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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




10. Februar 2015
Jörg Auberg
für satt.org

Die Zertrümmerung der Privatheit

Mit seinen Enthüllungen über die Praktiken des US-amerikanischen Geheimdienstes NSA und seiner privaten Helfershelfer rüttelte Edward Snowden mit Hilfe von Journalisten wie Glenn Greenwald und Laura Poitras sowie des englischen Medienunternehmens The Guardian die internationale Öffentlichkeit auf. Eine generelle Diskussion der technologischen und kapitalistischen Praktiken fand jedoch nicht statt.

»Stand am Anfang der bürgerlichen Ära die Erfindung der Druckerpresse, so wäre bald deren Widerruf durch Mimeographie fällig, das allein angemessene, das unauffällige Mittel der Verbreitung.«
Theodor W. Adorno, Minima Moralia

 

I.

  Die globale Überwachung: Der Fall Snowden, die amerikanischen Geheimdienste und die Folgen.


Glenn Greenwald. No Place to Hide: Edward Snowden, the NSA and the Surveillance State. London: Hamish Hamilton, 2014. 272 Seiten, # 13,60. E-Book (Kindle) € 10,62.
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Glenn Greenwald. Die globale Überwachung: Der Fall Snowden, die amerikanischen Geheimdienste und die Folgen. Übersetzt von Gabriele Gockel, Robert Weiß, Thomas Wollermann und Maria Zyback, München: Droemer, 2014. 366 Seiten. Hardcover € 19,99, E-Book € 17,99.
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Luke Harding. The Snowden Files: The Inside Story of the World's Most Wanted Man. London: Faber and Faber, 2014. 352 Seiten, # 12,99, E-Book (Kindle) € 5,46.
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Die Überwacher: Prism, Google, Whistleblower. Redaktion: Dorothee d’Aprile et. al. Berlin: Edition Le Monde diplomatique, 2014. 112 Seiten, € 8,50.
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Tom Engelhardt. Shadow Government: Surveillance, Secret Wars, and a Global Security State in a Single-Superpower World. Chicago: Haymarket Books, 2014. 180 Seiten, $ 15,95.
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P. W. Singer und Allan Friedman. Cybersecurity and Cyberwar: What Everyone Needs to Know. New York: Oxford University Press, 2014. 306 Seiten. Hardcover $ 74,95, Paperback $ 16,99.
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Thomas Pynchon: Bleeding Edge. New York: Penguin Press, 2013. 482 Seiten. Hardcover $ 28,95, Paperback $ 17,00, E-Book $ 9,99.
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Thomas Pynchon: Bleeding Edge. Übersetzt von Dirk van Gunsteren. Reinbek: Rowohlt, 2014. 608 Seiten. Hardcover € 29,95. E-Book € 25,99.
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Dave Eggers. The Circle. London: Vintage Books 2014. 512 Seiten. Paperback # 8,99, E-Book # 4,99.
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Dave Eggers. Der Circle. Übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2014. 560 Seiten. Hardcover € 22,99, E-Book € 19,99.
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Monthly Review: Surveillance Capitalism. Band 66, Nr. 3, Juli-August 2014. Hg. John Bellamy Foster. 162 Seiten, $ 14.
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Zu Beginn der gloriosen »Sixties« entdeckte der kanadische Literaturwissenschaftler Marshall McLuhan die Medien im weiteren Sinne (von der Straße und dem Rad über Kleidung und Behausung bis hin zu Zeitung, Radio und Kino) in einem »neuen elektrischen Zeitalter« als Erweiterungen des Menschen. Getragen vom optimistischen Zeitgeist jener Jahre schwärmte McLuhan vom kontinuierlichen Prozess der Transformation und der »Cybernation«, womit er eine computergesteuerte Prozessautomatisierung beschrieb. In seiner Vision entstand ein globales, vom ständigen Fluss elektrischer Ströme durchflutetes Netzwerk, in dem die Individuen von den Mühsalen des zurückliegenden industriellen Maschinenzeitalters befreit wären und ihre zentralen Nervensysteme erweiterten, um permanent und global all ihre menschlichen Erfahrungen miteinander zu vernetzen. Dystopische Einwände ließ McLuhan nicht gelten. »Panik über die Automatisierung als eine Gefahr der Uniformität im Weltmaßstab«, schlussfolgerte er, »ist eine in die Zukunft gerichtete Projektion der mechanischen Standardisierung und Spezialisierung, die jetzt Vergangenheit sind.«1

Mittlerweile sind jedoch »die wilden Broncos der technologischen Kultur«2 (die McLuhan bewundernd anblickte) in einer globalen Stampede durchgegangen und nur noch schwer wieder in den Zaum zu bekommen. Evangelisten des »neuen digitalen Zeitalters« wie die Google-Führungskader Eric Schmidt und Jared Cohen beschwören das globale Netzwerk namens Internet als das größte Experiment in der Geschichte, das die Anarchie in sich berge. Zugleich aber ist die Menschheit von diesem grandiosen Unterfangen überfordert. »Das Internet gehört zu wenigen Dingen«, schreiben Schmidt und Cohen, »die Individuen konstruiert haben, die sie nicht wirklich verstanden haben.«3 Glücklicherweise gibt es die Elite der Digerati, welche innerhalb des globalen Netzwerkes moderne Technologieplattformen erschaffen und die intellektuellen Weiten des Internets erschlossen hat. Konzerne wie Google, Facebook, Amazon und Apple haben sich – so liest es sich im Katechismus der schönen neuen Cyberwelt – in den Dienst der Menschheit gestellt, um ihr ein glückliches und zufriedenes Dasein in den weltumspannenden sozialen Netzwerken zu verschaffen. Zwar könnten die neuen Technologien auch von bösen Menschen in kriminellen oder terroristischen Organisationen für ihre destruktiven und totalitären Ziele genutzt werden, doch zugleich machten diese Technologien sie verwundbarer und anfälliger für Gegenangriffe, so dass sie ihr gewalttätiges Geschäft nicht einfacher, sondern realiter schwieriger betreiben könnten.

Diese Anfälligkeit und Verwundbarkeit der digitalen Technologien sind jedoch nicht allein auf Kriminelle und Terroristen beschränkt. Wie die Enthüllungen des ehemaligen Geheimdienstmitarbeiters Edward Snowden belegen, ist im Zusammenspiel von staatlichen und privatkapitalistischen Agenturen jeder Computernutzer verdächtig und das Ziel von Angriffen. Bereits zuvor war bekannt, dass es zwischen dem nationalen Sicherheitsstaat der USA und den großen Internet-Firmen eine enge Zusammenarbeit gab. In seinem Buch Digital Disconnect wies der Medienwissenschaftler Robert McChesney darauf hin, dass im Jahre 2001 der Geheimdienst NSA (National Security Agency) mit illegalen Abhöraktionen zahlreiche US-Bürger überwachte, wobei sie von Telekommunikationsfirmen wie AT & T und Verizon unterstützt wurde.4 Die vielfach verbreitete Auffassung, die Internet-Technologien trügen zur Emanzipation der Individuen und zur Demokratisierung des politischen Diskurses bei, unterschlägt jedoch, dass dem Internet von Beginn an Herrschaftsmechanismen implementiert sind. Technologie ist, konstatierte Herbert Marcuse bereits 1941 in einem noch immer aktuellen Essay, »ein Ausdruck herrschender Denk- und Verhaltensweisen, ein Mittel der Kontrolle und Herrschaft«5, wobei die technologische Rationalität nicht allein Prozesse der Standardisierung, Zweckmäßigkeit und Effizienz hinsichtlich der Ressourcen steuert, sondern auch die Individuen in Anhängsel der Maschinerie verwandelt. Schon zu Beginn des letzten Jahrhunderts hatte Thorstein Veblen bemerkt, dass der Maschinenprozess den Arbeiter anwendet: Nicht das Individuum beherrsche die Maschine, sondern es ordne sich und seine Intelligenz ihr unter.6 In einer Zeit, da Individuen zu »Usern« und »Anwendern« mutiert sind, hat diese Subordination jede gesellschaftliche Zelle durchdrungen. »Rationalität wurde von einer kritischen Kraft in eine Kraft der Anpassung und Willfährigkeit verwandelt«7, konstatierte Marcuse. Die Internet-Technologien bieten Kommunikation und Vernetzung als emanzipatorisches Versprechen, forcieren aber zugleich die Servilität der Individuen im globalisierten technischen Raum, wo alles einer herrschaftsorientierten Rationalität unterworfen ist. Die staatlichen Überwachungsagenturen agieren in diesem Terrain, wo jeder Tastendruck registriert und aufgezeichnet wird, wie bürokratische Klone der Spontis aus der bleiernen Zeit in einer umgestülpten Form des Operaismus mit dem Credo: »Wir wollen alles«. Dass Technologien, ungeachtet ihres Einsatzes, neutral seien und grundlegend emanzipatorisch wirkten, ist illusionär. Zugleich ist in einem ubiquitären technologischen Herrschaftsraum die Privatheit antiquiert. Die menschliche Existenz ist nicht allein durch die »Belieferung« von Waren jeglicher Art gekennzeichnet, stellte Günter Anders 1958 fest, sondern auch durch die »Auslieferung des Menschen an die Welt«.8

II.

In seinem Buch über die Enthüllungen Edward Snowdens und die Praktiken der NSA No Place to Hide (dt. Die globale Überwachung) hält auch Glenn Greenwald an der Idee fest, das Internet sei ein »beispielloses Instrument der Demokratisierung und Liberalisierung, ja sogar der Emanzipation«. Da es in seinen Augen das »Epizentrum unserer Welt« geworden ist, erscheint ihm seine Verwandlung in ein Überwachungssystem umso verheerender.9 Greenwald, 1967 in New York geboren und in Florida aufgewachsen, argumentiert aus der Position des journalistischen Außenseiters: Nach einer Karriere als Anwalt verlegte er sich auf das Bloggen und erwarb sich die Reputation, dem First Amendment (dem ersten Zusatzartikel der US-amerikanischen Verfassung, der eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit verbietet) ein Gesicht zu verleihen.10 Noch ehe er 2012 zur britischen Tageszeitung The Guardian wechselte, betätigte er sich als Kritiker der US-amerikanischen Regierung, die nach den Anschlägen am 11. September 2001 zunehmend die Bürgerrechte aushöhlte. In seinen Positionen ist er ideologisch nicht festgelegt: Seine Artikel erschienen sowohl in liberalen Tageszeitungen wie New York Times und Los Angeles Times, in dem »progressiven« Web-Magazin Salon.com, der linken Wochenzeitung In These Times als auch in konservativen Medien wie The American Conservative und The National Interest. Angetrieben wird Greenwald von dem Credo »Privatheit ist eine Grundbedingung dafür, ein freier Mensch zu sein«11. Der Kampf für die Aufrechtrechterhaltung des Privaten ist in seinen Augen die historische Triebkraft zwischen staatlichen Agenturen und individueller Privatsphäre als Schutzraum, wobei ihn ökonomische und politische Faktoren außerhalb dieser Arena kaum oder gar nicht interessieren.

Das Buch ist eine Mischung aus Spionage-Thriller, Präsentation und Analyse der verschiedenen NSA-Spionageprogramme, illustriert mit zahlreichen Screenshots, und einer Kritik der Medienpraxis in den USA. Im ersten Teil beschreibt Greenwald die von Edward Snowden initiierte Kontaktaufnahme und das konspirative Treffen in einem Hotel in Hongkong, an dem auch die Filmemacherin Laura Poitras und der Guardian-Journalist Ewen MacAskill (den der Guardian-Konzern als eine Art Aufpasser für die beiden individualistischen Einzelkämpfer Greenwald und Poitras in das Unternehmen geschleust hatte) teilnahmen. Zunächst ging es darum, die Glaubwürdigkeit Snowdens in längeren Interviews zu verifizieren. Anschließend bestand die Aufgabe darin, die großen Dokumentenmengen zu sichten, den Geheimdienstcode zu entschlüsseln und Verbindungen zwischen einzelnen Dokumenten herzustellen, um das Ausmaß der Überwachung durch die einzelnen NSA-Programme wie Boundless Informant und Prism in kondensierter Form von Artikeln darstellen zu können.

In Greenwalds Erzählung erscheint Snowden als heroischer, fast schon messianischer Nerd, der sich am Ende für Freiheit und Humanität opfert. Obwohl Snowden als High-School-Dropout und frühzeitig entlassener Soldat nicht unbedingt die Voraussetzungen für eine Karriere als Systemadministrator in einem Geheimdienst mitbrachte, erwarb er sich auf Grund seiner technischen Intelligenz und seiner rationalen und methodischen Arbeitsweise innerhalb der CIA, für die er ab 2005 arbeitete, Meriten. Auch bei seinem nächsten Arbeitgeber Booz Allen Hamilton, einer Technologieberatungsfirma der US-Regierung, fiel es ihm nicht schwer, Zugang zu Massen von Geheimdokumenten zu bekommen. Nachdem er jahrelang ein Mitläufer und Mittäter des Systems gewesen war, schien er wie ein postmoderner Rip van Winkle aus einem Zauberschlaf zu erwachen und stellte fest, dass US-amerikanische und englische Geheimdienste mit ihrer globalen Überwachung im Begriff waren, die Privatheit zu zertrümmern. »In einer Welt ohne Privatsphäre und ohne Freiheit«, zitiert ihn Greenwald, »in der die einzigartigen Möglichkeiten des Internets ausgelöscht werden, möchte ich nicht leben.«12

Weder Greenwald noch Snowden stellen die Notwendigkeit von Geheimdienstarbeit per se in Frage, auch wenn ihnen ihre Gegner in den USA unterstellen, sie seien radikale Vaterlandsverräter. Wie Conor Friedersdorf im liberalen Magazin The Atlantic richtig konstatierte, bewegt sich Greenwalds Kritik der US-Geheimdienste im Kontext traditioneller US-amerikanischer Werte und Normen, während die Überwachungsorgane längst darüber hinausgegangen sind.13 Sowohl Greenwald als auch Snowden sind in einer konservativen Tradition verwurzelt, die gegen die bürokratische Drangsalierung der Individuen einen rebellischen Geist mobilisiert. Im Zentrum der Kritik stehen die Folgen der staatlichen Kontrollen für das Individuum. Die Massenüberwachung geht nach Meinung Greenwalds über das bloße Sammeln von Informationen hinaus: Sie bewirke auf lange Sicht eine Veränderung des Verhaltens, die in Selbstzensur und Konformismus münde. Die Aushebelung der individuellen Sicherheit durch Verschlüsselung (das Open-Source-Projekt für Online-Anonymisierung TOR wird zu einem großen Teil durch die US-Regierung finanziert, und Microsofts Verschlüsselungssoftware BitLocker ist durch die NSA-Infiltration Makulatur) hat die in der globalen Totalität vernetzten digitalen Geräte für neue Angriffsmöglichkeiten geöffnet: In Hard- und Software befinden sich Lücken, Hintertüren, bei Bedarf aktivierbare »Schläfer« und bewusst implementierte Schwachstellen, die im geschlossenen System der Überwachung die instrumentalisierte Kommunikation zwischen isolierten Schnittstellen im globalen Netz bestimmen. Zudem bietet die geheimdienstliche Aushöhlung der technologischen Architekturen den Tätern neue Beratungsmöglichkeiten im Privatsektor. So vergoldete sich etwa der ausgeschiedene NSA-Direktor Keith Alexander sein Insider-Wissen in der Privatwirtschaft.14

Parallel dazu verläuft Greenwalds Kritik der Establishment-Medien, zu denen er in erster Linie die Tageszeitungen New York Times und Washington Post zählt. In der Tradition eines Muckrakers wirft er ihnen eine mangelnde Distanz zu den politischen Eliten vor und sieht eine »zerstörerische Dynamik des etablierten Journalismus«15 am Werke, ohne die kapitalistischen Verwertungsprozesse der Medienindustrie auch nur am Rande wahrzunehmen. Stattdessen schwelgt er in einer rückwärtsgewandten Outsider-Romantik. »Früher galten echte Journalisten als die Außenseiter schlechthin«, beschwört Greenwald das nostalgische Bild des aufrechten Muckrakers. »Viele, die diesen Beruf ergriffen, wollten sich eher den Mächtigen widersetzen als ihne dienen, und nicht nur auf theoretischer Ebene, sondern auch mit ihrer ganzen Person. Die Wahl des Journalistenberufs war praktisch eine Garantie dafür, das Dasein eines Außenseiters zu führen: Reporter verdienten wenig, hatten kein hohes gesellschaftliches Ansehen und galten meist als zwielichtig.«16 Damit rekurriert Greenwald auf ein idealisiertes Bild des Journalisten aus der Vergangenheit, das nur in seltenen Fällen der historischen Realität entsprach. Der Journalist als Symbiose aus Autor und Aktivist tauchte in der historischen Arena zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf, beispielsweise in historischen Figuren wie Carlo Tresca, der als Immigrant aus Italien für sozialistische und anarchistische Zeitungen schrieb und zugleich gegen die US-amerikanischen Klassenverhältnisse agitierte, für seine Überzeugungen mehrfach ins Gefängnis ging und schließlich seinen Widerstand gegen den Faschismus mit dem Leben bezahlte.17

Als Blogger fühlt sich Greenwald von der herrschenden Schicht der journalistischen Stände ausgegrenzt, wobei er nicht die herrschende Medienpraxis kritisiert, sondern sich auf einzelne Medienunternehmen wie die New York Times oder die Washington Post fokussiert. Dass Journalismus realiter ein Geschäft und Bestandteil des hegemonischen Prozesses innerhalb der herrschenden Formationen ist, blendet Greenwald aus. Die Geschichte der Medien beinhaltete auch immer, wie James Curran ausführte, die Aufrechterhaltung sozialer Herrschaft und die Delegitimierung von Protest, Subversion und Widerstand.18 Als Agenturen sozialer Kontrolle ächten etablierte Medien Blogger als Amateure, denen es an Qualität und Professionalität mangele, wobei im Hintergrund auch die kapitalistische Grundierung wirkt. Indem sich Greenwald auf eine moralische Position des Journalisten als Muckraker kapriziert, nimmt er die herrschende Medienpraxis als eine persönliche Beleidigung und eine seine persönliche Eitelkeit verletzende Herabsetzung wahr. Eine politische Strategie vermag er dieser Praxis außer Appellationen an die moralische Integrität nichts entgegenzusetzen. »Die Fähigkeit des Menschen zu fördern, selbst nachzudenken und Entscheidungen zu treffen – das ist der Sinn von Whistleblowing, von Protest, von politischem Journalismus«, lautet die Schlussfolgerung am Ende seines Buches. »Und genau dies geschieht gerade, dank der Enthüllungen, die wir Edward Snowden zu verdanken haben.«19

Als Korrektiv zu Greenwalds stark persönlich geprägter Interpretation der Geschichte der Snowden-Enthüllungen und ihrer politischen wie medialen Kontexte bietet sich Luke Hardings Buch The Snowden Files an. Anders als der individualistische Einzelkämpfer Greenwald betrachtet der Guardian-Journalist Harding die Snowden-Geschichte aus dem Blickwinkel seiner Organisation, einen kritischen, linksliberalen Medienunternehmens, das dem Informanten Snowden zwar mit Empathie begegnet, ihn aber nicht als Whistleblower heroisiert. Anders als Greenwald zeichnet Harding Snowdens Entwicklung vom jungen Nerd zum prominenten Whistleblower kritisch nach. Im Jahre 2007 trat er unter dem Codenamen »TheTrueHOOHA« auf dem Technologieportal Ars Technica in Erscheinung, wo er sich neben typischen Nerd-Themen auch zu politischen und sozialen Fragen äußerte. So schwadronierte er über den »Sozialhilfescheiß«, lobte seine 83-jährige Großmutter, die sich noch immer ihren Lebensunterhalt als Friseurin verdiente, und war der Meinung, dass die US-amerikanische Gesellschaft Hunderte von Jahren gut ohne die Sozialstaatsgesetzgebung ausgekommen sei. Im Wahlkampf unterstützte er den konservativen Republikaner Ron Paul, der als Repräsentant des »Paläolibertarismus« jegliche Intervention des Staates ablehnt und für den der Sozialstaat ein Instrument des »organisierten Diebstahls« ist. Noch jüngst bezeichnete sich Snowden in einem Interview mit dem New Yorker Wochenmagazin The Nation als »Hyper-Konservativer« und »Erzlibertärer«. 2009 stellte er sich vehement gegen die »Whistleblower« und meinte, man müsse ihnen »in die Eier schießen«.20

Harding beschreibt Snowden als Produkt einer von technologischer Rationalität bestimmten »Nerd-Kultur«, in der sich linke und rechte Komponenten vermischen und eine Déformation professionelle vorherrscht. Zu Beginn seiner Karriere ist Snowden restlos in die Maschinerie des herrschenden Systems integriert. Ganz im Sinne des stumpfsinnigen Technikers in William Burroughs‘ Nova-Trilogie ist er auf die Funktionsfähigkeit der Nachrichtendienstmaschine fixiert: »I dunno me. Only work here.«21 Er ist ein Mitläufer, der die Möglichkeiten der globalen Überwachung in die alltägliche Praxis umsetzt, ehe er sich bewusst wird, dass er die Instrumente zur absoluten Zerstörung der Privatheit schafft. Dagegen sieht Harding in Greenwald, der Snowden die Kanäle der Öffentlichkeit öffnete, weniger als Journalist denn als Pamphletist in der Tradition Jonathan Swifts und Thomas Paines, der moderne Technologien wie Blogging und Twittering benutzt, um durch Zuspitzung auf Missstände hinzuweisen. Anders als Greenwald, der sich durch keine kritische Selbstreflexion ablenken lässt, nimmt Harding negative Veränderungen der eigenen Arbeitspraxis wahr. In der Vermarktung des »Snowden-Scoops« operierte der Guardian zunehmend selbst als Nachrichtendienst – mit Methoden der Geheimhaltung, operierenden Zellen und verschlüsselten Informationen: Jede Information war »so fest kontrolliert wie in einer leninistischen Zelle«. Es ist eine bittere Ironie, dass der Preis für eine demokratische Aufklärung mit der Angleichung an die autoritären Organisationen bezahlt wurde, deren geheimdienstliche Praktiken die Journalisten enthüllen wollten. Auch wenn Harding diesen Gedanken nicht weiter vertieft, ist dies dennoch eine bemerkenswerte Selbstreflexion, die vielen anderen Abhandlungen zu diesem Thema fehlt, die oft über die monochrome Dichotomie der Guten gegen die Bösen nicht hinauskommen.

III.

Ungeachtet der großen Aufmerksamkeit, die Edward Snowdens Enthüllungen im öffentlichen Diskurs nach sich zogen, halten sich politische Konsequenzen in einem engen Rahmen: An der geheimdienstlichen Praxis änderte sich bislang wenig oder nichts. Trotz des plötzlichen Status Snowdens als Zelebrität im internationalen Medienbetrieb (beispielsweise stilisierte ihn das Nerd-Magazin Wired in einer mit großformatigen grobkörnigen Schwarzweissbildern gespickten Reportage des bekannten NSA-Kritikers James Bamford zum »gesuchtesten Mann in der Welt«22) und der Heroisierung der Whistleblower sind die Individuen in den Auseinandersetzungen mit den Apparaten, Organisationen und Rackets weiterhin ohnmächtig, während Nachrichtendienste ihre Geschäfte wie bisher betreiben. »Die Zelebritäten sind Die Namen, die keiner weiteren Identifizierung bedürfen«23, konstatierte C. Wright Mills. Edward Snowden ist der Whistleblower als Popstar, der den Medienbetrieb für einen begrenzten Zeitraum mit spektakulärem Material belieferte, wobei die Zelebrität im gleißenden Scheinwerferlicht nicht nur auf das Spektakel der Enthüllung reduziert wird, sondern die gewaltsame Rückverweisung auf das Immergleiche erfährt. Das Individuum Snowden schrumpft dabei zur Projektionsfigur des Whistleblowers: Je allumfassender die technisch rationalisierte Herrschaft geworden ist, um so öfter wird die Legende des kleinen Däumlings kolportiert, der sich eines übermächtigen Gegners erwehrt. In Zeiten, da jedes System über Backdoor-Technologien verwundbar ist, wird Snowden als Experte präsentiert, der den Internet-Nutzern Ratschläge zum Schutz ihrer Privatsphäre erteilt, als ließe sich damit das Problem in den Griff bekommen. Vor allem im »Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten« (wie Ulrich Sonnemann einst die Bundesrepublik Deutschland nannte) nimmt die Verklärung Snowdens fast schon irrationale Züge an: »Edward Snowden ist bei uns«, rief der Laudator bei der Verleihung des Stuttgarter Friedenspreises an den Whistleblower aus, als könnten die Versammelten eine besondere Kraft aus diesem behaupteten Beistand schöpfen.24

Auch die von Dorothee d’Aprile redigierte Anthologie Die Überwacher, die Artikel aus der Zeitschrift Le Monde diplomatique aus den Jahren zwischen 2001 und 2014 versammelt, verschreibt sich partiell der Heroisierung des Whistleblowers als selbstlosen Kämpfer für das Gemeinwohl, während von seiner schuldhaften Verstrickung in Machenschaften der Apparate der Herrschaft abstrahiert wird. Gleichfalls ist die Outlaw-Romantisierung von »Guerilleros« wie Anonymous fragwürdig, die sich zwar als »anarchistisch« etikettieren, realiter sich jedoch nicht anders als die übrigen Dunkelmänner-Rackets verhalten, denen es in erster Linie um den größtmöglichen Anteil an der Beute geht.

Dennoch gelingt es dieser Anthologie mit einem breit gefächerten Spektrum von Berichten, Reportagen und Analysen, eine nuancierte Geschichte des Sicherheitsstaates vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart nicht nur in Europa und den USA, sondern auch in Ländern wie China und Iran zu skizzieren. Neben Beiträgen zur geheimdienstlichen Praxis der NSA, die sich im Kontext der Enthüllungen Edward Snowdens bewegen, finden sich in dem Band auch über die momentane Aktualität hinausgehende Texte. David Price gibt einen historischen Abriss zur Abhörpraxis in den USA und unterstreicht, dass die »schleichende Enteignung der Privatsphäre« nicht erst nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001 begann, sondern schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts fester Bestandteil der geheimdienstlichen Tätigkeit war. In seinem Beitrag »Software, die zur Waffe wird« beschreibt Dietmar Kammerer die internationalen Geschäfte mit Überwachungstechnologien, die jährlich einen Umsatz von etwa fünf Milliarden Dollar erwirtschaften. Privatunternehmen profitieren von den kontinuierlichen Aufstockungen der Sicherheitsetats und bieten globale Sicherheitsdienste an. »Das Angebot und die Nachfrage an Techniken der Überwachung ergeben in der Summe immer ein glänzendes Geschäft für alle Beteiligten«, resümiert Kammerer. »Nur nicht für die Demokratie und ihre Bürger.«25 Interessant ist, dass Kammerer in seiner Diskussion einem manichäischen Topos folgt: Auf der einen Seite stehen die Demokratie und ihre Bürger, während die Geschäfte der Überwachung die »Anderen« betreiben, die nicht zur »Demokratie« und ihren Bürgern zählen, wohl aber von ihnen finanziert werden.

Leider gibt es in dem sonst weitgehend jargonfreien Band auch Beiträge, die hemmungslos dem Digispeak zur Verklärung der Realität frönen. In seinem Beitrag »Der Wert der Daten« behauptet Felix Stalder, Professor für digitale Kultur an der Zürcher Hochschule der Künste, die »Internetrevolution« sei in den 1990er Jahren »angetreten«, um »durch Dezentralisierung, Kooperation und Transparenz neue Möglichkeiten individueller und kollektiver Autonomie zu schaffen«. Kapitalistische Verwertungs- und Profitinteressen existieren in diesem utopischen »Outer Space« einer imaginierten digitalen Kultur nicht. In seinem akademisch-technologischen Paralleluniversum schwärmt Stalder von den »neuen Technologien«, die es ermöglichten, »horizontale, dezentrale, offene und transparente Kommunikationsformen in einem noch nie dagewesenen Umfang zu realisieren«.26 In solchen Beiträgen lebt sich die Beliebigkeit dieses Bandes aus: Immer wieder werden die angeblichen kulturrevolutionären Impulse der »Internetrevolution« der 1990er Jahre beschworen, während die realen Bedingungen der historischen Entwicklungen im wabernden Nebel der Nerdokratie, in der technische Apparate und ihre Produzenten die Herrschaft übernehmen. Angriffsziel dabei ist auch die Sprache. »Das Racket kennt kein Erbarmen mit dem Leben außer ihm, einzig das Gesetz der Selbsterhaltung«, notierte Max Horkheimer in den 1940er Jahren. »Unterm Monopol erstarrt die Sprache zu einem Zeichensystem, stummer und ausdrucksloser als Morsezeichen und Klopfsysteme von Gefangenen.«27 Wenn eine umfassende Kritik des Sicherheits- und Überwachungsstaats formuliert werden soll, sind Texte, welche in einer postmodernen Version des Jargons der Eigentlichkeit die technologisch determinierte Kommunikation zur Utopie aufblähen, fehl am Platz. In der ornamentalen Sprache der Digiterati artikulieren sich »die subalterne Wichtigtuerei des Jargons«28 (wie Theodor W. Adorno es nannte) und die Abgestumpftheit gegenüber der historischen Realität wie der sprachlichen Genauigkeit. Eine empathische Sensibilität für eine Sprache der Kritik vermag die Anthologie aus den unterschiedlichen Produktionsformen journalistischer Praxis nicht zu entwickeln.

Von diesen Unzulänglichkeiten abgesehen richtet der Band jedoch auch einen Blick über das libertäre Lamento hinaus, das stets nur die Dichotomie von Individuum und Überwachungsstaat beschwört. So beschreibt Christian Jakob, wie die »Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen« (die unter dem Namen »Frontex« bekannter ist) Drohnen und Radar zur Abwehr unerwünschter Flüchtlinge in Stellung bringt. Ähnlich verfahren die US-amerikanischen Behörden in Arizona, die ihre Grenzen mit einem Arsenal von Überwachungstechnologien gegen Immigranten aus Lateinamerika abschotten, wie Todd Miller in seiner Reportage »Testgebiet Arizona« ausführt.

Diesen Aspekt des globalen Sicherheitsstaates – den unkontrollierten Einsatz von Überwachungs- und Militärtechnologien in der Kriegführung gegen Terroristen wie Immigranten – beleuchtet der Publizist Tom Engelhardt detailliert in seinem Buch Shadow Government. Die Texte dieses Buches wurden zuerst in der Zeit zwischen 2011 und 2014 auf seiner Web-Site TomDispatch.com, die in der US-amerikanischen Tradition von journalistischen radikaldemokratischen Ein-Mann-Unternehmen wie I. F. Stone’s Weekly oder Dwight Macdonalds Politics steht. Engelhardt sieht in dem zunehmenden verdeckten Einsatz von Geheimdienstaktivitäten und Computer-gesteuerten Angriffen und Attentaten eine Gefahr für die Demokratie: Jenseits jeglicher Legitimation habe sich eine »schattenhafte«, »unsichtbare« Regierung herausgebildet, die nach Herrschaft in einer zukünftigen Cyber-Landschaft strebe. Unter dem Vorwand, Terroristen zu bekämpfen, würden Drohnenoperationen gegen bloße Verdächtige ausgeführt, wie etwa gegen eine Hochzeitsgesellschaft im West-Irak, wobei auch kulturelle Ignoranz eine nicht unbeträchtliche Rolle spielt. »Wie viele Menschen gehen in die Mitte einer Wüste, um eine Hochzeit 80 Meilen vom nächsten Ort der Zivilisation zu veranstalten?«, fragte ein US-amerikanischer General verständnislos, für den diese Hochzeitsgesellschaft in der Wüste ein verdächtiges Ziel war.29

Ähnlich wie Dwight Macdonald zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges kritisiert Engelhardt die Dehumanisierung des Krieges, in der Menschen zum bloßen Werkzeug destruktiver und vernichtender Technologien degradiert werden.30 In seinen Augen hat sich die US-Armee mit ihrer Professionalisierung seit der Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht und der zunehmenden Privatisierung der verschiedenen Kriegsunternehmen seit der Jahrtausendwende von der US-amerikanischen Gesellschaft in ein Paralleluniversum verabschiedet. Während der Präsident bei sozialen und ökonomischen Problemen kaum noch Handlungsspielraum besitze, argumentiert Engelhardt, könne er in Kriegsfragen ungehindert eine Schattenarmee von Drohnen und anderen technologischen Kriegern befehligen und dirigieren.

Trotz der düsteren Aussichten in Zeiten globaler Kriege und Überwachung sieht Engelhardt in seinem unerschütterlichen Glauben an Demokratie und Aufklärung ein goldenes Zeitalter des Journalismus herannahen, denn nicht nur die Geheimdienste könnten mittels der Internettechnologien jeden Bürger ausspähen, sondern auch Journalisten hätten heute weitaus größere Möglichkeiten, Aufklärung zu betreiben und Menschen zu erreichen als zu Zeiten der kleinen Zeitschriften und Untergrundmagazine, die stets nur kleine Minderheiten erreichten. Über soziale Medien wie Facebook oder Twitter, auch wenn sie zuvörderst kapitalistischen Interessen dienten, könnten Journalisten eine breit gestreute Öffentlichkeit erreichen und Veränderungen in den politischen Prozessen initiieren. Heute sei, resümiert er, ein »goldenes Zeitalter des Lesers«, der an viele Informationen komme, die früher verborgen blieben.31 Zweifelsohne bieten die Internettechnologien und sozialen Medien Möglichkeiten zur größeren und schnelleren Verbreitung von Informationen und Nachrichten, als es in früheren Zeiten der Fall war, aber dennoch haftet diesem journalistischen Optimismus etwas Fragwürdiges an, da er die herrschaftliche Durchdringung der Medientechnologien nicht reflektiert. Wie P. W. Singer und Allan Friedman in ihrem Buch Cybersecurity and Cyberwar richtig herausstellen, enthält die durch technologische Rationalität dominierte »Cyber-Öffentlichkeit« zahlreiche technisch bedingte Schwachstellen, die von diversen Interessengruppen und Organisationen für ihre Zwecke und Ziele ausgenutzt werden können. Computer und Smartphones können über Phishing, Wurminfektionen, Viren, Trojaner und Malware gesteuert werden; Peripheriegeräte wie CD-Laufwerke und USB-Speichermedien bilden Einfallstore für Angriffe; den Nutzern der digitalen Technologien fehlt oft das Wissen über die Zusammenhänge oder sie sind durch die Technik überfordert. Auf der anderen Seite operieren staatliche, kriminelle oder pseudo-anarchische Truppen, die das System Internet für sich instrumentalisieren.

Die Vorschläge der Autoren, wie letztendlich der »Cyber-Behemoth« unter Kontrolle zu bringen wäre, bleiben vage. Eine Organisation analog zur Weltgesundheitsorganisation könnte, regen sie an, zuständig für die Aufrechterhaltung der Cyber-Sicherheit als ein Gebiet der »öffentlichen Gesundheit« sein, wobei bei der Etablierung einer solchen Organisation schon hohe politische und bürokratische Schranken zu überwinden wären. Eine andere Möglichkeit wäre eine internationale Organisation nach dem Vorbild des Haager Tribunals, die eine »Cyber-Regierung« unter dem Dach der Vereinten Nationen darstellen würde. Aber auch dieses multilaterale Projekt wäre gegen machtpolitische, ökonomische und staatliche Partikularinteressen kaum durchzusetzen. So propagieren die Autoren nur die eigenverantwortliche Lösung: Jeder sei für seinen Computer verantwortlich, und die Risiken ließen sich nicht ausschalten, sondern nur verwalten. So ist letztlich der Einzelne wie der gestrandete Robinson ein auf sich selbst verwiesenes Individuum, ohne dass er jedoch seine produktive Kraft zur Gestaltung einsetzen kann. Er wird – mit den Worten Max Horkheimers – »völlig fremd gegenüber der vergegenständlichten Welt, von der er lediglich ein Teilchen produziert und darstellt«.32

IV.

In der US-amerikanischen Politik herrschte seit je – wie der Historiker Richard Hofstadter in den 1960er Jahren unterstrich – ein »paranoider Stil«, wobei sich dies sowohl im linken wie im rechten Spektrum über die Jahrhunderte ausprägte. Durch beide Gruppierungen strömte ein Gefühl der Selbstgerechtigkeit und moralischer Empörung, wobei bei den einzelnen Individuen stets der Eindruck dominierte, das Opfer einer Verfolgung oder Verschwörung dunkler Mächte zu sein. Für die politischen Paranoiker jeglicher Couleur gibt es keine eigene Verstrickung in den Schuldzusammenhang; vielmehr sind immerzu die anderen die Hölle.33 Diese kritische Perspektive kehrte der liberale Harvard-Historiker und Intimus der Clinton-Familie Sean Wilentz gegen Kritiker der US-amerikanischen Überwachungspolitik wie Edward Snowden, Glenn Greenwald und Julian Assange, denen er einen »paranoiden Libertarismus« gegenüber den staatlichen Organen vorwarf und ihre Glaubwürdigkeit in Frage stellte.34 Die Perfidie der Argumentation Wilentz', die in linken Zeitschriften wie Counterpunch und Jacobin harsche Reaktionen hervorrief35, ist es, dass er den Kritikern des staatlichen Überwachungswahns eine wahnhafte Wahrnehmung der Realität unterstellte, während die realen Täter aus Politik und Militär in einem rationalen System des unbedingten Realismus zu agieren schienen. In Wilentz' Szenario nimmt Greenwald die Rolle eines Caligari ein, der im verzerrten Wahnsystem sein Medium Cesare, das nun den Namen Edward Snowden trägt, durch die von Monstrositäten erfüllten Kulissen dirigiert und die Welt in Tyrannei und Chaos stürzt.36 Das Wahnsystem des nationalen Sicherheitsstaates (wie Tom Engelhardt das Phänomen beschreibt) erscheint dem Historiker Wilentz dagegen in keiner Weise kritikbedürftig: Die Verrückten sind immer die anderen. »Nur Verfolgungswahnsinnige«, heißt es in der Dialektik der Aufklärung, »lassen sich die Verfolgung, in welche Herrschaft übergehen muß, gefallen, indem sie andere verfolgen dürfen.«37 So schlägt Herrschaft in ihrer fixen Idee in blanke Gewalt um, der alles unterworfen wird.


Anmerkungen

 

1 Marshall McLuhan, Understanding Media: The Extensions of Man (1964; rpt. Berkeley: Gingko Press, 2013), Kindle-Ausgabe

 

2 Marshall McLuhan, zitiert in: W. Terrence Gordon, »McLuhan’s Compass for the Voyage to a World of Electric Words«, in: McLuhan, The Gutenberg Galaxy: The Making of Typographic Man (Toronto: University of Toronto Press, 2011), Kindle-Ausgabe

 

3 Eric Schmidt und Jared Cohen, The New Digital Age: Reshaping the Future of People, Nations and Business (London: John Murray, 2013), Kindle-Ausgabe

 

4 Robert W. McChesney, Digital Disconnect: How Capitalism is Turning the Internet Against Democracy (New York: New Press, 2013), Kindle-Ausgabe

 

5 Herbert Marcuse, »Einige gesellschaftliche Folgen moderner Technologie« (1941), in: Marcuse, Schriften, Band 3 (Springe: zu Klampen, 2004), S. 286

 

6 Thorstein Veblen, The Instinct of Workmanship and the State of Industrial Arts (1914; rpt. o. O.: Read Books, 2011), Kindle-Ausgabe

 

7 Marcuse, »Einige gesellschaftliche Folgen moderner Technologie«, S. 297

 

8 Günter Anders, Die Antiquiertheit des Menschen 2: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution (München: C. H. Beck, 1980), S. 210

 

9 Glenn Greenwald, Die globale Überwachung: Der Fall Snowden, die amerikanischen Geheimdienste und die Folgen (München: Droemer, 2014), S. 241, 15

 

10 Conor Friedersdorf, »Like It or Not, Glenn Greenwald Is Now the Face of the 1st Amendment«, The Atlantic, 6. Februar 2014

 

11 Greenwald, Die globale Überwachung, S. 246

 

12 Greenwald, Die globale Überwachung, S. 74

 

13 Conor Friedersdorf, »No Place to Hide: A Conservative Critique of a Radical NSA«, The Atlantic, 14. Mai 2014

 

14 Conor Friedersdorf, »Keith Alexander’s Unethical Get-Rich-Quick Plan«, The Atlantic, 31. Juli 2014

 

15 Greenwald, Die globale Überwachung, S. 100

 

16 Greenwald, Die globale Überwachung, S. 330

 

17 Siehe Nunzio Pernicone, Carlo Tresca: Portrait of a Rebel (New York: Palgrave, 2005)

 

18 James Curran, »Communications, Power and Social Order«, in: Culture, Society and the Media, hg. Tony Bennett et al. (London: Methuen, 1982), S. 202-235

 

19 Greenwald, Die globale Überwachung, S. 361

 

20 Joe Mullin, »In 2009, Ed Snowden said leakers “should be shot.” Then he became one«, Ars Technica, 26. Juni 2013; Katrina vanden Heuvel und Stephen J. Cohen, »Snowden in Exile: An Interview«, The Nation, 299:20 (17. November 2014), S. 26

 

21 William S. Burroughs, The Soft Machine (1961; rpt. New York: Grove Press, 1992), S. 110

 

22 James Bamford, »The Most Wanted Man in the World«, Wired, August 2014

 

23 C. Wright Mills, The Power Elite (1956; rpt. New York: Oxford University Press, 2000), S. 71-72

 

24 »Edward Snowden gibt Ratschläge zum Schutz der Privatsphäre«, heise online, 12. Oktober 2014; Ulrich Sonnemann, Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten: Deutsche Reflexionen (1), in: Schriften, Bd. 4. hg. Paul Fiebig (Springe: zu Klampen, 2014), S. 103; Lena Müssigmann, »Die Stimme aus dem Internet«, tageszeitung, 25. November 2014, S. 2

 

25 Dietmar Kammerer, »Software, die zur Waffe wird«, in: Die Überwacher: Prism, Google, Whistleblower, red. Dorothee d’Aprile (Berlin: Edition Le Monde diplomatique, 2014), S. 41

 

26 Felix Stalder, »Der Wert der Daten: Warum sich Facebook nicht für Kommunikation interessiert«, in: Die Überwacher, S. 73

 

27 Max Horkheimer, »Die Rackets und der Geist«, in: Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 12, hg. Gunzelin Schmid Noerr (Frankfurt/Main: Fischer, 1985), S. 290

 

28 Theodor W. Adorno, Jargon der Eigentlichkeit: Zur deutschen Ideologie (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1964), S. 72

 

29 Tom Engelhardt, Shadow Government: Surveillance, Secret Wars and a Global Security State in a Single-Superpower World (Chicago: Haymarket, 2014), S. 76

 

30 Siehe Robert Westbrook, »Horrors – Theirs and Ours: The Politics Circle and the Good War«, Radical History Review, Nr. 36 (September 1986), S. 9-25

 

31 Engelhardt, Shadow Government, S. 155

 

32 Horkheimer, »Ende des Individuums«, in Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 12, S. 318

 

33 Richard Hofstadter, The Paranoid Style in American Politics and Other Essays (New York: Vintage, 2008), Kindle-Ausgabe

 

34 Sean Wilentz, »Edward Snowden, Glenn Greenwald, Julian Assange: What They Believe«, New Republic, Januar 2014

 

35 Sheldon Richman, »Enemies of the State: Why Edward Snowden Terrifies Sean Wilentz«, Counterpunch, 24-26. Januar 2014; Peter Frase, »The Left and the State«, Jacobin, Januar 2014

 

36 Siegfried Kracauer, »Von Caligari zu Hitler«, in: Kracauer, Werke, Bd. 2:1, hg. Sabine Biebl (Berlin: Suhrkamp, 2012), S. 91

 

37 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, »Dialektik der Aufklärung«, in: Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 5, hg. Gunzelin Schmid Noerr (Frankfurt/Main: Fischer, 1987), S. 228

 

38 Horkheimer und Adorno, »Dialektik der Aufklärung«, S. 227

 

39 Jonathan Lethem, »Pynchonopolis«, New York Times, 12. September 2013

 

40 Jörg Magenau, »New York ist der geheimnisvolle Verdächtige«, Deutschlandradio Kultur, 23.September 2014

 

41 Walter Benjamin, »Ein Außenseiter macht sich bemerkbar« (1930), in: Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. 3, hg. Hella Tiedemann-Bartels (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1991), S. 225

 

42 P. W. Singer und Allan Friedman, Cybersecurity and Cyberwar: What Everyone Needs to Know (New York: Oxford University Press, 2014), S. 68

 

43 Walter van Rossum, »Ausflug in die Abgründe des Internets«, Deutschlandfunk, 30. November 2014

 

44 Thomas Pynchon, Bleeding Edge (New York: Penguin Press, 2013), S. 169; James Weinstein, The Long Detour: The History and Future of the American Left (Boulder, CO: Westview Press, 2003), S. 139-140

 

45 Joanna Freer, Thomas Pynchon and American Counterculture (New York: Cambridge University Press, 2014), Kindle-Ausgabe

 

46 Walter Benjamin, »Kapitalismus als Religion« (1921), in: Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. 6, hg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1991), S. 100

 

47 Pynchon, Bleeding Edge, S. 432

 

48 Thomas Pynchon, »Is it O.K. To Be a Luddite?«, New York Times, 28. Oktober 1984

 

49 Pynchon, Bleeding Edge, S. 48

 

50 Marcuse, »Einige gesellschaftliche Folgen moderner Technologie«, S. 311

 

51 Benjamin, »Kapitalismus als Religion«, S. 101

 

52 Thomas Pynchon, Slow Learner (1984; rpt. London: Vintage, 2000), S. 7-9

 

53 Siegfried Kracauer, Die Angestellten: Aus dem neuesten Deutschland (1929; rpt. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1971), S. 109

 

54 Gerrit Bartels, »Roman für analoge Anachronisten und Internet-Hasser«, Tagesspiegel, 21. August 2014, ; Sascha Lobo, »Dämonisierte Digitalkonzerne«, Spiegel Online, 27. August 2014; ; Graeme McMillan, »Dave Eggers’ The Circle: What the Internet Looks Like if You Don’t Understand It«, Wired, 10. November 2013

 

55 Jean-Paul Sartre, Plädoyer für die Intellektuellen: Interviews, Artikel, Reden 1950-1973, hg. Vincent von Wroblewsky (Reinbek: Rowohlt, 1995), S.121

 

56 Siva Vaidhyanathan, The Googlization of Everything (And Why We Should Worry) (Berkeley: University of California Press, 2011), S. 82-114

 

57 Patrick Bauer, »Die Kommunity«, Süddeutsche Zeitung Magazin, Nr. 39 (2014)

 

58 Margaret Atwood, »When Privacy is Theft«, New York Review of Books, 21. November 2013, Alexis de Tocqueville, De la Démocratie en Amérique, Bd. 2 (Paris: Pagnerre, 1848), Kindle-Ausgabe

 

59 Robert C. Rosen, John Dos Passos: Politics and the Writer (Lincoln: University of Nebraska Press, 1981), S. 81

 

60 Pynchon, Bleeding Edge, S. 62; Pynchon Wiki: Bleeding Edge,

 

61 John Bellamy Foster und Robert W. McChesney, »Surveillance Capitalism: Monopoly-Finance Capital, the Military-Industrial Complex, and the Digital Age«, Monthly Review, 66:3 (Juli-August 2014), S. 29

 

62 David H. Price »The New Surveillance Normal: NSA and Corporate Surveillance in the Age of Global Capitalism«, Monthly Review, 66:3 (Juli-August 2014), S. 47

 

63 Lewis Mumford, The Myth of the Machine, Volume Two: The Pentagon of Power (San Diego, CA: Harcourt Brace Jovanovich, 1964), S. 270

 

64 William S. Burroughs, Nova Express (1964; rpt. New York: Grove Press, 1992), S. 179

Während die politische Paranoia nach der Bildung von Rackets strebt, da die vereinzelten Paranoiker nach einem Diktum Horkheimers und Adornos Angst davor haben, »ihren Wahnsinn allein zu glauben«38, entfaltet die literarisch reflektierte Paranoia, die ein Autor wie Thomas Pynchon seit Jahrzehnten durchdekliniert, ein kritisches Potenzial. In den Augen Pynchons zerfielen moderne Systeme der Emanzipation und Aufklärung wie Eisenbahn, Post und Internet, bemerkte Jonathan Lethem, im kapitalistischen Kerker von Einschließung, Monopol und Überwachung. Für Pynchon ist die Geschichte ein Alptraum, dessen Bewältigung hellsichtiger Träumer bedarf.39 In seinem jüngsten Werk Bleeding Edge beschreibt er einen Teil der Vorgeschichte der globalen Überwachung, der sich auf den Zeitraum des Jahres 2001 konzentriert, als die kapitalistische New-Economy-Blase platzte und wenige Monate später die Anschläge des 11. Septembers stattfanden.

Die zentrale Figur in seinem Roman ist die alleinerziehende Mutter Maxine Tarnow, die ihren Lebensunterhalt als private Betrugsermittlerin bestreitet. In einem weiten Komplex beschreibt Pynchon die Entwicklung des frühen 21. Jahrhunderts in den New Yorker Territorien mit der Gentrifizierung der Metropole, der Herausbildung einer Herrschaft der Nerds, aus deren Brillengläsern die toten Augen T. J. Eckleburgs aus den Zeiten F. Scott Fitzgeralds über das urbane Ödland zu starren scheinen. In einem Wust von Geschichten und Szenen blitzen Figuren aus paranoiden Fiktionen, Agententhrillern, alten Filmen und Songs auf, welche die Gegenwart von kapitalistischen Start-Up-Unternehmen, virtuellen Realitäten und Verschwörungsszenarien in die Fiktion tragen. Das Personal bewegt sich in einer langen popkulturellen Geschichte von James Cagney und Pat O’Brien über Cary Grant, Sam Jaffe, Gloria Grahame, Paul Henreid, Bette Davis, John Garfield, Ray Milland und William Holden bis zu Angela Lansbury und Dilbert. Der Soundtrack reicht von Charlie Parker und Frank Sinatra über die Rolling Stones, The Eagles, Queen, Abba und Barry Manilow bis zu Britney Spears.

Der textuelle Labyrinth mit zahllosen Anspielungen ließ einige Literaturkritiker frustriert zurück. Jörg Magenau bezeichnete ihn als Roman »zum Abgewöhnen«: »Ein Roman wie das Internet«, resümierte er in einem Rundfunkbeitrag. »Wenn da überhaupt eine Tiefe ist unter der Oberfläche, dann kann man darin nur verloren gehen.«40 Banausisch kanzelt der selbstgerechte wie überforderte Rezensent Autor und Roman ab, ohne sich mit Details zu beschäftigen, denn hierfür fehlt ihm das kritische Instrumentarium. Pynchon gleicht Walter Benjamins Lumpensammler, der im Morgengrauen »die Redelumpen und Sprachfetzen aufsticht, um sie murrend und störrisch, ein wenig versoffen, in seinen Karren zu werfen«41. Bleeding Edge rekonstruiert die Internetkultur an einer markanten Bruchstelle, die einerseits den Triumph von Nerd-Oligarchen bezeichnet, die wie einst nach der gierigen Landnahme am Klondike zu Zeiten des desaströsen Goldrausches am Ende des 19. Jahrhunderts verwüstete Territorien hinterließen. Andererseits findet das »digitale Pearl Harbor«42 (wie Singer und Friedman das Ereignis 9/11 bezeichnen) statt. Zweifelhaft bleibt jedoch die Interpretation, dass Pynchon die Geschichte einer »feindlichen Übernahme« erzählt, wobei das Internet »von einer Art kommunikativen Utopie« zu einem »annähernd totalitären Überwachungsapparat von Geheimdiensten und Technologiekonzernen verkommt«, wie Walter van Rossum meint.43 Schon vor 9/11 ist in Pynchons Roman die schöne neue Internetwelt von Technologien der Überwachung und Fremdsteuerung wie BackOrifice oder NetBus durchdrungen; aus der Vergangenheit des US-amerikanischen industriellen Kapitalismus greifen die dunklen Schatten (wie etwa die Zerstörung der Umwelt durch die Textilindustrie in Passaic in New Jersey und einen legendären Streik in den 1920er Jahren) auf die Landschaften der Gegenwart über, die immer mehr von Rackets jeglicher Provinienz beherrscht werden.44 Die Phantome der jüngeren Geschichte – von den dreißiger Jahren des Stalinismus und Trotzkismus bis zur paranoiden Durchdringung des Kalten Krieges und des McCarthyismus in den 1950er Jahren – durchströmen in Gestalt von Trollen und Politikern den gegenwärtigen Raum. Eine solche zusammengeschmolzene Figur aus der Realität ist beispielsweise der US-Diplomat Eliott Abrams, der in den Administrationen von Ronald Reagan und George W. Bush aktiv und in die Iran-Contra-Affäre verstrickt war. Zugleich hatte er in seiner Jugend Kontakt zur Young People’s Socialist League, die ein sozialdemokratisches Offshoot des US-amerikanischen Trotzkismus war.

Geprägt ist Pynchon durch die Beat Generation in den 1950er und die Gegenkultur der 1960er Jahre, die seine Kritik der Entfremdung und Ausbeutung im Herrschaftsraum der kapitalistischen Demokratie bestimmen. Vor allem sein Spätwerk zeichnet sich – wie Joanna Freer hervorhebt – durch eine Antipathie gegenüber dem Kapitalismus und eine »relative Sympathie für anarchistische Lösungen« aus.45 In Bleeding Edge kritisiert Pynchon – ähnlich wie Walter Benjamin – die religiöse Komponente des Kapitalismus. »Der Kapitalismus ist die Zelebrierung eines Kultes sans rêve et sans merci«46, konstatierte Benjamin 1921. Für die Oppositionellen in Pynchons Roman stellen die Türme des World Trade Centers religiöse Symbole dar, die dem Kult des Marktes gewidmet waren, und der Kapitalismus US-amerikanischer Prägung führte in ihren Augen heilige Kriege gegen konkurrierende Religionen wie den Marxismus. Schon zur Jahrtausendwende ist der Traum des Internets ausgeträumt. Der tiefe Rhythmus des kapitalistischen Marktes, dem abhängige Nerds willfährig folgen, zerstört die kommunikative Utopie, die ohnehin nur Illusion war: User sind Loser. Am Ende des falschen Spiels wird das Internet als Traum wie als Versprechen zerstört sein, ohne dass ein »Undo« oder ein »Reboot« die gesellschaftlichen Schäden beheben könnte.47

Ähnlich wie Raymond Chandlers The Big Sleep bleibt auch in Pynchons postmodernem Noir-Krimi der Kreis offen, während die »dunklen Vernetzungen« (wie Walter van Rossum es treffend nennt) die Zeit unbeschadet überstehen. Bereits 1984 reflektierte Pynchon in einem Artikel für die New York Times über die Problematik des Luddismus im Zeitalter von Atombomben und Langstreckenraketen, wobei nicht die »technophobischen Verrückten« heute das Problem seien, sondern vielmehr der auf Extermination der Menschheit ausgerichtete »militärisch-industrielle Komplex«.48 Im Internet-Zeitalter dominiert die »nerditude«49, ein Zustand, für den die deutsche Übersetzung keinen adäquaten Begriff finden konnte. Der Ausdruck beschreibt das Ausmaß, in dem sich die Individuen den automatisierten Prozessen in der Organisation der gesellschaftlichen Realität angepasst haben. »Individualistische Rationalität wurde hervorgebracht als eine kritische und oppositionelle Einstellung«, schrieb Marcuse, »welche Handlungsfreiheit ableitete aus der uneingeschränkten Freiheit des Gedankens und des Gewissens und die alle gesellschaftlichen Normen und Verhältnisse am individuellen, rationalen Eigennutz maß.«50 In einer von technologischer Rationalität dominierten Gesellschaft, in der die Technik das Verhalten bestimmt, vollzieht der Nerd in modischer Verkleidung die archaische Priesterherrschaft. Sünde ist, gegen die Vorgaben der Technik, die Ausdruck des rational Möglichen sein soll, zu verstoßen. Der Nerd ist willfähriger wie bornierter Vollstreckungsagent des Kapitals, das (mit Worten Walter Benjamins) »die Hölle des Unbewußten verzinst«51. Als Gegenbewegung zum aktuellen Konformismus sieht Pynchon, obgleich er als Spätgeborener ein Nachzügler ohne eine reale Verbindung zur Revolte der Vorgängergeneration war, noch immer die Beat-Generation: Jack Kerouac, dessen Werk On the Road er zu den großen amerikanischen Romanen zählt, entwarf mit der Vorstellung einer »beatitude«, einem Programm der von den gesellschaftlichen Zwängen entrückten Glückseligkeit das Gegenprogramm zum square, der als Nerd mumifiziert und erneut in den sozialen Verwertungskreislauf geschickt wurde.52

V.

Eine andere Form des gesellschaftlichen Konformismus beschreibt Dave Eggers in seinem Roman The Circle. Die junge Angestellte Mae Holland tritt eine neue Stelle im Kundenservice des prestigeträchtigen, Google-ähnlichen Technologiekonzerns »The Circle« an, wo sie dank ihrer Anpassungsfähigkeit und Bereitschaft, sich dem Streamlining des Konzerns unterzuordnen, rasch in der Hierarchie aufsteigt. Die soziale Rundumversorgung mit Gesundheitsmaßnahmen sowie sportlichen und kulturellen Aktivitäten wird mit einer totalen sozialen Kontrolle erkauft. Die Angestellten sind aufgefordert, sich permanent über soziale Medien zu äußern und am Organisationsleben teilzunehmen. Ähnlich wie Google befleißigt sich der krakenhafte Circle einer philanthropischen Sprache, der die tatsächlichen autoritären Strukturen verschleiert, und agiert als technologischer Transmissionriemen: Immer neue Techniken zur Überwachung und Reglementierung des sozialen Verhaltens werden ubiquitär installiert, bis schließlich der Konzern auch politische und staatliche Aktivitäten unter seine Kontrolle gebracht hat. Jegliche private wie öffentliche Regung wird den Dogmen Transparenz und Partizipation untergeordnet. Wer sich diesem nicht fügt, wird stigmatisiert.

Mae verschreibt sich dem Circle buchstäblich mit Haut und Haaren, wird zur mobilen Kamera des Konzerns, die jede Regung aufzeichnet, ihren Jugendfreund mit einer Drohnenjagd in den Tod treibt und ihre Studienfreundin Annie, die ihr den Einstieg in den Konzern ermöglichte, ins komatöse Abseits bugsiert. Als stromlinienförmige und aufstrebende Angestellte gibt Mae jegliche Individualität auf und formuliert im Circle-Speak die Leitlinien des Konzerns: »Geheimnisse sind Lügen«, »Teilen ist heilen« und »Privatheit ist Diebstahl«. Das eigene Vorankommen muss die Angestellte, die in der Zuchtwahl über Ranking und Belobigung hervorstechen will, über Anpassung und Mittäterschaft bewerkstelligen. Am Ende steht »das normale Dasein in seiner unmerklichen Schrecklichkeit«53, wie Siegfried Kracauer die deutsche präfaschistische Angestelltenkultur beschrieb.

Den eigenen Zynismus nimmt Mae nicht wahr. Ihrem ehemaligen Freund Mercer, den sie mit Drohnen verfolgt, ruft sie freudig zu: »Du bist von Freunden umgeben«, ehe sie ihn in den Tod treibt. Stets dient die Sprache in ihrer philanthropischen Eskamotierung dazu, die Realität mit scheinhaften Kulissen zu verstellen, in der tote Seelen umherschwirren. Mit dieser Kritik traf Dave Eggers einen Nerv der Zeit und brachte vor allem Feuilletonisten gegen sich auf, die ihm Polemik, Einseitigkeit und mangelnde Kunstfertigkeit vorwarfen. Es sei ein »Roman für analoge Anachronisten und Internet-Hasser«, monierte eine Berliner Kritikerin, während der umtriebige libertäre Kleinkapitalist und Post-Punk-Darsteller Sascha Lobo vor einer »Dämonisierung der Netzkonzerne« warnte. Das Nerd-Magazin Wired schließlich warf Eggers vor, er verstehe das Internet in keiner Weise und sei durch seine Ignoranz gänzlich kompromittiert.54

In der Abkanzelung des Romans tobte sich ein traditioneller Antiintellektualismus aus, der dem Kritiker der Zustände die Fähigkeit zur Kritik abspricht, während die »Techniker des praktischen Wissens« (wie Jean-Paul Sartre diesen Typus des technischen Funktionärs nannte) in Komplizität mit den herrschenden Zuständen die Partikularinteressen einer herrschenden Minderheit gegen das Allgemeine verteidigen, obgleich die Widersprüche in der gesellschaftlichen Organisation offenkundig sind. Ein »mit sich selbst versöhnter Techniker des Wissens« ist nach Sartre »ein falscher Intellektueller«, der als Wachhund die Herrschaft verklärt.55 Vorgeworfen wird dem Romanautor, dass er seine Kompetenzen überschreite und über Sachen schreibe, von denen er nichts verstehe. Realiter aber ist Eggers' Roman sehr nah an der Realität: Die Verklärung der technologischen Rationalität und die Verschleierung der Realität durch eine schematisierte Sprache vorgeblicher Menschheitsbeglücker finden sich direkt dokumentiert in dem Google-Manifest von Schmidt und Cohen. Die permanente Überwachung, die in Eggers' Roman über »SeeChange«-Kameras bewerkstelligt wird, kritisierte Siva Vaidhyanathan schon in seinem Buch The Googlization of Everything (2011), in dem er einen über Technologien aufgebauten »infrastrukturellen Imperialismus« kritisierte.56 Der autoritäre Elitismus, den Eggers eindringlich beschreibt, ist keineswegs auf aktuelle Unternehmen wie Google, Facebook oder Amazon beschränkt, sondern bestimmt eine dominante gesellschaftliche Formation, die als technisch-ökonomischer Cencacle den Intellektuellenzirkel in Balzacs Comédie humaine parodiert, indem sie technische Innovation an die kommerzielle Herrschaft zu koppeln sucht. In San Francisco haben sich »Techie-Kommunen« in Form von Luxusresorts gebildet, deren privilegierte Mitglieder eine Weltverbesserung mit einträglicher Kapitalakkumulation verbinden wollen. Bitterernst veranstalten diese Zirkel Diskussionsabende über demokratische Regierungsformen auf dem Mond. »Man ist sich weitgehend einig«, heißt es in einer Reportage im Magazin der Süddeutschen Zeitung über solch eine Diskussionsveranstaltung unter Nerds: »Demokratie wäre so einfach, wenn all der irdische Ballast nicht wäre, Machtmissbrauch, Politikverdrossenheit, Dummheit, Menschen. Wenn Gerechtigkeit eine App wäre, sie hätten sie längst programmiert.«57

Während die »Wachhunde« Eggers' Kritik hysterisch wegbissen, arbeitete Margaret Atwood in ihrer Rezension Schwächen und Stärken des Romans heraus. Sicher seien dort nicht Nuancen wie bei Tschechow oder vielschichtige Charaktere anzutreffen, doch dies sei nicht der Anspruch des Romans: Er sei »Unterhaltung«, die jedoch Forderungen an den Leser stelle, nämlich die Positionen der Figuren in ihrer jeweiligen Konstellation zu durchdenken und zu hinterfragen. Die kanadische Schriftstellerin stellt Eggers' Roman in den politischen und historischen Kontext anderen literarischer Anti-Utopien wie George Orwells 1984 oder Aldous Huxleys Brave New Word. Darüber hinaus erinnert sie auch an die frühe Kritik des französischen Aristokraten Alexis de Tocqueville, der vor einer Tyrannei der Öffentlichkeit in einem Klima des Konformismus warnte, in dem der Delinquent nicht direkt wie im autoritären Staat die Knute zu spüren bekommt, sondern als Fremder stigmatisiert und ausgestoßen wird. Diese Tyrannei könne über das Internet unermesslich gesteigert werden.58 Zudem ist der Vorwurf der Flachheit vorgeschoben: Weder Huxley noch Orwell entwickelten ihre Darstellungen von politischen und gesellschaftlichen Dystopien auf der Basis facettenreicher literarischer Schichtenarchitekturen. Selbst die Erzählungen in John Dos Passos' Epos U. S. A. sind einem »flachen« Stil verhaftet. »Flache Charakterisierung beschreibt Leben, die von der Gesellschaft verflacht werden«59, kommentierte ein Autor dieses Verfahren. Diese Flachheit durchdringt in der Gegenwart, in der Journalisten nicht mehr recherchieren, sondern sich aufs »Googlen« beschränken, auch die Feuilletons, die in der Krise nur die eigene Armseligkeit zur Schau stellen können.

VI.

Die globale Überwachung, wie sie von staatlichen Geheimdiensten und kapitalistischen Netzkonzernen betrieben wird, ist kein singulärer Skandal, sondern systematische Praxis, wie die sozialistische Zeitschrift Monthly Review in ihrer Ausgabe zum »Überwachungskapitalismus« stichhaltig belegt. In ihrem einleitenden Überblick zur Geschichte der Überwachung in den USA seit dem Zweiten Weltkrieg stellen John Bellamy Foster und Robert McChesney fest, dass US-Administrationen seit 1945 fortwährend geheimdienstliche Projekte zur Sicherung der eigenen hegemonialen Interessen nutzten. Zunächst wurde die NSA im Kontext des Kalten Krieges 1952 gegründet, um eine verdeckte elektronische Überwachung potentieller subversiver Aktivitäten sowohl aus- wie inländischer Verdächtiger zu bewerkstelligen. Sechs Jahre später nahm die Advanced Research Projects Agency (ARPA) ihre computer- und netzwerkgestützte Arbeit auf, aus der in den 1970er Jahren das ARPANET, der Vorläufer des heutigen Internets, hervorging. Bereits zu Beginn der 1960er Jahre hatte sich ein klandestiner weitverzweigter Apparat gebildet, so dass Dwight D. Eisenhower in seiner Abschiedsrede im Januar 1961 vor der Bildung einer von jeglicher demokratischer Kontrolle unbehelligten Schattenregierung und einer »wissenschaftlichen technologischen Elite« warnte. Mit den vom FBI und von der NSA durchgeführten Programmen COINTELPRO (Counterintelligence Program) und MINARET wurden in den 1960er und 1970er Jahren Mitglieder der Bürgerrechts- und Antikriegsbewegung überwacht und zahlreiche Magazine der Underground-Presse durch eingeschleuste agents provocateurs manipuliert. Später wurden auch die Systeme der telefonischen und digitalen Kommunikation angezapft, um jegliche Spur subversiver Aktionen in der US-Bevölkerung analysieren und verfolgen zu können.

Ein anderer Aspekt der technologischen Entwicklung von untereinander vernetzten Hochgeschwindigkeitscomputern ist, wie Foster und McChesney in ihrem hervorragend recherchierten und glänzend geschriebenen Artikel hervorheben, die Finanzialisierung, die für ihre spekulativen Geschäfte auf den Finanzmärkten auf die Erhebung und Verarbeitung immer größerer Mengen privater Daten angewiesen ist. Durch den Online-Handel sind permanent mehr private Daten über Kaufverhalten, Kreditwürdigkeit, Vermögen- und Lebensverhältnisse verfügbar, die über informationelle Assoziationen und Verbindungen in lückenlose Quantifizierungen und digitale Dossiers überführt werden können. Die Grenzen zwischen staatlicher und privatkapitalistischer Überwachung und Informationskontrolle sind dabei fließend. Kommerzielle Unternehmen wie Acxiom tauschen Daten mit dem FBI, dem Pentagon und der Heimatschutzbehörde und umgekehrt.

Je weiter die Ökonomie der Finanzialisierung unterlag, umso anfälliger wurde sie für Attacken auf ihre sensiblen Daten. Im Zeitalter der »Cyberkriege« stehen sowohl das gesamte Finanzsystem als auch der militärische Apparat im Zentrum der nationalen Sicherheit, wobei staatliche und privatkapitalistische Agenturen zu einem »militärisch-finanziell-digitalen Komplex« verschmelzen. Individuelle Strategien zur Absicherung privater Daten vor dem staatlichen und kommerziellen Zugriff scheitern an der Totalität dieses Komplexes: Mit ihren Programmen BULLRUN und EDGEHILL konnte die NSA Verschlüsselungsalgorithmen zur Sicherung privater Daten aushebeln. Das Problem der Datenschützer ist das, was bei Thomas Pynchon als »Wayne-Gretzky-Prinzip«, das einem Bonmot des Apple-Gründers Steve Jobs zugeschrieben wird, bezeichnet wird: Es gehe nicht darum, wo der Puck im Moment sei, sondern wohin er gespielt werde.60

Die Geheimagenten sind in diesem Spiel den Gegnern immer einige Spielzüge voraus, aber dennoch entdecken Foster und McChesney in diesem Spiel Zeichen eines Untergangs, da das System auf Dauer nicht seine Widersprüche verdecken könne. »Die digitale Revolution muss entmilitarisiert, demokratischen Werten und einer demokratischen Staatsführung untergeordnet werden, mit allem, es bedingt« resümieren sie. »Es gibt keinen anderen Weg.«61 Diesem Ansatz wohnt jedoch die leninistische Ratio inne: Um die schlechten Verhältnisse zu beenden, müsse die Staatsmacht nur erobert und zum Wohl der Menschen umfunktioniert werden. Tatsächlich liegen aber die Fehlfunktionen in tieferen Schichten. Zurecht erinnert David Price in seinem Beitrag daran, dass die Überwachung das Geschäftsmodell des Internets ist und die Fehler dem System immanent sind. »Die Architektur des Systems ist aktuell auf die Bedürfnisse der kapitalistischen Unternehmen und des nationalen Sicherheitsstaates ausgerichtet«, merkt er an. »Die Überwachung und die Manipulation sind seine Kerntechnologien.«62 Damit erübrigen sich Vorschläge zur politischen oder juristischen Reformierbarkeit des Systems, wie sie andere Beiträge in dieser Ausgabe der Zeitschrift präsentieren.

Bereits 1964 hatte Lewis Mumford in seiner voluminösen Geschichte des Mythos der Maschine die Klandestinität von FBI, CIA und NSA und die fehlende öffentliche Infragestellung der staatlichen geheimdienstlichen Methoden kritisiert. Über die Jahrhunderte und Jahrtausende hat sich der destruktive Charakter der Megamaschine in der Entwicklung der menschlichen Zivilisation potenziert, bis schließlich die totale Auslöschung der Menschheit und der kompletten Existenz aller Lebewesen in den Bereich des Möglichen gerückt ist. In den permanenten Konfrontationen konkurrierender Systeme konnten sich technologische Innovationen immer neuer Vernichtungs- und Kontrollmöglichkeiten in einem Zyklus sich steigender Überproduktion entwickeln. Auch wenn nach den Umwälzungen der Jahre 1989/90 voreilig das Ende der Geschichte ausgerufen wurde, zeigt sich in den aktuellen politischen Konflikten eine sture Resistenz gegenüber historischen Erfahrungen. »Die einzige Frage, die die Megamaschine offen lässt, ist,«, schrieb Mumford, »ob diese [totale] Zerstörung rasch oder langsam erfolgen wird: Das negative Ziel ist in den grundlegenden ideologischen Voraussetzungen enthalten, die das System beeinflussen.«63 Imm wieder greift die Vergangenheit auf die Gegenwart über. »Mein schreibender Arm ist gelähmt im Land der Grünen«, beendet William Burroughs den letzten Teil seiner Nova-Trilogie der Kontroll- und Konfliktsüchtigen. »Dead Hand, no more flesh scripts–Last door«64. Seit einem halben Jahrhundert hat sich an der Situation nichts Entscheidendes geändert.