Anzeige:
Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




26. Februar 2015
Andreas Jacke
für satt.org
  Das neue Buch Auschwitz-TV von Marcus Stiglegger

Marcus Stiglegger: Auschwitz-TV. Reflexionen des Holocaust in Fernsehserien.Verlag Springer VS, Wiesbaden. 122 Seiten, Softcover 29,99 Euro, als E-Book 22,99 Euro
» Verlag
» amazon


Ein leerer Bahnhof mit liegen gebliebenem Gepäck
Das neue Buch Auschwitz-TV von Marcus Stiglegger

Die Bedeutung des Wortes Holocaust (wörtl. vollständig verbrannt), heute ein gängiger Begriff für den Genozid der Nationalsozialisten an den Juden, wurde in der gesamten Welt nicht von Historikern verbreitet, sondern geht, wie Marcus Stiglegger in seinem Buch Auschwitz-TV erläutert, auf die bekannte TV-Serie Holocaust (1978) zurück. Der Begriff stammt zwar von amerikanischen Historikern und war in den USA vorher bei Geschichtswissenschaftlern üblich, wurde aber beispielsweise in Deutschland erst seit der Ausstrahlung dieser amerikanische TV-Serie verwendet. Darin zeigt sich ihr enormer Einfluss. Zugleich war diese Serie eine Zäsur innerhalb der Fernsehgeschichte selbst. Das, was Theodor W. Adorno und später der Dokumentarfilmer Claude Lanzman mit seinem Film Shoah (1985) mit dem Bilderverbot belegten, weil es sich aufgrund seiner unmenschlichen Dimension jeder Darstellung entzieht, wurde damals erstmals in dieser Mini-TV-Serie im großen Stil und mit internationalem Erfolg in Szene gesetzt. Hier wurde sehr genau gezeigt, was vorher nicht gezeigt werden sollte, nämlich wie die Gräueltaten in den Todeslagern ausgesehen haben könnten. Entgegen allen kritischen Erwartungen wurde gerade mithilfe dieser Serie, durch das Angebot der Identifikation an den Zuschauer, ein mächtiges Stück Aufklärungs- und Gedächtnisarbeit geleistet. Wenn dieser Versuch auch nicht ohne Kritik blieb, so wurde er doch überwiegend positiv aufgenommen. Weitere Serien dieser Art sollten folgen, keine aber nochmals eine solche Bedeutung erlangen. Erst Steven Spielberg mit seinem Spielfilm Schindlers Liste (1993), auf den Stiglegger ebenfalls ausführlich eingeht, gelang nochmals etwas Ähnliches innerhalb des Kinos.

Mit seinem neuen Buch legt Stiglegger nun eine umfassende Studie nahezu alle wichtigen TV-Produktionen und einiger Kinofilme über den Holocaust vor. Dabei werden auch sehr genau zwei bundesdeutsche TV-Serien analysiert, die es in den 60er Jahren bereits über dieses Thema gegeben hatte. Darüber hinaus werden aber auch hierzulande fast unbekannte Serien aus den USA (War And Remembrance, 1988) oder dem Iran (Madar-e seft daradscheh, 2006-2007) vorgestellt und eingehend interpretiert. Stiglegger lässt dabei alle Dokumentarfilme aus und geht konsequent von filmischen Inszenierungen aus. Er versucht zu zeigen, wie diese das historische Bilderarchiv durch diese Bilder nicht nur überblendet, sondern sogar ersetzt worden ist. Seine starke Grundthese ist, dass die simulierten Bilderwelten der erfolgreichen Holocaustverfilmungen das kulturelle Gedächtnis weitaus stärker geformt haben, als die Geschichtsbücher es je vermochten. Zwischen Realität und Virtualität wird dabei streng unterschieden, was zwar angesichts des Holocaust sicherlich politisch korrekt und wichtig ist, aber auch in die seit Platon existierende (und für Jacques Derrida nicht haltbare) Opposition zwischen Realität und Fiktion führt. Die (filmische) Fiktion würde dabei stets gegenüber der Realität abfallen, ein schlechtes Duplikat, eine Fälschung sein. Originär und am Anfang stünde allein das Ereignis selbst und dann noch die authentischen Dokumente, die es von ihm gibt. Jeder Spielfilm über den Holocaust wäre nur ein schlechtes Abbild des realen Ereignisses und nicht mehr selbst ein Ereignis. Für Derrida gibt es aber kein Original. Ohne die absolute Singularität eines so schrecklichen Ereignisses, wie des Holocaust auch nur eine Sekunde infrage gestellt zu haben, sind die Erzählungen und Fiktionen, alle Berichte, die es darüber gibt, stets fiktiv und gleichermaßen real. Sie bilden vor allem eine eigenständige Realität. Weil jeder Bericht, gleich welcher Art immer auch eine Fiktion ist, entfällt so die klassische Opposition aus Platons Höhlengleichnis, die zwischen dem Gegenstand und seinem Schatten so gut zu unterscheiden weiß (und am Ende gar beides als Simulationen betrachtet).

Stiglegger arbeitet zwar nicht mit Derrida, sondern mit den Thesen von Jean Baudrillard und Roland Barthes, die von der gängigeren Differenz zwischen Mythos/Simulation und Realität ausgehen, kommt aber immer wieder zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Interessant ist, dass er deutlich macht, dass eine gelungene Annäherung an das tatsächlich traumatische und (eigentlich undarstellbare) Ereignis des Holocausts im Spielfilm von einer starken künstlerischen Vision getragen sein muss und nicht die Möglichkeit hat, allein vom empirischen oder dokumentarischen Material auszugehen. Immer wieder stellt er so heraus, dass gerade die filmischen Fiktionen erst eine wirklich intensive emotionale Annäherung an die Schreckensereignisse des Holocaust ermöglicht haben. So arbeitet das Buch auf einer zweiten Ebene stets sehr wirkungsvoll an der filmtheoretischen Problematik des Verhältnisses zwischen Film und historischer Realität. Der künstlerische Anspruch durch einen Spielfilm, den Zuschauer zu einer intensiven Wahrnehmung der historischen Realität zu bewegen, ihn so zu manipulieren, dass er sie besser verstehen kann, durchzieht dabei die gesamte und sehr überzeugende Argumentation. Sie wird gebildet vor dem Hintergrund von Stigleggers Seduktiontheorie. Das Trugbild, das der Spielfilm innerhalb dieser Definition immer ist (und bleibt), muss versuchen möglichst intensiv in Richtung der tatsächlichen Realität hin zu überzeugen, denn nachbilden kann es sie nicht.

Auf der anderen Seite verweist Stiglegger daher immer wieder auf die perversen Ansätze einer libidinösen und vorwiegend sadomasochistischen Holocaustverarbeitung oder besser Verdrängung. In einigen Spielfilmen (wie beispielsweise Der Nachtportier von 1974) und Serien werden so Szenarien durchgespielt, die gerade in Beziehung zu den ernsthaften Versuchen einer Aufarbeitung nur als abwegig taxiert werden können. Er lässt keinen Zweifel daran, dass mit solchen Beiträgen in Bezug auf das Verstehen der realen Ereignisse nichts gewonnen wird. Sie verdrängen vor allem den Mord und Entfernen sich so von jedem Realitätsbezug zugunsten einer perversen Umkehrung der tatsächlichen Lebenssituation und Verantwortung für den Anderen.

Immer wieder versucht Stiglegger in einer sehr gelungen Form größere Zusammenhänge zwischen den Filmen über dieses Thema herzustellen. Einige Male weist er dabei auf ikonografische Filmbilder und Standardsituationen hin, die innerhalb der Holocaustverfilmungen häufig verwendet worden sind. So definiert er diese Filme als ein eigenes, wenn auch kleines Genre. Eines der ikonografischen Bilder, auf das er mehrfach hinweist, ist das liegen gebliebene Gepäck, welches die Deportierten am Bahnhof zurücklassen mussten, weil sie es nicht mit in den Zug mitnehmen durften. Dieses Gepäck ist als Filmbild viel mehr als nur die Wiedergabe einer historischen Tatsache. Es ist bereits ein bedrohliches Zeichen dafür, dass diese Menschen nicht mehr zurückkehren werden. In Polanskis Film Der Pianist (2002), der die Vernichtungslager nicht zeigt, ist es darüber hinaus ein Zeichen dafür, was von diesen Menschen übrig geblieben ist. Ein trauriges Bild von einem leeren Bahnhof, auf dem nur noch Gepäckstücke als Erinnerung herumstehen, aber nun kein Mensch mehr zu sehen ist. Ein Geisterbahnhof, auf dem tief in der Vergangenheit die Gepäckstücke hinterlegt worden sind, von denen wir viele erst noch finden müssen, um sie zu öffnen und zu bergen.