Bodo Mrozek: Die Akte Caravaggio
Erschienen am Freitag, den 27. Juli 2001 in der Frankfurter Allgemeinen
Zeitung Nr. 172, Seite BS 1 und 3.
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Die Akte Caravaggio
Bei Kriegsende verschwanden 434 Meisterwerke der Gemäldegalerie: Sind sie verbrannt? Sind sie in Amerika?
Große Schätze verfügen über die Aura des Geheimnisvollen. Nicht nur um Pharaonengräber und sagenhafte Goldschätze versunkener Kulturen ranken Mythen und Legenden, auch die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts ist reich an ungeklärten Geheimnissen. Die Ausstellung "Caravaggio in Preußen", derzeit im Berliner Alten Museum zu sehen, wirft solche Rätsel auf - wenn man denn nach ihnen fragt. Das eigentliche Ereignis der Schau ist die Wiedervereinigung von Teilen der Sammlung Giustiniani, Prunkstücke sind deren Caravaggio-Gemälde. In der Zusammenstellung der Stücke aus Berlin, Potsdam, Petersburg und Wien klafft aber eine sichtbare Lücke. Eine schlichte Ausstellungstafel beklagt den Verlust von drei Gemälden: "Vermutlich 1945 verbrannt im Flakturm Friedrichshain", heißt es dort lakonisch. Allein das kleine Wort "vermutlich" könnte Thema für eine eigene Ausstellung sein, denn die Frage nach den fehlenden Gemälden führt in die rätselhafte Geschichte eines der größten Desaster für die internationale Kunst.
Berlin verfügte einmal über eine stattliche Zahl an Caravaggios. Als Friedrich Wilhelm III. im Jahre 1815 in Paris 158 Gemälde aus der Sammlung Giustiniani als Trophäen erwarb und damit den Grundstein für Berlins erstes öffentliches Museum in Schinkels Altem Museum am Lustgarten legte, waren darunter allein fünf Bilder des Malers Michelangelo Merisi, nach seinem Geburtsort kurz Caravaggio genannt. Bei der ersten Präsentation in der Berliner Akademie der Künste im Mai 1816 hob der Festredner Aloys Hirt gegen den herrschenden Geschmack seiner Epoche gerade Caravaggio als einen "vortrefflichen" Künstler heraus. Doch ausgerechnet heute, wo Teile der Sammlung für die Dauer der Ausstellung neu vereint wurden und der schulbildende Rang Caravaggios unbestritten ist, sind drei seiner Gemälde noch immer verschollen: der "Apostel Matthäus mit dem Engel", "Christus am Ölberg" und das skandalumwitterte Hetärenporträt einer jungen Frau "Fillide".
Die letzte Spur dieser berühmten Werke führt nach Friedrichshain, in den 1848 nach einer Idee von Lenné angelegten Volkspark. Dort erheben sich heute zwei dichtbegrünte Hügel, die in weniger belaubten Jahreszeiten einen schönen Panoramablick auf die Stadt bieten. Nur an einigen Stellen verraten rissige Betonwände noch das militärische Fundament der Plattformen: Unter mehr als zwei Milliarden Kubikmeter Trümmerschutt verbergen sich zwei Flugabwehrtürme mit tief in die Erde reichenden Bunkern. Sie wurden nach den ersten britischen Luftangriffen auf Berlin im Winter 1940 im Bezirk Friedrichshain, der damaligen "Horst-Wessel-Stadt", errichtet. Nach dem Krieg sprengte man die steinernen Monstren. Der kleinere der beiden Hügel ist der Tatort einer historischen Kriminalgeschichte von internationaler Bedeutung. Als ein unrühmlicher Ort des Verschwindens ging er in die Museumsgeschichte ein.
Während des Zweiten Weltkriegs war der Bunker eines der bedeutendsten Kunstdepots. Schon Anfang 1942 hatte Carl Weickert, damals stellvertretender Generaldirektor und Luftschutzbeauftragter der Berliner Museen, die Auslagerung der Berliner Museumsbestände angewiesen: in den Flakturm Zoo, den Tieftresor der Neuen Münze und den Leitturm der Friedrichshainer Flakstellung. Auf 735 Quadratmeter Fläche lagerten hier unter strenger Geheimhaltung Bestände der Gemäldegalerie und die wertvollsten Stücke aus dem Schloßmuseum, Kupferstichkabinett, Kunstgewerbe- und Völkerkundemuseum.
Zwischen dem 5. und dem 18. Mai 1945 verwandelte sich der Bunker in den berüchtigten "Hochofen vom Friedrichshain": Bei mehreren Bränden verbrannten angeblich etliche Originale. Allein zehn Gemälde von Rubens, sechs von van Dyck, drei von Veronese, weitere von Contarini, Caspar David Friedrich, Adolph Menzel und auch die drei Gemälde von Caravaggio gingen demnach in Rauch und Flammen auf. Nach offizieller Version sollen Angehörige der SS die Brände gelegt haben, ein Bericht spricht von "an der Panzerfaust ausgebildeten Jungs, die das Innere des Turmes mit Flammenwerfern angezündet" haben. Diese Erklärung deutet auf eine sogenannte Werwolf-Aktion fanatisierter Angehöriger der NS-Truppen hin, die nach dem Prinzip "verbrannte Erde" auch Kunstschätze lieber vernichten wollten, als sie den Sowjets in die Hände fallen zu lassen. Bis heute findet sich diese Version in Standardwerken zur Museumsgeschichte. Bis heute wird sie immer wieder bezweifelt.
Einer der vehementesten Zweifler ist Klaus Goldmann. Der erst kürzlich pensionierte Oberkustos am Museum für Vor- und Frühgeschichte hat sich als moderner Schatzsucher einen Namen gemacht - er forschte über den Schatz des Priamos oder die versunkene Stadt Vineta. Der "senior curator", wie ihn das Museumsjournal einmal nannte, gilt als Detektiv unter den Forschern, der mit geradezu kriminalistischen Methoden nach verlorenen Kunstschätzen sucht und einige Erfolge aufweisen kann. Mit dem Friedrichshainer Flakbunker beschäftigt er sich seit Jahrzehnten. "Ich kann mit hundertprozentiger Sicherheit ausschließen, daß die Gemälde im Friedrichshain verbrannt sind", glaubt Goldmann heute.
Tatsächlich ist die Geschichte vom Bunkerbrand an Widersprüchen und Ungereimtheiten reich. Als die Brände ausbrachen, war Berlin bereits von den Sowjets besetzt. Generaldirektor Otto Kümmel besichtigte am 7. Mai den Bunker, einen Tag nachdem der erste Stock ausgebrannt war. Er habe den zuständigen Sowjet-Major "angefleht", den Turm zu bewachen, vertraute er einem Bericht an, "damit kein weiterer Brand ausbräche". Mitte Mai brannte der Turm abermals, diesmal erfaßten ihn die Flammen in allen Geschossen. Angeblich waren keine Wachen dort. Der Kümmel-Bericht, bislang eines der zentralen Dokumente, wirft Goldmann zufolge aber mehr Fragen auf, als er Antworten gibt. Warum sollten die Russen mit einem Depot wertvollster Güter derart fahrlässig umgegangen sein, während andere Kunst-Depots wie der Flakturm Zoo unter strengster Bewachung standen? Auch dürften versprengte SS-Leute in den Tagen nach der Befreiung Berlins andere Sorgen geplagt haben als die Vernichtung von Kunstschätzen - zudem war die Einlagerung streng geheim.
Vielleicht, so vermuten Skeptiker deswegen immer wieder, wurde der Brand zur Vertuschung eines Kunstraubes mit Millionenbeute gelegt. Solche Beispiele gibt es viele. Auch der Scheiterhaufen von Paris, auf dem die deutschen Besatzer 1943 angeblich Gemälde der Avantgarde geopfert hatten, war nur ein Strohfeuer, denn die Kunst wurde von den Nazis heimlich verhökert. Sollte auch der Leitturm zur Zeit des Brandes bereits leer gewesen sein? Indizien deuten dies an: So tauchte in Archiven ein Dokument von Carl Weickert aus dem Jahr 1946 auf, in dem der Direktor zu Protokoll gibt, die Russen hätten festgestellt, daß die "Brandlegung mit Wissen der Museumsleitung vorbereitet worden sei". Es seien "mehrere Zündkörper durch ein Leitungsnetz miteinander verbunden worden". Namen oder Gründe werden allerdings nicht genannt.
Eine andere Variante deutet auf einen Abtransport der Russen, deren "Trophäenkommission" bekanntlich reiche Beute in Deutschland machte. Doch befaßte sich der sowjetische Militärgeheimdienst S.M.E.R.S.H. nach den Bunkerbränden eingehend mit dem Fall, der den Sowjets höchst peinlich war. Der russische Restaurator Iwanow-Tschuronow hatte mit dem Kunsthistoriker Viktor Blawatzki den Bunker untersucht, mittlerweile kennt man seine Berichte. Ihm bot sich ein Bild der Zerstörung: zerschmolzene Bronzen, pulverisierte Marmorplastiken, zerbrochenes Glas. "An einigen Stellen lag eine neunzig Zentimeter dicke Schicht weißer, flockiger Asche auf dem Boden. Hier und da lagen Porzellanstatuetten", schrieb er. "Da es immer spannender wurde, begannen wir uns in die Tiefen der Mörtelschicht vorzuarbeiten und fanden kleine Scherben mit interessanten Verzierungen." Die Untersuchungen gingen nur schleppend voran. Ganze Horden von Plünderern, so berichtet Blawatzki, drangen in den Bunker ein und gruben sich auf der Suche nach Vorräten oder Kleidung ungehindert durch die Schuttberge.
Vierzig Kisten füllten die Archäologen dennoch mit Fundstücken, darunter der Satyr aus Pergamon und antike Bronzen von Paros. Bis zur endgültigen Bergung verstrichen aber weitere sechs Monate, weil Blawatzki rätselhafterweise "dringend abberufen" wurde. Erst im Dezember kam er mit dem Archäologen Pjotr Sokolski wieder und sicherte bis März 1946 rund 10 000 Objekte, die teils ins Puschkin-Museum geschickt wurden. Nach alldem Aufwand, den die Russen trieben, um zu ergründen, was im Flakturm verbrannte, ist es äußerst unwahrscheinlich, in ihnen die Brandstifter zu suchen. Die Sowjets selbst beschuldigten vielmehr die Deutschen, und Blawatzki kam zu dem Schluß, es sei "eine brennbare Flüssigkeit" eingesetzt worden.
Mitte der neunziger Jahre gelang es einer Expertenkommission im Auftrag des Innenministeriums, Einblicke in die lange verschlossenen Akten der Sowjets zu erhalten. Auch der unveröffentlichte Bericht dieser Kommission, der dieser Zeitung nun in Auszügen vorliegt, ergab, daß die Russen ein Team von zehn Archäologen beschäftigten, um die Friedrichshainer Fundstücke auszuwerten. In den geheimen Unterlagen findet sich, soweit sie bekannt wurden, kein Hinweis auf die Gemälde. Der Untersuchungsbericht kommt zu dem nüchternen Schluß: "Vermutlich entstand das Feuer, als Plünderer im Schutz der Dunkelheit Fackeln im Innern des Gebäudes entzündeten."
Doch nicht nur Plünderer interessierten sich für den Friedrichshain, auch die amerikanische Militärverwaltung hatte Zugang, wie der inzwischen aufgefundene Bericht eines MFAA-Offiziers belegt. Als zwei Offiziere mit einem Jeep unmittelbar nach Ende der Kampfhandlungen in die sowjetische Zone fuhren, um den Bunker zu besichtigen, empfing sie demnach ein von den Sowjets zwangsverpflichteter Wachtposten. Der "einäugige polnische Gentleman" habe die Amerikaner mit großer Geste zum Eintritt eingeladen und ihnen mit den Worten "Alles hier drin gehört Ihnen" etliche Souvenirs überreicht: unter anderem ein Relief aus der Renaissance, Meißner Porzellan und mehrere griechische Terrakotten. Die Amerikaner griffen zu. Als sie noch einmal zurückkehrten, angeblich weil sie ihre Taschenlampe vergessen hatten, gab es obendrein noch "eine bronzene Aphrodite als persönliches Geschenk des polnischen Gastgebers, das ich nicht ablehnen konnte", erinnerte sich der amerikanische Offizier. Bei einem dritten Abstecher offerierte der großzügige Posten, den die Militärs diesmal "mit einer Begleiterin im Schlaf" vorgefunden haben wollen, noch einen "köstlichen" heiligen Johannes von Francesco di Giorgio.
Aber kann man diese heiteren Anekdoten glauben? Immerhin traf auch der britische Kunstschutzoffizier Christopher Norris den polnischen Flüchtling noch im August 1945 als Wachtposten an. Die amerikanischen Offiziere wollen ihre Beutestücke später ausnahmslos den deutschen Kustoden übergeben haben. Was aber wurde aus den Gemälden, die auch in diesen Berichten nicht auftauchen? Vielleicht waren sie zu der Asche zerfallen, die den Boden so hoch bedeckte. Möglich ist aber auch, daß sie den Friedrichshain längst verlassen hatten. Denn als die Panzerverbände der Roten Armee auf Berlin zurollten, hatte man tatsächlich nicht nur das Reichsbankgold, sondern auch viele wertvolle Kulturgüter längst aus der Stadt gebracht. Ein "Führerbefehl" vom 6. März 1945 verfügte die "Sicherung" von Kunst- und Kulturgütern. Kurz darauf transportierte man Lagerbestände aus dem Zoo, der Münze und dem Friedrichshain in die Schächte von Kaiserroda, ein Kalibergwerk bei Merkers in der Rhön. Verantwortlich war abermals Direktor Weickert. Er hinterließ eine Liste, die mehrere Transporte vom Leitturm nach Merkers dokumentiert.
Bis heute fehlen Frachtlisten, die Auskunft über den Inhalt der Lastzüge und Busse erteilen könnten. Die russischen Autoren Konstantin Akinscha und Grigori Koslow zitieren in ihrem 1995 erschienenen Buch "Beutekunst - Auf Schatzsuche in russischen Geheimdepots" einen amerikanischen Offizier: "Die Russen holten aus den Museen der Museumsinsel (. . .) Katalogkarten für viele Gegenstände, die nicht mehr in Berlin, sondern nach Merkers evakuiert waren." Die Begründung dafür sei "vielleicht einfach", schließt dieser Bericht, indem er nebulös auf absichtliche Vertuschung deutet. Wie aber sollten die Russen auf Merkers zugegriffen haben? Oder hatten manche Lieferungen Merkers nicht erreicht?
Als die 3. Armee der US-Streitkräfte im April 1945 das Kalibergwerk Merkers bei Bad Salzungen einnahm, einen Monat bevor der Bunker brannte, fanden die US-Soldaten nicht nur die Goldbarren der Reichsbank, sondern auch Hunderte Gemälde vom Friedrichshain. General Eisenhower eilte persönlich zur Ortsbesichtigung, und die amerikanische Zeitschrift "Newsweek" berichtete 1945 von einem "modernen Nibelungenhort" in Kaiserroda: "In den unterirdischen Gewölben lagen (. . .) Originalgemälde von Raffael, Rembrandt, van Dyck, Dürer und Renoir." Vieles stammte aus dem Friedrichshain und wurde von den Amerikanern ohne Wissen der Sowjets kurzerhand aus dem bereits in Jalta als "Sowjetische Zone" deklarierten Gebiet geschafft. Von mehr als 434 großformatigen Gemälden der Spitzenklasse aus dem Berliner Flakbunker fehlte jedoch jede Spur. Der Kümmel-Bericht vom November 1945 erklärt sich das spurlose Verschwinden so: Die Gemälde hätten im Flakbunker zurückbleiben müssen, weil sie für die Förderkörbe in den Schächten zu groß gewesen seien. Diese Version übernimmt auch noch das Standardwerk über die Kriegsgeschichte der Berliner Museen "Bergung - Evakuierung - Rückführung" aus dem Jahre 1984. Die Autorin und ehemalige Museumsdirektorin Irene Kühnel-Kunze vermutete, daß große Formate, darunter auch die von Caravaggio, zurückbleiben mußten, weil sie in sperrigen Kisten verpackt waren. Auch der offizielle Verlustkatalog schließt sich dem an.
Neuere Forschungen schenken dieser Theorie keinen Glauben, allen voran die Recherchen des Berliner Publizisten Günter Wermusch. Auch Wermusch ist ein Schatzsucher, seine Schriften handeln von Diamanten, Edelmetallen, Falschgeld und dem ominösen Bernsteinzimmer. Über das Rätsel vom Flakturm forschte Wermusch schon in der DDR. In akribischer Arbeit rekonstruierte er die Maße sämtlicher verschwundener Gemälde und fuhr in die Schächte in Merkers. Keines der Gemälde, so bestätigte ihm der amtierende Bergwerksdirektor, sei zu groß gewesen für die Förderkörbe - nicht mal in gerahmtem Zustand. Das Caravaggio-Bild "Apostel Matthäus" maß genau 223 mal 183 Zentimeter, der "Christus am Ölberg" noch weniger. Die Amerikaner hatten aber in den Körben sogar Jeeps und Traktoren transportiert. Und noch ein weiteres Puzzlestück spricht dafür, daß die Gemälde den Flakbunker bei seinem Brand bereits verlassen hatten. Es sind Briefe des Restaurators der Gemäldegalerie, Werner Tschirch, der als Gefreiter der Etappe die Flaktürme im Friedrichshain bewachte. Bei seiner Witwe fanden sich Briefe an die Familie, in denen Tschirch einmal von der "vollständigen Räumung meiner Kulturklause" schrieb, und dies in einem weiteren Brief vom 8. April wiederholte. Waren die Kammern mit den Gemälden also bereits geräumt? Tschirch hätte Auskunft geben können, doch er kam im April 1945 unter ungeklärten Umständen ums Leben.
Wenn die Gemälde aber weder in Berlin verbrannten noch Merkers je erreichten, wo sollten sie dann verschwunden sein? Hier verzweigt sich die Geschichte in verschiedene Theorien. Manche erinnern stark an verschwörungstheoretische Szenarien. Die Verhältnisse in den chaotischen Tagen der Befreiung Berlins rücken aber selbst phantastisch klingende Hypothesen in den Bereich des Möglichen.
Manche Experten verdächtigen die Westalliierten, besonders die USA. Man hatte die Transporte in sichere Bergwerke angeordnet, obwohl der Flakturm als bombensicher galt. Der eigentliche Grund für den Transport nach Westen mag in der damaligen Praxis wurzeln, unersetzliche Vermögenswerte lieber den Amerikanern zuzuspielen, als sie in die Hände der Sowjets fallen zu lassen. Nach den verheerenden Zerstörungen und Diebstählen deutscher Kunstdiebe in Europa, etwa des berüchtigten Einsatzstabes von Reichsleiter Alfred Rosenberg, fürchtete man mit gutem Grund die Vergeltung.
Beschlagnahmung von Kunst untersagte bereits die Haager Landkriegsordnung von 1907. Doch nicht nur die Russen, auch die Amerikaner sicherten sich an dem Abkommen vorbei etliche Kunstschätze. Der Kunstraub unter "Verbündeten" war in Zeiten von West-Bindung und Kaltem Krieg weitgehend ein tabuisiertes Thema. Der öffentliche Dienst drohte seinen Mitarbeitern schon mal mit Disziplinarverfahren, wenn sie an diesem heißen Eisen zu sehr forschten, selbst an allerhöchster Stelle der Bundespolitik reagierte man dem Vernehmen nach mitunter nervös. Mittlerweile sprechen aber selbst amerikanische Forscher, die Zugang zu den Archiven der CIA und des Militärgeheimdienstes CIC erhielten, von "massivster Gegenplünderei in der Geschichte der Zivilisation". Die heimliche Reparation war von höchster Stelle legitimiert: Nach den Worten von US-Präsident Harry S. Truman wollten die USA Kunstwerte "treuhänderisch für das deutsche Volk verwahren". Tatsächlich aber sollten im November 1945 unter dem klangvollen Decknamen "Westward Ho" nicht weniger als 202 der wichtigsten Gemälde in die USA geflogen werden. Erst das "Wiesbadener Manifest" auf Initiative des US-"Kunstschutzoffiziers" Walter Farmer sicherte die Rückkehr dieser und anderer Kunstschätze. Die USA, so hieß es darin, dürften nicht die gleichen Methoden anwenden wie die deutschen Kunstdiebe unter ihrer NS-Führung.
Der Verlust der Caravaggios ereignete sich aber bereits Monate vor dem Wiesbadener Manifest. Im Archiv des Instituts für Zeitgeschichte fand sich das Foto eines Geheimdokuments mit dem Siegel "Eyes only" - streng geheim. Es ist die Kopie eines Schreibens von General Marshall an General Eisenhower. Weil amerikanische Streitkräfte Goldbarren und Kunstschätze erbeutet hätten, wird darin eine Untersuchung angeordnet. Günter Wermusch meint, daß es sich hier um das Depot in Merkers handelt. Zu den Truppen, die Merkers einnahmen, gehörte nach seinen Erkenntnissen auch eine "Target Force"- Einheit, die auf "Operationen, die man nicht zugeben durfte", spezialisiert war, und einem "Gemeinsamen Untersuchungsausschuß für Geheimdienstziele" (CIOS) von Briten und Amerikanern unterstand. Sie beschlagnahmte dort Akten über die Einlagerungen, aus denen vielleicht hervorgeht, ob die Caravaggios Merkers je erreichten, doch sie werden angeblich bis heute in CIA-Archiven geheimgehalten.
In den USA, so meinen manche Kunstexperten, lagern noch immer viele Gemälde. Der Quedlinburger Domschatz, einst von einem amerikanischen Soldaten aus einem deutschen Bergwerksstollen geraubt, ist nur das prominenteste Beispiel dafür, daß selbst nach Jahrzehnten auch Kunstschätze der Spitzenklasse wiedergefunden werden können. Und schließlich haben auch andere Caravaggio-Gemälde wahre Odysseen hinter sich: So tauchte das Bild "Gefangennahme Jesu", verschollen schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts, völlig unvermittelt 1993 in Dublin wieder auf. Der in Südfrankreich lebende Kunstdetektiv Clemens Toussaint, der sich auf die Wiederbeschaffung von Beutekunst spezialisiert hat und sich als erfolgreicher Kunstfahnder einen internationalen Namen gemacht hat, findet diese Theorie jedoch "absurd". Er hält es für "absolut unwahrscheinlich", daß es in den USA irgendwelche geheimen Kunstlager offizieller Institutionen gibt. Für "private" Diebstähle und Hehlereien von Militärangehörigen kennt aber auch er etliche Beispiele.
Eine weitere mysteriöse Episode, die Experten immer wieder in Zusammenhang mit den verschwundenen Gemälden bringen, berichtet ein ehemaliger Soldat der Luftwaffe, der im März 1945 einen mit Flakkanonen bestückten Eisenbahnzug begleitete. Kraftwagen fuhren zu dieser Zeit kaum noch, denn Rüstungsminister Albert Speer hatte eine Benzinsperre verhängt. Nach den Erinnerungen des Zeitzeugen luden Offiziere in der Uniform von Hermann Görings Luftwaffe in der Nähe von Potsdam Verschläge mit Gemälden auf den Zug, die von einem havarierten Kohledampfer stammten, der bei Sacrow entladen wurde. Der Soldat verließ den Zug bei Magdeburg, wo sich die Spur des mysteriösen Transports verliert. Goldmann und Wermusch prüften die Angaben des Soldaten nach und halten sie trotz einiger Ungereimtheiten für "absolut glaubwürdig". Welche Kunstgegenstände transportierten hier hohe deutschen Militärs in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aus Berlin heraus, und vor allem: wohin? In Archiven fanden sich Anträge auf Treibstoff für den Transport, doch fehlen alle weiteren Unterlagen über den Flakzug. Nach Meinung von Goldmann wurden diese Unterlagen systematisch beseitigt. Der Soldat selbst will sich heute nicht mehr äußern. Die Nachfahren von Angehörigen aus dem Kreis um Hermann Göring könnten sich bessere Anwälte leisten als er, begründet er sein Schweigen vielsagend, er wolle "keinen Ärger mehr" haben. Haben ehemalige Nazi-Funktionäre die Bilder beiseite geschafft, vielleicht im Auftrage des Kunstsammlers Göring, oder liegen sie womöglich noch in irgendwelchen geheimen Depots in Deutschland?
Eine milde Hoffnung ruhte immer wieder auf vergessenen oder verschütteten Bergwerksstollen. Anfang der neunziger Jahre spielten Schatzsucher verschiedenen Museen handgezeichnete Skizzen von vergessenen Schatzkammern in Bergwerken zu, nicht ohne Finderlohn in Millionenhöhe zu verlangen. Keine dieser Episoden führte zu Erfolgen. Einige der "Schatzsucher" waren bereits als Betrüger aktenkundig, und die Polizei ermittelte - nach den Absendern, nicht nach den Gemälden.
In der Berliner Gemäldegalerie hat man die Akte Friedrichshain mittlerweile geschlossen. Direktor Jan Kelch hat die Hoffnung auf Aufklärung dieses historischen Krimis längst begraben. Ein amerikanischer Offizier hatte über den Bunkerbrand schon 1945 diese Prophezeiung ausgestoßen: "Ein Rätsel, das sich nur noch mit dem Geheimnis um Hitlers Ende vergleichen läßt, wird die Kunsthistoriker in Zukunft noch lange quälen", schrieb er und spekulierte: "Ich glaube nicht, daß sie von ihrem Temperament her in der Lage sind, mit solch einer schmerzlichen Ungewißheit fertig zu werden." Vielleicht ist dies die eigentliche und letzte Wahrheit in einer verworrenen Geschichte der Spekulationen und Vermutungen. Und schließlich ist die Hoffnung auf eine Wiederkehr der verlorenen Gemälde auch fast zu schön, um wahr zu sein.
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