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17. Mai 2015
Jörg Auberg
für satt.org

Der Kampf geht weiter

Der Band »Libertalia: Die utopische Piratenrepublik« erinnert an ein frühes gesellschaftliches Experiment, in dem entrechtete und depravierte Freibeuter sich dem Regime eines sich herausbildenden globalen Kapitalismus widersetzten und ihre Freiheit in abseitigen Kommunen suchten. Obwohl dieses Unterfangen nur kurzzeitig gelang, hielt sich die Legende der libertären Piratenkommune nachhaltig in der politischen und kulturellen Imagination.

   Daniel Defoe. Libertalia: Die utopische Piratenrepublik.

Daniel Defoe. Libertalia: Die utopische Piratenrepublik. Übersetzt von David Mienreis und Arne Braun. Herausgegeben und eingeleitet von Helge Meves. Berlin: Matthes und Seitz, 2015. 238 Seiten, 22,90 Euro.
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In Robert Louis Stevensons klassischem Abenteuerroman Treasure Island stellt der einbeinige Schiffskoch John Silver den Prototyp des Piraten dar. Sein ausschließliches Handeln ist auf den eigenen Vorteil ausgerichtet, um den größtmöglichen Anteil an der Beute für sich in Beschlag zu nehmen. Silver ist der opportunistische Kleinbürger, der entsprechend den jeweiligen Machtverhältnissen Allianzen eingeht oder aufkündigt, Mitstreiter verrät, ermordet oder ausliefert. Im ruchlosen Unternehmen der Selbsterhaltung gibt es keine Verträge, moralischen Prinzipien oder allgemeingültige Vereinbarungen: Der Pirat als gewissenloser Kleinunternehmer ist der Vorläufer des Racketeers, der die Welt in den fensterlosen Kerker der totalen Herrschaft sperrt.

Im »Goldenen Zeitalter der Piraterie« des 17. und 18. Jahrhunderts war die Freibeuterei auf See jedoch eher eine Zuflucht vor den machtpolitischen und religiösen Beutezügen im unentwegt von Kriegen heimgesuchten Europa. Im Prozess der Herausbildung der neuen kapitalistischen Ordnung wurden die alten feudalen Strukturen ausradiert: Das Landvolk verlor Grund und Boden, und Revolten gegen die neue Herrschaft wurden von den neuen militärischen Mächten niedergeschlagen. So war die »Welt der sieben Meere« nicht nur ein Fluchtpunkt der Verheißung, um dem dunklen Jammertal auf dem europäischen Kontinent zu entgehen, sondern auch ein Ort der Utopie. Lange bevor Philosophen und politische Aktivisten wie Max Stirner, Michail Bakunin oder Peter Kropotkin Grundideen des modernen Anarchismus formulierten (die in den kanonischen Historiographien von George Woodcock, Daniel Guérin und zuletzt Peter Marshall mehr oder weniger den Startpunkt für die politische Entwicklung anarchistischer Bewegungen darstellen), ist der Pirat in der diffusen Rebellion gegen die herrschenden Zustände eines globalisierenden Kapitalismus eine Sonderform des »Sozialbanditen«, wie ihn Eric Hobsbawm beschrieb. Vor allem die legendäre Figur des französischen Piratenkapitäns Charles Misson, der Anfang des 18. Jahrhunderts eine freie Gesellschaft auf Madagaskar gründete, beflügelte immer wieder die Fantasie. »Es ist eine Geschichte, die gegenwärtig nur in antiquarischen Piraten- und Reisebüchern zu finden ist«, schrieb Bryon R. Bryant in einem Artikel über den »libertären Piraten« Misson in der New Yorker anarchistischen Zeitschrift Retort im Frühjahr 1948. »Sie ist es wert, neu erzählt zu werden.«

Diese Geschichte ist nun erstmals auf Deutsch in dem von Helge Meves herausgegebenen und kenntnisreich kommentierten Band Libertalia: Die utopische Piratenrepublik erhältlich, der Auszüge der »Allgemeinen Geschichte der Piraten« (deren Autorenschaft Daniel Defoe zugeschrieben wird) und den Text »Die Beschreibung der Regierung, Gewohnheiten und Lebensart der Seeräuber von Madagaskar« von Jacob de Bucqouy enthält. Der Legende nach gründete der französische Adelige Charles Misson zusammen mit dem abtrünnigen italienischen Priester Caraccioli und dem englischen Freibeuter Tew eine libertär-kommunitäre Bruderschaft, die sich auf die Ideale der Toleranz, Gleichheit, Gerechtigkeit und radikalen Demokratie berief. Im Rahmen ihrer piratischen Aktivitäten befreiten sie Sklaven und versuchten, eine kosmopolitische Gegengesellschaft in einer Welt der kapitalistischen Globalisierung aufzubauen. Auf Madagaskar gründete Misson seine libertäre Kolonie (die in den verschiedenen Versionen der Legende sowohl den Namen »Libertalia« als auch »Libertatia« trug), die jedoch nur kurzzeitigen Bestand hatte und von Eingeborenen aus dem umliegenden Territorium überfallen und zerstört wurde. Trotz ihrer Mängel stellte die Kolonie für spätere Kommentatoren wie Bryant ein visionäres Gesellschaftsmodell dar. »Libertatia war zum Zeitpunkt seiner Gründung eines der vielversprechendsten Wagnisse seiner Art«, schrieb er in seinem Resümee. »Es war in keinem wörtlichen Sinne eine 'anarchistische' Kolonie; vielmehr kam es in seiner Frühzeit einem libertären Ideal bemerkenswert nahe.«

Das Versprechen dieser »libertären Utopie« wirkte später in der Populärkultur und Literaturgeschichte fort, wie Meves in seinem aufschluss- wie kenntnisreichen Nachwort zu den Quellen und der Rezeptionsgeschichte unterstreicht. Beispielsweise griff William S. Burroughs in seinem Roman Cities of the Red Night (1981; dt. Städte der roten Nacht) die Legende von Charles Misson auf, den er als »Captain Mission« in einer »rückwirkenden Utopie« auftreten lässt. Für Burroughs ist Libertatia eine verpasste Chance, die durch nichts zu revidieren ist. »Hätte Captain Mission lange genug gelebt, um durch sein Beispiel andere mitzureißen«, mutmaßte Burroughs, »so wäre es der Menschheit wahrscheinlich erspart geblieben, sich in ejene Sackgasse unlösbarer Probleme zu manövrieren, aus der sie nicht mehr herausfindet.« Während Burroughs pessimistisch in die Zukunft sah, die Entwicklung für unumkehrbar hielt, die Verheißungen der bürgerlichen Revolutionen und Emanzipationsbewegungen in Diktatur und Faschismus umschlagen sah, betrachtet Meves die Geschichte dialektischer und hoffnungsfroher. Für ihn stellt Libertalia nicht das Ende einer historischen Episode, sondern einen »Aufbruch ohne Ende«: »Libertalia ist nicht gescheitert«, lautet sein Resümee. »Libertalias Ideen sind unabgegolten. Libertalia lebt.«

Ob dieser bemühte Optimismus angesichts der gegenwärtigen politischen und ökonomischen Entwicklungen gerechtfertigt ist, muss sich in der historischen Realität erweisen. »Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben«, schrieb Walter Benjamin in seiner Abhandlung über Goethes Wahlverwandschaften. Diese Hoffnung kann jedoch nur die dunklen Zeiten überdauern, wenn die Vergangenheit nicht verklärt wird. »Libertalia« oder »Libertatia« war ein über die Zeit hinausweisendes gesellschaftliches Experiment, das jedoch zugleich seiner Zeit verhaftet blieb. Es lässt sich nicht aus der Dimension sprengen und gegen heutige Verhältnisse in Position bringen. Die männerbündische Utopie, wie sie in dem »libertären Experiment« der Vergangenheit zum Ausdruck kam und die Burroughs in seinem Spätwerk propagierte, ist kein Projekt für die Zukunft, zumal sie nicht nur einer maskulin dominierten Kultur, sondern auch einem kolonialen System verhaftet blieb, was schließlich zu ihrem Scheitern führte. Daher sollte dieses »libertäre Experiment« – trotz aller bedenkenswerten Ansätze – nicht gegen die aktuellen Herrschaftsverhältnisse als starres utopisches Modell in Stellung gebracht werden. Die Verlierer der Geschichte werden nicht allein von den Siegern verstümmelt, bemerkte Russell Jacoby in seinem Buch Dialektik der Niederlage, sondern auch von sich selbst. So muss jeder kritische Ansatz täglich auf seine Tauglichkeit in der Realität geprüft werden.