Der Autor und Performer Enno Stahl berichtet vom 5. Baltischen Performance-Festival “Time Space Movement, einer Art Road-Movie-Festival, das aus einer 72-stündigen Busfahrt durch die baltischen Länder mit diversen Veranstaltungseinlagen bestand.
Die Einladung klang vielversprechend: Geld werde es nicht geben, weder Honorar noch Reisespesen, kein modernes Equipment, keine besondere Verpflegung, auch kein bequemes Bett. Ja, womöglich nicht einmal angenehme Gesellschaft. Nur ein dreitägiger Bustrip durch die "neuen kapitalistischen Bananenrepubliken" des Baltikums, unterbrochen von verschiedenen "Stand-Up"-Performances auf öffentlichen Plätzen oder Straßen. Kurz: meine Neugier war geweckt.
Am 13.6. nach dem dritten Aufruf gerade noch ins Flugzeug geschlüpft, einen mehrstündigen Aufenthalt in Helsinki mit überteuerten Ultralight-Bieren überbrückt, stehen wir schliesslich am Tallinner Flughafen. Davor liegt die Ostsee grau und stumpf, Wind und Regen fegen über den Vorplatz, nur 10 Grad, die Erinnerung ans sonnige Köln desselben Morgens erwacht heftig.
Mit dem Taxi zum Busterminal, wo wir eine erste estnische Rast einlegen, pappige Pommes, lässliche Soljanka und ein unauffälliges Bier für 59 Kronen, etwa 7,40 Mark. Kurze Zeit später weiter nach Pärnu, als Gründung des Deutschens Ordens früher Pernau genannt, bei Finnen und Esten geschätzter Kur- und Badeort, der sehr praktisch am gleichnamigen Meerbusen liegt und uns prompt mit mildem, serenem Klima empfängt.
Munterbunte Häuser heissen uns willkommen, gemahnen eher an schwedische Dörfer als an eine ehemalige Soviet-Republik - Ferien auf Saltkrokan. Auch die Menschen sind aus Bullerbü, allen voran unsere Gastgeber von der freien Akademia Non Grata - freundlich, sehr zurückhaltend und blond. Sie bewohnen und bearbeiten ein runtergekommenes Ex-Kinderheim, eine Art Tacheles in der Provinz, das demnächst jedoch offizielle Zweigstelle der Tallinner Kunstakademie wird.
Gegründet wurde die Akademie 1993 als Kunstklasse des Pärnuer Gymnasiums von Margus Tiitsma alias Sorge. Nach deren Schließung 1998 existierte sie zunächst als private Hochschule fort. Das Curriculum umfasst traditionelle Malerei und Ästhetikkurse. Ansonsten legt die Methodik starkes Gewicht auf die Performancekunst, nicht um alle der 40 Studenten auf diesen Bereich einzuschwören, sondern damit sie sich selbst und ihre Umgebung durch unmittelbare körperliche und spirituelle Erfahrungen anders wahrnehmen.
Die Begrüssungsfeierlichkeiten beinhalten Wurstgrill, improvisierte Klaviermusik und natürlich einigen Wodka, der im Laufe eines Gangs durchs Dorf eingenommen wird und bei den Beteiligten für zeitweilige Verstörungen sorgt. Die restlichen beiden Tage verstreichen gemächlich bei Meeresaufenthalten und nicht immer einfachen Kommunikationsversuchen mit englisch oder deutsch radebrechenden Partnern. Ein Besuch des Pärnuer Museums der Modernen Kunst offenbart estnischen Pragmatismus. Der Kunst - aktuell “Frauen- und Männerbilder, unter anderem von Mapplethorpe, Witkin inklusive drastischer homophiler Zeichnungen Jean Cocteaus - sind einige Säle im Erdgeschoss und das Treppenhaus vorbehalten, daneben finden sich zahlreiche kleine Büros kommerzieller Unternehmen in den oberen Stockwerken.
Am 16.6. finden wir uns dann mit der Non Grata-Gruppe pünktlich zum Festivalbeginn in Paide ein, einem kleinen Städtchen mit mittelalterlicher Festungsruine, auch sie ein Relikt der frühen deutschen Kolonisation. Hier soll der Auftakt zur wilden Performancereise durch das Baltikum gelegt werden, wovon zunächst wenig zu spüren ist, die Organisatoren vor Ort kümmern sich nicht weiter um uns. Dafür gibt es junge Hostessen, die des Englischen oder Deutschen mächtig sind, einige von ihnen, so hören wir, haben unsere Sprache durch regelmäßigen Konsum von PRO 7 gelernt, das sie über Satellit empfangen, Stefan Raab also auch hier.
Es sind Teilnehmer aus verschiedenen Ländern angereist, darunter international bekannte Performer wie der Ungar Josef Biro und die Finnen Irma Optimist und Roi Vaara. Letzterer erscheint im schwarzen Smoking und trägt an einem Halsband einen zehn Kilo schweren Findling mit sich, den er bereits sechs Tage über die Biennale in Venedig geschleppt hat und auch hier nicht ablegen wird. Der Programmverlauf nimmt sehr träge seinen Gang, dafür ist das Wetter prächtig und die mystischen Gemäuer der alten Burg, wo 1343 gleich vier baltische Stammesfürsten von den Ordensrittern erschlagen wurden, sorgen für ein anregendes Ambiente. Spärliche Mahlzeiten und am Ende im Rittersaal des frisch renovierten Festungsturms ein leidenschaftliches Basketballspiel der Non Grata-Nudisten gegen die Anzugmänner der estnischen Künstlergruppe “Vedelik (=Flüssig). Es werden unbarmherzig vier volle Viertel ausgespielt, ein guter Zeitvertreib, bis der ziemlich moderne Reisebus vorfährt und uns gegen zwei Uhr morgens nach 14 Stunden Programm zurück nach Pärnu kutschiert.
Dort Ankunft um vier Uhr morgens im “Kunst Platze Una Bomber. Im Licht der hellen Mittsommernacht wird man genötigt, ein persönliches Relikt zurückzulassen im Tausch gegen einen Saugnapf voll Absinth, der nach einem schwer zu befolgenden Ritual verkostet wird. Erneut werden einige Performances dargebracht, zwei lettische Mädchen von Non Grata liegen nackt unter der estnischen Flagge, irgendwie ziehen sich hier zuviele aus. Ich bin froh, dass ich mich bei meiner Rotier- und Lautdichtung nicht auf die Nase lege. Ohne Unterlass geht es weiter nach Riga. Lesen oder gar Schlafen wird von Non Grata als unangemessenes Verhalten betrachtet, deshalb gibt es ständig Lautsprecherdurchsagen, postkommunistische Unterweisungen auf Eesti.
Riga erscheint am 17.6. um neun Uhr morgens als feuchte, schmuddelige Großstadt mit schwelenden Schornsteinen, futuristischen TV-Türmen und Brücken-Konstruktionen.
Andere Zeit, anderes Geld, statt durch acht zu teilen, müssen wir nun mal vier rechnen. Wir kehren im edlen Hotel Daugava ein, um Geld zu wechseln und einem üppigen Brunch zuzusprechen. Es regnet immer stärker, die ersten Außenperformances beim lettischen Veranstaltungspartner NOASS, einer Hausbootgalerie, bescheren uns nasse Füße. Drinnen liefern H2System aus Deutschland einen Beitrag zum Thema `Leben unter Wasser´: sie tauchen ihre Köpfe abwechselnd so lange in Wassereimer, wie sie es aushalten, was nach fünfzehn Minuten zu Schwindeln und Kreislaufstörungen führt. Beate Ronig aus Köln karrt einen toten Fisch durch Gegend und erklärt auf putzige Weise, wieso er und seinesgleichen vom Aussterben bedroht sind.
Von der Altstadt Rigas bekommen wir nichts zu sehen, denn ein Missverständniß läßt uns zwei Stunden vergeblich darauf warten, dass uns Non Gratas Chef-Koordinator Paltrok abholt. Um 15 Uhr geht es fahrplangemäß weiter nach West-Lettland, Pedvale Open Air Museum nahe Sabile. Ein ebenso ungewöhnliches wie anmutiges Terrain mit zeitgenössischen Skulpturen, die sich auf 150 ha unberührter Natur verteilen, mit Hotel und Restauration ist der Ort touristengerecht aufgemacht. Es regnet noch immer, das Festival zerfasert, schon aufgrund des riesigen Areals. Man kann sich seine Auftrittsorte selbst aussuchen und auf einer topographischen Karte verzeichnen, aus der eine zeiträumliche Programmlinie entstehen soll. Das geschieht nicht. Paltrok lässt sich nicht mehr blicken, schläft vielleicht - erst später taucht er im Rahmen einer Gruppenperformance wieder auf, eingewickelt in Folie mit einem Schweinekopf vorm Gesicht. Trotz der Desorganisation finden sich allmählich an die 60 Zuschauer auf freiem Felde ein, die in langen Karawanen, gewappnet mit Regenschirmen, für Stunden von Spielort zu Spielort pilgern. Zum Abschluss folgen spontane Volkstänze der Letten, erst jetzt erkennt man eine andere, etwas balkanische Mentalität, die lebenslustiger anmutet als die reservierte Art der Esten. Einige dänische Hotelgäste sind mitgerissen vom Performance- und Tanzgeschehen in der ländlichen Einöde - man hört sie noch die halbe Nacht mit Roi Vaara und Josef Biro spirituosenbefeuerte Indianergesänge heulen.
Das eigene Hotelzimmer mit Bett und Bad erscheint als Luxus, der richtig glücklich macht. Schwer zu verstehen, wo wir doch nur wenige Nächte unter Minimalbedingungen zugebracht haben. Der Mensch passt sich sehr schnell an.
Am Morgen, dem 18.6. um zehn Uhr, sitzen wir erneut im Bus, Vilnius als nächste und letzte Etappe steht an. Zur Verkürzung der vielstündigen Fahrt werden Videomitschnitte vom ersten Tag in Paide gezeigt, das ist mehr Performance, als man sich wünschen würde. Echte Kommunikation findet bei der multi-nationalen Reisegruppe dagegen wenig statt, eigentlich nur unter den erfahrenen Künstlern, ansonsten bleiben die Völker unter sich. Die Non Grata-Leute kapseln sich mehr und mehr ab, die schwedischen, finnischen und lettischen Nachwuchskräfte sowieso, und die estnischen Reiseanhängsel in unklarer Funktion sind ausschließlich an Wodka interessiert. Sie sammeln täglich neue Blessuren und der Alkohol dringt ihnen aus allen Poren, was den Kontakt erschwert.
Lettland, zumindest vom Bus aus, wirkt disparater und trostloser als Estnien, die Soviet-Vergangenheit ist hier noch näher, das belegen auch die Wirtschaftsdaten. Der nächste Höhepunkt ereignet sich an der litauischen Grenze, die Non Grata-Leute ziehen sich aus, einmal mehr, und ketten sich aneinander. Zu ihrem Verdruß kostet das den Grenzbeamten nur ein müdes Lächeln und wir können durch. Um noch eins drauf zu setzen, lassen sie den Bus halten, und der ganze Nacktentroß steigt aus, posiert auf dem Parkplatz. Nun reagieren die Grenzer wie gewünscht, zweimal ist einmal zuviel. Großes Gezeter, der Bus muß zum Zollhaus, alle Sachen raus. Das Maß der in Aussicht gestellten Sanktionen reicht vom fünfstündigen Gepäckcheck bis zum Einreiseverbot und damit Ende des Festivals. Ob sie das erreichen wollten? Helge Meyer von H2System nennt diese Nummer treffend einen Abischerz.
Zum Glück sind die Zöllner gnädig, sie lassen uns nach einer Stunde weiterfahren. Dennoch kommen wir vier Stunden zu spät in Vilnius an, um 19 Uhr (jetzt wieder zeitgleich mit Estland). Die litauischen Veranstaltungspartner sind verschwunden, auch hier nämlich regnet es in Strömen. Wir sehen nichts von der Stadt, nur die imposante St.-Stanislaus-Kathedrale im Vorbeifahren. Paltrok meint, wir sollten uns in der Altstadt verteilen und Dinge tun. Wir fragen uns wozu, bei diesem Wetter. Mit einer größeren Schar ziehen wir statt dessen in eine Pizzeria, die Stimmung ist gut: zehn Stunden Fahrt für mäßiges italienisches Essen.
Die Zeit der neuerlichen Abfahrt rückt unaufhaltsam näher, weitere zwölf Stunden bis Tallinn stehen uns bevor. Als wir aus dem Ristorante treten, hat der Regen aufgehört. Ein Straßensänger spielt, umgeben von litauischen Jugendlichen in Bomberjacken, und auf einmal springt Josef Biro auf die Straße und beginnt mit seiner Performance, H2System entscheiden kurzerhand mitzutun. Da kenne auch ich kein Halten mehr, Irma Optimist drückt vier Neo-Nazis ihre überdimensionalen Skistöcke in die Hand, darüber ist eine Plane gespannt. Roi Vaara vollführt Kapriolen mit seinem Schandstein. Wie eine Eruption entlädt sich eine spontane Gruppenaktion, an der immer mehr Leute teilnehmen, in die immer mehr der Anwesenden eingebunden werden. Die Anrainer der Altstadtstraße treten vor ihre Häuser und Geschäfte, Passanten zuhauf bleiben stehen, die Polizei braust heran, hält sich jedoch zurück.
Das Ganze zieht vorbei wie ein Gewitter, zwanzig Minuten nur, aber mit großer Intensität. Dann anerkennende Worte der jungen Faschisten, donnernder Applaus des Zufallspublikums in unserem Rücken, denn wir sind bereits auf dem Weg zum Bus, müssen vor zwölf Uhr mittags zurück in Tallinn sein. Um 21:45 MEZ springt alles in das Reisegefährt, eine weitere Stadt, von der nichts bleibt als eine einzige Straße, aber die hatte es in sich.
Die Ländergrenzen kommen und gehen, die Zeit ist eine Wellenbewegung nach Breitengraden. An den Tankstellen muß man die passenden Münzen aus dreierlei Resten herausfischen. Partyähnliche Stimmung nach diesem letzten Akt, anschließend ein kurzer, komatöser Schlaf und ein tristes Erwachen, Wassergarben klatschen an die Scheiben: Tallinn. Die Busbelegschaft ist erheblich geschmolzen, die Non Grata-Mitglieder sind in Pärnu ausgestiegen, ohne Gruß, auch nicht für diejenigen, die wach waren.
Es bleibt der Abschied von der deutschen Gruppe am Hafen, dann trotten wir hinaus in den Regen - am Tag danach.