Aller Anfang ist MERZ
Von Schwitters bis heuteDie Düsseldorfer Kurt Schwitters Ausstellung
"Das Wort Merz bedeutet wesentlich die Zusammenfassung aller erdenklichen Materialien für künstlerische Zwecke und technisch die prinzipiell gleiche Wertung der einzelnen Materialien", so beginnt Kurt Schwitters Manifest "Die Merzmalerei" von 1919. Dass er damit eine der Grundbedingungen der Kunst des 20. Jahrhunderts zusammen fasst, ist sinnfällig. Und da er selbst konsequent an der Umsetzung dieser theoretischen Richtlinie gearbeitet hat, liegt es nahe, einmal in einer Ausstellung zu untersuchen, welchen Einfluss Schwitters auf die Kunst nach ihm hatte, auf Fluxus, Nouveau Réalisme und Happening, aber auch auf minimalistische und konstruktivistische Spielarten der Kunst in den 50er bis 70er Jahren.
"Aller Anfang ist MERZ - Von Schwitters bis heute" lautet der Titel einer Schau, die zunächst für die Expo zusammen gestellt wurde, im Hannoveraner Sprengel Museum, und die nunmehr auch im Rheinland zu sehen ist, nämlich in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf. Hier ist eine umfangreiche Werkschau des eigenwilligen Künstlers aufgefahren, der DADA nahe stand, ohne je richtig dazu zu gehören. Dessen Arbeiten sind konterkariert oder auch kombiniert mit Exponaten von Künstlern wie Robert Rauschenberg, Arman, Robert Filliou, Allan Kaprow, Arthur Koepke, Anthony Cragg, Daniel Spoerri, Nam June Paik, Joseph Beuys und vielen mehr.
Doch zunächst zum MERZ-Künstler selbst: natürlich kann man hier keine Sensationen erwarten, zu sehr gehört Schwitters inzwischen zum Kanon der Weltkunstgeschichte. Dennoch kann man eine Reihe von Aspekten in dessen Werk begutachten, die den meisten weniger bekannt sein dürften. So zum Beispiel sehr frühe Ölbilder und Zeichnungen, die die verschiedenen Einflüsse verdeutlichen, denen Schwitters am Anfang seiner künstlerischen Karriere ausgesetzt war: recht epigonal wirken seine Adaptionen des Klassizismus und des Jugendstils, spätere Arbeiten verraten allzu offensichtlich das Vorbild Marc Chagalls oder der "Brücke"-Künstler.
Wie rapide Schwitters sich zwischen 1917 und 1920 von der konventionellen Gestaltung gelöst hat und seinen originellen MERZ-Collage und -Assemblagestil heraus gebildet hat, das vollzieht die aktuelle Ausstellung sehr eindrücklich nach. Dass Schwitters aber selbst in Zeiten radikalster Avantgardebestrebungen nie ganz auf das traditionelle Bildermalen verzichtet hat, diesem Faktum trägt die von Anette Kruszynski kuratierte Düsseldorfer Schau nur teilweise Rechnung. Zwar werden die frühen Ölbilder der Porträtmalerei aus den 40er Jahren gegenüber gestellt, mit der sich der mittellose Schwitters im englischen Exil über Wasser hielt. So aber wird der Eindruck vermittelt, er habe erst im Alter wieder zu seinen Anfängen zurück gefunden. In Wirklichkeit hat der große Integrator verschiedenster Stile, Motive und Disziplinen, keine qualitativen Unterschiede zwischen seinen konventionellen und seinen avantgardistischen Arbeiten gemacht und sie immer gleichrangig betrieben.
Als besondere Attraktion birgt die Ausstellung eine Rekonstruktion des berühmten (im Weltkrieg zerstörten) MERZ-Baus, an welcher Schwitters Sohn Ernst mitgewirkt hat, einer der wenigen, die das Original noch gesehen haben. Vergleicht man die schriftlichen Aussagen von Zeitgenossen, liefert diese Nachbildung jedoch allenfalls eine vage Vorstellung dieser verwinkelten, detailreichen 3-D-Collage, die sich zuletzt über drei oder vier Stockwerke des Schwittersschen Hauses in Hannover erstreckt haben soll.
Diverse MERZ-Bilder, Collagen und Materialkombinationen zeigen Schwitters einmal mehr als den rastlos vor sich hin werkenden Künstler, wie ihn Freunde wie Raoul Hausmann plastisch beschrieben haben. Alles, was Schwitters macht, war gewissermaßen eine Topografie seines Alltags, die Collagen verraten durch ihre Bestandteile viel über seinen unmittelbaren Lebenszusammenhang, über die Länder, die er bereiste, über die Personen, mit denen er verkehrte.
Ab 1925 gab es in seinem Werk eine vehemente Kehrtwende, alles Spielerische, alles DADA-artige verschwand und wich unter dem Einfluss El Lissitzkys und der De-Stijl-Gruppe (u. a. Piet Mondrian und Theo van Doesburg) einer aufs Äußerste reduzierten, konstruktivistischen Gestaltung. Hier gibt einige schöne Wandobjekte und Skulpturen, die man seltener zu sehen bekommt. Fast wie ein utopisches Architekturmodell wirkt sein "Monument über den Vater des Künstlers" aus weiß-bemaltem Holz von 1931/35, mit dem die aufstrebenden Kunstharzröhren Cy Twomblys daneben eine wirklich nachvollziehbare Beziehung eingehen.
Das lässt nicht von allen Exponaten neuerer Künstler behaupten: natürlich ist die Verfahrensweise Joseph Beuys mit seinen "armen" Material-Zusamenstellungen, der Witz Fillious oder Daniel Spoerris unmittelbar aus der Wirklichkeit gerissene Restaurantecke der Schwittersschen Methode stark verwandt. Wenn man sich aber die Künstlerliste anschaut, fragt man sich doch, wer ist denn nicht von Schwitters beeinflusst? Entweder fehlt eine ganze Reihe von Namen oder man hat die Idee der Schwitters-Rezeption nicht präzise genug konturiert.
Das Dilemma für die Kuratoren besteht natürlich darin, dass Schwitters ein maßgeblicher Vertreter der beiden Hauptrichtungen bildender Kunst der Avantgarde-Jahrzehnte gewesen ist: ein Gestalter von Zufall und Notwendigkeit, von Anti-Kunst und Konstruktion. Damit sind aber die beiden zentralen Richtungen beschrieben, die für nahezu jeden innovativen Künstler der Nachkriegsjahre den traditionellen Background abgaben. Und gerade Schwitters ist für viele Künstler, wie man aufgrund expliziter Aussagen weiß, bis heute einer der interessantesten und ergiebigsten Anknüpfungspunkte aus der historischen Avantgarde geblieben. Von daher ist schwer zu entscheiden, ob die Aufgabe, die sich das Kuratorium gestellt hat, überhaupt zu lösen wäre. Die Wirkungsgeschichte Schwitters kann notwendig wohl nur in Auswahl präsentiert werden, vielleicht aber wäre weniger - und dies stärker auf die unmittelbar einleuchtenden "Aha"-Effekte konzentriert - auch in diesem Falle mehr gewesen.