbeit.
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