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Juni 2003
Ron Winkler
für satt.org


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Nackte Existenz
Zum fotografischen Werk von Joel-Peter Witkin



Joel-Peter WitkinJoel-Peter Witkins Fotografien sind furios. Sie verstören, weil man das Vulgäre, Obszöne oder Perverse der menschlichen Existenz in Reinform zu erblicken meint. Sie entfesseln den Menschen weit jenseits der gesellschaftlichen Standards und schockieren, weil sie es tun und wie sie es tun.

Joel-Peter Witkin, 1939 in Brooklyn geboren, konfrontiert in schmerzvollen Szenarien und surrealistischen Anordnungen mit andersartigen Menschen und mit eben dieser Andersartigkeit. Hermaphroditen, Verwachsene, Satyrn, Androgyne, Sodomiten, Amputierte, siamesische Zwillinge, Skelette und Leichen bevölkern Witkins Universum. Und diese Welt ist eine düstere, beschädigte Umgebung, deren Eindruck durch Kratzer im Material, Verätzungen, Unschärfen oder Überblendungen noch verschärft wird.

Die Faszination an Witkins Werk gründet in der Verstörung, die das forcierte Zeigen von ungewohnter Körperlichkeit, Obsessionen, Stigmata oder Fetischen zunächst hervorruft.

Was man bei Witkin sieht, ist aus dem Ideal verzerrt, ein Illegal Circus. Die Vollkommenheit, die hier fehlt, wird jedoch nicht vermisst. Sie ist aufgegeben – als das Trugbild, das sie bedeutet, als inkonsistentes Zeichen des Modischen. Tatsächlich geht es um Tiefenbohrungen in menschliches Wesen: um das Bemühen, das Leben in seiner vollen Konsequenz ansichtig werden zu lassen (Enno Kaufhold).

Das Schöne ist für Witkin nicht das nach gängigen Maßen Perfekte. Im Gegenteil. Er fokussiert zumeist (passiv erfahrene) Degenerationszustände des menschlichen Körpers. Was üblicherweise als absonderlich angesehen wird, ist bei ihm Träger von Emotion, von Ausdruck, von Individuation. Anders gesagt: Der aus den Fugen der Normalität geratene menschliche Körper bezeugt dessen Singularität.

Die auf den ersten Blick schockierenden, schaurigen Ensembles sind Reminiszenzen des Fotografen an das Göttliche, so wie er es sieht. Ihm liegt es in einer bestimmten Eindringlichkeit der Körper. Von Beginn an habe ihn die in Kunstwerken eingefrorene Heiligkeit beeindruckt, so etwa bei Giotto oder Cimabue.

Tatsächlich sind die Fotografien para-sakral durchströmt. Ohne explizit biblische Motivik zu replizieren, arrangiert Witkin Stationen von Passionswegen. Das Leiden jedoch, gleichwohl vorhanden, ist ins Subtile verschoben – oder: dem Körper immanent. Witkin intendiert, wie er sagt, den Schmerz der Existenz abzubilden. Die frühe Motivation, Gott zu fotografieren und Contemporary Images of Christ zu entwerfen, ist den Fotografien immer noch und immer wieder anzumerken.

Witkins Fotografien führen in Hinterzimmer und Seitenkammern des Lebens und des Bewusstseins. Die Oberfläche ist materialisierter Alptraum, der Rauminhalt jedoch gibt die Kernkonstitutionen von Physis und Psyche zu erkennen. Ängste und Lüste, Phobien und Manien, Irritationen und Deformationen sind Teil des Lebens. Und für den Künstler zwangsläufig Thema und Abbildungsmodus zugleich.

Witkin unterzieht seine Protagonisten, die er tot, verstümmelt, oder mit grotesken Masken präsentiert, keiner fotografischen Inquisition. Jenes bei ihm entworfene Schattenreich, das flankiert wird von Geschlechtsteilen, Skeletten, Utensilien der Schmerzbeibringung oder Partien menschlicher Leichen, stellt den unterdrückten Widerpart des Zivilen dar. Witkins Impetus scheint, das nicht zu leugnende Vergängliche wie auch das Absonderliche als Besonderes in den Blickpunkt zu rücken.

Wenngleich Witkin Abnormitäten auf die Frontlinie der Fotografie bringt und sie dort stilisiert, ihre Intensität durch obskure Ingredienzien steigert, sind diese Abweichungen – Abweichungen in Bezug auf (allgemeine Standards von) Körper, Sex, Gender, Milieu und Lebensstil – zutiefst authentisch. Witkin inszeniert und verstärkt die Extreme, letztlich aber repliziert er lediglich bestimmte menschliche Zustände mitsamt den Aversionen. Man könnte sogar sagen, dass er jene Menschen, die die Gesellschaft für beschädigt, unsauber, funktionsgestört oder verwahrlost hält, progressiv (und glorifizierend) verteidigt.

Die Protagonisten der drastischen Sets sind fast ausnahmsweise als in sich ruhend dargestellt. Koketterie ist den Modellen ebenso fremd wie Demut. Vom Schmerz der Zurschaustellung befreit, zeigen sie Stolz, Emphase, Melancholie, Eigensinn, Ekstase oder Langeweile. Witkin präpariert keine Freaks. Er lässt Seele zu, führt in das Individuelle hinein und vor allem über es hinaus. Gemeinhin Unterdrücktes wird ins Zentrum gerückt, Herausgedrängtes verdichtet in die Wahrnehmung hineingeholt. Die daraus resultierenden Fotografien sind kaum zynisch, sadistisch oder arrogant, sie berichten jedoch indirekt von entsprechenden Haltungen.

Witkins Bilder versuchen Gegenwart, Geschichte und Aussicht des individuellen Lebens zu klammern. Das führt notwendig in Abgründe. Wenn der Tod (auch) das Dagewesene ist und die Geburt (auch) das Kommende, kann ein dies vereinigendes Abbild nur paradox und verstörend sein.

In den düsteren Kabinetten Witkins begegnet man Frauen, die tote Föten, (obduzierte) Säuglinge oder Köpfe von Leichnamen tragen. Anderen Einstellungen sind in eindeutig metaphorischer Absicht Schädel beigegeben. Und nicht umsonst führen einige Fotografien ein Vanitas im Titel. Das Pränatale wird – symbolisch nachvollziehbar – mit dem Postmortalen parallelgeschaltet. Beides gehört für Witkin unbedingt zu den Dimensionen des Lebens.

Der Hermaphrodit gerät in dieser Situation zur Metapher des Gesamtmenschlichen, Geschlechterübergreifenden. Und der von Amputation gezeichnete Körper verweist intensiv auf das Innere der Erscheinung des Menschen. Nicht zuletzt auch kündet, was dem menschlichen Leib fehlt, von dessen Verletzbarkeit.

Wirklichkeit wird bei Witkin superlativisch wiedergegeben und übersetzt: ins Verblüffende, Verzerrte, Mythologische, in Anspielung und Verfremdung. Während das als normal Geltende verabsurdiert ist, wird das Andersartige mit fotografischen Mitteln multipliziert. Das Exzentrische dient dabei als Muster einer besonderen Vitalität.

Costumed Inmate ist eine Fotografie überschrieben, und in diesem Sinn sind die Werke auch zu verstehen. Fleisch ist eine Maske der Existenz, sagt Witkin, und jeder ist anders in ihr eingerichtet. Der Mensch ist Insasse einer bestimmten körperlichen oder geistigen Situation, und die von Witkin Beschworenen sind es nur in besonderem Maß. Bestimmte Details wie Fesseln, gebrochene Flügel oder Stumpen von Gliedmaßen unterstützen diesen Eindruck.

Witkins Repertoire reicht von unbefangener Abbildung und nüchterner Auslotung über barockisierende Ikonografie bis hin zu hochartifizieller Raumausstattung. Oft (und offen) befinden sich Witkins fotografische Twilight-Zones im Dialog mit der künstlerischen Tradition – was nebenbei eine interessante, noch zu analysierende interpicturale Ebene aufmacht. Cranach ist über eine Lucretia-Modifikation zugegen (Beauty has Three Nipples), Mirò findet sich in beklemmende Umgebung versetzt (The Sins of Jean Mirò), auf Arcimboldo rekurriert Witkin gleich mehrfach (Printemps oder Harvest). Leda erscheint vor dem Schwan als zwiesexuelle Hungergestalt. Und Laokoon wird durch Reptilien und abartige Alptraumwesen zu einer Skulptur der Apokalypse.

Witkin adaptiert fruchtbringend herausragende Werke der Kunst- (und Fotografie-) geschichte. Natürlich führen Linien zu Kubin, und natürlich muss man Witkin in einer Verwandtschaft mit Bosch sehen. – Dessen Hl. Christophorus ist bei Witkin zu einem indigenen Masochisten mit Hodenstrecker mutiert (Napoleon III. Holding Fish). – In den Universen der Genannten geht es um unheilvolle Genealogien. Wenn man von den Wirkungen der Bilder ausgeht, kann man Witkin durchaus einen Hieronymus Bosch der Fotografie nennen.