Ein Reise- und Festivalbericht von den 16. Interazioni in Cagliari, Sardinien
Enno Stahl über künstlerische Messlatten, kaltes Bier und Flamingos
Oh Land des Sarden! Land herbkargen Hügel- und Klippengewirrs, flimmernd, ächzend unter einer Hitzewelle, wie sie Italien seit Jahren nicht mehr sah! Warmes Meer, plätschernd an karibischen Gestaden, und immer weht der Wind ….
Kirsten Adamek und ich hatten uns den Luxus geleistet, einen Wagen zu mieten, cooler, metallblauer Lancia, Luxus zwar, aber ein nötiger, denn nur so kommt man dorthin, wo man will. Nach ein paar Tagen reinem Strandaufenthalt nun also gen Cagliari! Mit einem kleinen Abstecher zu einem empfohlenen Strand, Piscinas, unteres Ende der Costa Verde, irgendwann gehe es auf eine Buckelpiste, sei aber nicht schlimm, die sei gut befahrbar, auch wenn sie nicht so aussehe.
In der Tat, dieser holprige Sand-, teils Kieselweg macht einen ziemlich grusligen Eindruck, erklimmt zumal in engen Serpentinen den Berg, Schritttempo, Ende nicht abzusehen. Trotzdem, die Plackerei lohnt sich: es geht durch eine verwunschene Bergwerkswelt, Ruhrgebiet au grand air, Montevecchio und Ingurtosu, verrostete Industrieruinen inmitten sagenhafter Landschaft, die Natur wuchert und holt sich zurück, was ihr gehört …
Einsam ist es. Man wähnt, jeden Augenblick tritt er hinter der nächsten Kehre hervor, der sardische Bandit mit der Lupara und dann gibt’s für uns 2 Jahre lang nurmehr Wasser und Brot und Felsenbett in den feuchten Höhlen des Sopramonte-Massivs.
Doch diesmal haben wir Schwein, kein Bandit, und auch unsere anfängliche Skepsis, ob wir denn wirklich die richtige Straße genommen haben, verflüchtigt sich angesichts eines Auto-Trecks, der uns vom Strand entgegen holpert, inzwischen ist es bald 7 Uhr, die Straßenverhältnisse haben uns ein wenig genarrt. Also rein ins Wasser, noch’n Bier, dann über normale Straßen, jedoch weitere 50 km in Mäandern, Richtung Iglesias, frühere Bergwerks-Metropole, dort endlich auf die Superstrada und in einem Husch nach Assemini bei Cagliari.
Gegen 10 Uhr Ankunft, das gesammelte Performer-Völkchen ist bereits am Start, obwohl das eigentliche Festival erst übermorgen startet. Umarmungen für
Massimo Zanasi und
Paola Cao, unsere Freunde, die dieses interdisziplinäre Meeting veranstalten, die einzige, mir bekannte Geschichte, die wirklich ALLEN Künsten offen steht. Schwerpunkt des Programms sind jedoch zumeist klassische Live-Art-Darbietungen, Performance also. Ihre Assoziation
teatro ARKA wurde 1984 gegründet, die Aktivitäten verteilen sich seitdem gleichberechtigt auf Produktion und Verbreitung von Massimos eigenen Regie- und Performance-Projekten und der Organisation von Workshops, Theaterprojekten, Musik, Video, Tanz, Poesie, Kino, Ausstellungen und Installationen anderer Künstler.
Als nächste stürzen 5 identisch aussehende Mädchen bis Frauen, also alle dürr und ziemlich girlie-like, auf uns zu, sie stammen aus Kanada, genauer Quebec, jedoch kommen sie, was mich zunächst irritiert, ziemlich amerikanisch rüber - das liegt schlicht daran, dass sie dort "Imis" sind, wie der Kölsche sagt, also zugezogen, eigentlich stammen sie aus Vancouver oder British-Columbia oder so ähnlich, und stehen sowohl in ihrer Ausdrucksweise als auch ihrer Ahnungslosigkeit, was die kulturellen Verhältnisse in Europa angeht, ihren amerikanischen Nachbarn in nichts nach.
Das ist nach den fast 7 Stunden Fahrt ein bisschen zuviel für mich. Erst eine kleine Spontan-Session, bei der ich den Gitarrero geben darf, läutet etwas Entspannung ein, die allerdings durch die überirdischen Temperaturen geschmälert wird: die Tage am Meer mit ebenfalls gut 40C erweisen sich im Nachhinein als das reinste Zuckerschlecken. Hier jappen die Häuser, keucht die Luft selbst, der Konsum warmen Biers tut sein Übriges.
Zum Glück wird die offizielle Runde recht früh aufgehoben, doch in Massimos Wohnung ist es auch nicht kühler, an Schlafen ist nicht zu denken, ein paar Bier, dann ein Abstecher in die örtliche Cocktail-Bar – 2 Margheritas geben uns den Rest, aber zum Glück ist es dann auch 5 Uhr und mithin lässlich kühl. Vom Einschlafen merken wir eh nichts mehr ….
Früh erwacht, machen wir uns auf zum nächsten Traumstand, Chia, 50 km, unterhalb Cagliaris, wohl eine der besten "sites" am Mittelmeer überhaupt. Das Festival soll uns noch nicht kümmern, nichts zu tun, nichts zu organisieren, Ferien muss man sich schaffen.
Frau in der Tüte, Taliesin McEnaney Foto: Pino d'Asaro
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Abends Pizza mit Massimo und Taliensin McEnaney, noch und nach kommen mehr Künstler und Teilnehmer, Marie-Andree Rho, eine der netten Kanadierinnen, hat Paola und ihre Freundin Susi den gesamten Tag auf Trab gehalten, sie wollte Salz, Salz aus den hiesigen Salinen, leider war es nicht rosa, wie sie es wünschte, darob brach sie in Tränen aus – so hören wir und staunen.
Gefunden haben sie dagegen eine Medusa, eine jener heimtückischen Mittelmeer-Feuerquallen, die - normal ausgesprochen mini-formatig – schon nicht ganz ungefährlich sind. Das aktuelle Exemplar ist nun mindestens Größe XXXXXL, so was hat noch keiner je gesehen, 5 Kilo schwer, die will Marie-Andree für ihre Performance, unbedingt, deshalb liegt sie jetzt im Kofferraum und stinkt.
1. Festivaltag, 19. Juni, endlich ist es soweit: Ort des Geschehens ist das 'Teatro delle Saline', inmitten eines Sportareals gelegen, die Fußballschule Gigi Riva findet sich dort, ebenso eine größere Tennisanlage mit Bar – das Ganze am Rande eines "Stagno" (Salzsee), an dem der Flamingo haust. Die Einheimischen sprechen hoch trabend von 15.000-17.000 Exemparen. Ganz unwahrscheinlich ist das nicht: denn des Abends macht der muntere Gesell (der Flamingo, nicht der Einheimische) seinen Zug durchs Dorf, geflügelten Stecken dicht an dicht, zu Hunderten fliegen sie über unseren Häuptern her, die wir in der Bar sitzen beim Bier.
Aber zum Eigentlichen: das Theater sieht sehr klassizistisch aus, ist aber nur eine Mussolini’sche Adaption – trotzdem inzwischen aufs Schönste abgeranzt, mit verblichenen Fresken und befleckter Bühne, besitzt ganz den morbiden Charme, den wir so lieben.
Viele Leute kommen nicht: kein Wunder, auch in diesem hitzegewöhnten Land setzt man sich ungern bei 35C Abendtemperatur ins Theater. Außerdem gibt’s im Park Rockkonzerte, umsonst und draußen. Was soll’s: hic Rhodos etc.
Als erstes Mauro Orselli (Perkussionist), sehr versierter italienischer Jazzmusiker, der auf über 20 Chs vertreten ist, mit eigenen oder fremden Bands, zusammen mit Ada Catanzaro, Tänzerin.
Sie hat ihr Gesicht vermummt und bewegt sich minimal zu elaborierten Klängen, die Mauro u.a. per Kontaktmikro am wassergefüllten Metallzuber erzeugt. Sie überzeugt mich weniger, zu unpräzise die Bewegungen, zu wenig austrainiert auch, wenn ich das mit anderen Tänzerinnnen vergleiche, die ich bereits gesehen habe (obwohl: Ahnung habe ich davon eigentlich nicht ….)
Zwiebeln schälen für den Frieden, Karen Spencer Foto: Pino d'Asaro
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Als nächstes
Karen Spencer, die erste der 5 Kanadierinnen, mal sehen, was die nun tatsächlich darauf haben. Karen jedenfalls ist nicht schlecht: sitzt vorm Mikro, pellt Zwiebeln und reflektiert dabei über die Schwierigkeit, den innersten Kern zu finden, der Zwiebel als Allegorie fürs Leben, witzig eigentlich. Bisweilen holpern die Zwiebeln über die Bühne, die Vibrationen werden vom Mikro verstärkt, was einen schönen Raumeffekt bewirkt, Zufallsmusik. Außerdem wendet sie sich an Einzelne aus dem Publikum, fragt, ob sie da sind und sie sehen, sie verstehen etc.
Diese (sehr amerikanische) Art, direkten Kontakt zu den Zuschauern aufzubauen, finde ich immer etwas problematisch, das zerstört meines Erachtens die Spannung. Und ich muss an die Worte des Dresdner Performers Matthias Jackisch denken: "Ich mag keine Performances, in denen gelabert wird. Wenigstens da kann man doch mal das Maul halten."
Naja, wie gesagt, schlecht ist es nicht. Schlecht allenfalls, dass die gesamte Bühne jetzt voll Zwiebeldunst hängt und ich bin als nächster dran und muss doch atmen und lautdichten! Aber siehe oben: hic Rhodos etc.
Kommt auch alles gut, nachher sagt Karen zu mir, ich habe ausgesehen wie ein griechischer Gott – dies hier zu zitieren, so eitel bin ich allemal, auch wenn ich nicht sicher bin, ob sie weiß, wie griechische Götter (Statuen?) eigentlich aussehen.
Als nächste das jüngste der Kanada-Girls,
Taliesin McEnaney: sie tritt an auf nahezu leerer Bühne, eine riesige Packpapiertüte überm Kopf. Solcherart vermummt, stolziert sie umher, persifliert eine nordamerikanische Touristin auf Sight-Seeing ("Oh, Italy, how beautiful!"). Schon wieder Gerede, noch dazu auf Englisch, das hier kaum einer versteht, zudem drängt sich mir der Eindruck auf, dass sie im Grunde (unbewusst) sich selbst karikiert, ihre eigene staunende Unkenntnis der hiesigen Verhältnisse dokumentiert.
Ganz nett ist es, als sie ein Loch in die Tüte reißt und ein Kamera-Objektiv hindurch stopft, so fotografiert sie ringsum und alles, was zuckt. Aber im Ganzen ist das zu lang, es gebricht ihr zunehmend an Witz, es wiederholt sich und will nicht enden.
Danach
Marie-Andree Rho, nun bin ich aber gespannt nach dem ganzen Wirbel, den sie veranstaltet hat. Sie bittet das Publikum auf die Bühne, schreitet bedeutungsschwanger umher, am Rande vier große Plastikeimer: zwei mit Salz, einer mit Milch, in einem vierten verwest die Medusa.
Marie-Andree hat
Basilio Scalas und
Loic Hamelin, die super-professionellen Techniker des Theaters, dazu veranlasst, ihr einen Holzrahmen mit Zelluphan zu bespannen. Der liegt am Boden und da hinein gießt sie nun die Milch. Was ist mit dem Salz? Jetzt?
Nein, sie ignoriert es, ist halt nicht rosa. Paola und Susi ziehen lange Gesichter.
Marie-Andree legt sich in die Milch und beginnt epileptisch zu hecheln und zu zucken. Ihre vier Freundinnen stehen hoch betroffen am Rande, halten sich gegenseitig im Arm, um das hier durchzustehen.
Nun zieht Marie-Andree die Plane über sich und die tote Qualle kommt zum Einsatz, ätzender Geruch im Bühnebereich, Marie-Andree lässt die Molluske auf der Plane hin und her flutschen, vorsichtig darauf bedacht, nicht in Kontakt mit den Tentakeln zu geraten, denn keiner weiß, ob sie noch nesseln (Massimo meint später, sie hätte’s besser drauf ankommen lassen sollen, wen schockt das, wenn, soll sie sich eben den Wanst ein bisschen verbrennen, dann macht’s wenigstens was her …)
Tja, irgendwann ist die Performance anscheinend beendet, Marie-Andree erhebt sich aus der Milch, ihre Freundinnen sehen herzzerreißend aus, sie werden gleich in Tränen ausbrechen, soviel ist sicher, das Publikum klatscht zahm. Doch nun besinnt Marie-Andree sich eines anderen, es geht noch einmal los, eine Lichtapparatur wird abgeseilt und bestrahlt das Setting mit rötlichem Schein. Marie-Andree nochmal in die Milch, irgendwie hatte man die ganze Zeit das Gefühl, sie wisse nicht so ganz genau, was sie vor hat und müsse währenddessen darüber reflektieren, wie’s weiter geht. Einige schöne Bilder waren aber dabei.
Danach wird aufgetischt in der Tennisbar, riesige Fleischlappen, rohes Gemüse, Salat für die 25 Beteiligten. Nachher wieder Bier bei Massimo, bis es kühler wird.
2. Festivaltag, 20. Juni, heute ist Kiki an der Reihe. Vor den hysterischen Proben der kanadischen Mädels flüchten wir erneut an den Strand, Cagliaris Poetto, ordentlich voll, ausnahmsweise erfrischen recht kühles Wasser und ein kräftiger Nordwind. Abends in der Tennisbar bei Ichnusa und Flamingo-Flug ein Gespräch mit dem Direktor des Theaters, er ist auch Regisseur und hat schon häufig in Deutschland inszeniert, in Berlin bereits einmal einen Theaterpreis gewonnen.
Er hatte auch eine Freundin aus Köln, die mit 26 Jahren unter die Straßenbahn, "una bellissima ragazza", schade, da verbinden ihn eher üble Assoziationen mit unserer Heimatstadt.
Das heutige Programm: als erstes Vida Simon, erst fegt sie in Küchenschürze zwischen den Füßen des Publikums, das wiederum auf der Bühne sitzt. (Wieso weibliche Performerinnen das nur immer wieder benutzen, um ihre Rollen-zuschreibung zu thematisieren?) Dann birgt sie ihr Gesicht hinter Japanpapier und beginnt das Relief ihrer Züge mit Kohle zu bemalen. Sieht sehr eindrücklich aus. Zumal diese Klagemiene (Munchs Schrei nicht unähnlich …) sich sukzessive verändert, eine dynamische Maske sozusagen. Naja, nach einer Weile kommt Vida Simon wieder hervor und legt sich in den Seidenblätterstapel, bettet sich weich und beginnt zu wimmern. Das Leben lässt uns alle leiden, ich weiß.
Doch alles Leiden hört nun auf (wie so oft) mit meiner geliebten Gefährtin: ich bin aufgregter als sie, ist ja klar. Sie hat ihre Spielfläche vorm Theaterfoyer installiert, kommt heran gejoggt in einem dämlichen Fitness-Outfit, ebenso dämliche Freiübungen vollführend. Sie garniert eine Waffel-Reihe mit phosphorfarbenen Eisbällchen (Lebensmittelfarbe) und führt recht glaubhaft Verzicht unter Mühen auf, speziell im Hinblick auf ihr Bäuchlein – das versteht jeder, wie nachher unter anderem ein anwesender Regionalpolitiker betont. Der nämlich ist sehr froh, dass er auch mal was kapiert hat und das, Zitat: "ohne übermäßige Geistesanstrengung".
Zum Schluss lässt Kiki unter allgemeinen Gejohle je ein Eiskügelchen in ihren BH tropfen und klatscht sich mit einem aufmunterndem "Forza!" die restlichen Eiswaffeln an die Stirn. Endlich mal was Lustiges, denken alle, sagen alle. Und joggen nun ihrerseits zu ihr hin, um so ein buntes Eis abzustauben.
Als nächstes kommt Tomoko 'Anticool' Takahashi, die ich schon aus Helsinki von EXIT-Festival kenne und deren präzises Handwerk mir schon dort aufgefallen war. Ungewöhnlich für eine 24-jährige, so alt war sie damals. Jetzt, zwei Jahre später, hat sie nichts verlernt.
Ihr Stück beginnt mit einem fein gesetzten Irritationseffekt. Auch sie hat das Publikum auf die Bühne gesetzt. Doch keiner weiß so recht, wo Tomoko ist, wo die Performance startet. Alle schauen auf der Bühne herum, bis sie sich plötzlich dessen gewahr werden, dass Tomoko ganz still und leise und allein im Zuschauerraum sitzt und ihrerseits auf die Bühne starrt. Jetzt erst begreifen die Leute, drehen sich um, verrücken Stühle, kleines Durcheinander. Tomoko bewegt sich noch eine Weile durch den Saal, stellt sich in eine Ecke usw., bis sie schließlich auf die Bühne kommt. Sie trägt nur ein Nachthemd, schaut sich im Spiegel an, vergleicht kritisch ihre Lippen mit der Farbe eines Apfels. Wechselt ihre Position und die des Spiegels, inständige Musterung, Platzwechsel, das geht eine ganze Weile so, dann isst sie den Apfel mit hektischen Bissen. Vergleicht den Griepsch mit ihrer Hautfarbe. Beginnt sich die Arme, die Beine vorne weiss zu malen, hinten rot. Ähnlich und doch ganz anders als Kiki: eine Meditation über den weiblichen Schönheitszwang.
Bild und Gegenbild,
das ganze als bleiche Maske, Tomoko Anticool Takahashi Foto: Pino d'Asaro
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Nun umwickelt Tomoko den Apfelkitsch mit Gaffertape, bis er etwa wieder auf seine frühere Größe angewachsen ist, wirft ihn an die Wand, wo er kleben bleibt. Sie holt ihn. Wirft ihn in den Zuschauerraum, gleitet von der Bühne, um ihn zu holen, krabbelt über die Sitze, die mit Folie vor der frischen Farbe geschützt sind. Kehrt irgendwann zurück, legt sich bäuchlings auf die Bühne, ein Assistent stapelt Stühle über sie, einen riesigen Haufen. Das Publikum ist erneut irritiert: was soll es tun? Sie befreien? Allein wird sie es nicht schaffen, sich aus dem Gewirr der Stuhlbeine heraus zu winden. Irrtum! Mit emsiger Kraftanstrengung buckelt die zierliche Frau das ganze Gewicht in die Höhe, arbeitet sich nach und nach heraus aus dem Stuhlverhau, schlüpft durch einen winzigen Spalt ins Freie. Lang, hermetisch, aber überzeugend. Großer Applaus.
Mit Nicole Fournier folgt die letzte der Kanadierinnen, auch sie veranstaltet im Vorlauf einen ziemlichen Tanz, in der Umkleide duscht sie am laufenden Meter ("Hach, das ist heute schon mein viertes Mal!"), Kiki hat die diversen "warming ups" und Nervenkrisen der kanadischen Aktricen in der Garderobe mit Verblüffung verfolgt, saß selber da und wartete ergeben darauf, dass es Zeit wird – während unsere nordamerikanischen Kolleginnen auf dem Boden lagen, hechelten, Summ-übungen absolvierten bzw. sich absentierten "to look into their insides".
Jetzt redet Nicole auf Kiki ein, sie bräuchte einen "drill", jetzt, gleich, sofort, unbedingt, ganz dringend. Kiki versteht das Wort aber nicht und schickt Karen zu Hilf’ und Dolmetsch. Es dreht sich um einen Elektro-Bohrer, nun gut, jetzt wissen wir’s (fragt sich nur, wieso sie sich nicht schon längst darum kümmerte ….): jedenfalls betritt Nicole in Lederhose und Signalweste und Sturzhelm mit einer kreischenden Bohrmaschine den Aufführungssaal. (Mir fällt dabei auf, dass die Mehrzahl dieser Frauen sich bei ihren Auftritten vermummten: Vida, Nicole, Taliesin und auch die italienische Tänzerin, Ada. Irgendwie bezeichnend.)
Nicole macht Musik mit dem Ding, auch mit anderen elektrischen Teilen, schüttelt sie, dass sie aus der normalen Frequenz gekickt werden, Stör-Sounds produzieren: ein Staubsauger, ein Rasierer, verrückt, was dabei heraus kommt. Sie wetzt durch die Stuhlreihen und schwingt den Rasierer wie ein Lasso überm Kopf. Auf der Bühne noch einmal: Hossa! Wildes Bild, schon ziemlich fetzig, jetzt hält sie einen Tischsauger in die Höhe wie eine Fackel und führt so die Zuschauer in einen anderen, einen verdunkelten Raum, in dem ein Video läuft, "corn", Mais. Sie zieht aus, stellt sich in das Licht des Beamers, lässt den Film auf ihren Rücken projezieren, altbekannter Effekt, aber immer wieder hübsch. Unklar ist mir allerdings, was das mit dem ersten Teil der Performance zu tun haben soll. Aber Schwamm drüber, muss ja nicht alles kohärent sein.
Am Ende legt sie sich auf eine Glasplatte und alle fragen sich, zieht sie sich jetzt irgendwann wieder an oder wartet sie darauf, dass wir verschwinden? Die diskreten Sarden verkrümeln sich bereits, ist aber überflüssige Mühe, denn Karen und Vida stürmen herbei und bauen sich vor Nicole auf, damit nur keiner ein Quentchen nackte Vorderfront erblickt. Diese prüden Amerikaner! Obwohl: ich hätte gewiss nicht weg geguckt, das stimmt!
Damit ist das heutige Programm beendet, und es war besser als gestern, auf jeden Fall. Ausgeglichener, keine der Darbietungen fiel so richtig ab.
Wieder große Tafel in der Tennisbar, wir kriegen kleine Bronzeskulpturen, Abdrücke alter nuraghischer Kriegerfiguren, vom Regionalpolitiker, dem Kikis Performance so gut gefallen hatte. Dann alles in die Autos, halbtrunken die 15 Kilometer zurück nach Assemini, Nachbesprechung beim Bier wie jede Nacht. Um vier Uhr Schluss.
3. Festivaltag: wir natürlich wieder Strand. Ich entscheide mich so nach und nach, die neue Performance, die ich heute machen wollte, lieber ausfallen zu lassen. Ist mir irgendwie noch zu suspekt. Was aber dann? Nur eine weitere ältere Nummer aufzuführen, ist mir doch zu fade. Am Strand denke ich’s durch und komme auf eine brauchbare Idee, wir werden sehen.
Der heutige Abend beginnt mit einem Free-Jazz-Act von Mauro Orselli und Max Amazio an der Gitarre, wirklich coole Musik, ruhige, unangestrengte Phrasen und Soundteppiche, die Max mit dem Lautstärke-Pedal orgelartig schwellen lässt. Mauro hat ein Laken über das Schlagzeug gedeckt und erzeugt somit einen gedämpften, zurück genommenen Drum-Sound. Am liebsten würde ich mitspielen. Das geht aber nicht, denn gleich bin ich an der Reihe.
Enno Stahl als "griechischer Gott" Foto: Pino d'Asaro
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Auf die Bühne stelle ich ein Schild: "Nella performanze per motivi technici sono assente". Dann mache ich mich an verschiedensten Stellen des Theaters zu schaffen, rüttele an ein paar Holzwänden auf der Galerie, kippe eine Bank um. Renne im Hintergrund herum, Trippeltrappel, rauf auf die Bühne, nur in dem Bereich, den man nicht einsehen kann natürlich. Die Leute verbiegen sich die Hälse und lauschen, überlegen, wo ich wohl gerade bin, was ich mache. Das kommt nicht schlecht, denn das große Haus ist der perfekte Resonanzkörper, und es macht selber Geräusche! Knacken, Knarren, das ganze Programm. Tomoko fragt mich nachher, wer denn meine Assistenten gewesen wären, von überall her hätte es getönt. Also das funktioniert ganz gut als Ergänzung zu meinen üblichen "Variations on a chair", die ich hinterher setze.
Dann der Höhepunkt des heutigen Abends: unsere lieben Kolleginnen aus Kanada finden sich als "Playground" zu einer Gruppenperformance ein, und das schlägt dem Fass nun wirklich den Boden aus. Die Einzelarbeiten waren teilweise gut, aber wie sie jetzt als vom Leben geprüfte Jammergestalten über die Bühne schleichen, sich haltend, sich bergend, schlotternd, zappelnd, hechelnd, heulend – das ist wirklich die schlimmste Form von Befindlichkeits- und Therapie-Performance, der ich je beiwohn-te. Marie-Andree mimt wieder ihren epileptischen Anfall, Nicole benutzt nun endlich mal etwas von dem Salz, steckt sich ein wenig in den Mund und schüttelt sich vor Ekel. Ach, wie schrecklich!
Allmählich wird es selbst den höflichen Sarden zuviel, Einzelne verlassen den Raum, auch Massimos Mutter geht. Obwohl ihr Sohn direkt nach den Mädels dran ist, sie schafft es nicht mehr und will nach Haus. Nach über einer Stunde ist es vollbracht.
Wir stehen längst vor dem Theater, rauchen, lästern mit den anderen.
Im blendenden Licht der Bühne und des Lebens, Massimo Zanasi Foto: Pino d'Asaro
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Zum Festivalabschluss nun also Massimo Zanasi selbst: sehr schöne, ruhige Arbeit, ein Video, Feuer, ist auf den gesamten Bühnenraum projeziert, dahinter schwebt im Schattenreich Massimo, angeseilt, leise schaukelnd, dabei die sardische Maultrom-mel spielend, während er langsam hoch und immer höher gezogen wird. Fünf Minuten dauert das, bis er ganz aus dem Bild verschwindet. Ein versöhnlicher Abschluss.
Das Gruppenessen, irgendwann verschwindet Vida, und ihre Freundinnen veranstalten noch ein weiteres Mal ihr exzentrisches Theater: "Where is Vida?", "She is gone!" – "Vida is NOWHERE!!" Wie aufgescheuchte Hühner rennen sie umher, im gesamten Areal nach der verlorenen Tochter suchend. Keiner vermag mehr dem impliziten Katastrophismus ihrer Aufführung zu folgen. Einen solchen Gruppen-druck, wie diese Frauen ihn untereinander produzieren, haben wir noch nie erlebt. Kein Wunder, dass so temporäre Hysterien entstehen, die sich in orgiastischen Heulgelagen entladen wie jetzt, als sie Vida endlich gefunden haben, an der Rückwand des Theaters. Angesichts ihrer heutigen Darbietung haben sie dazu allen Grund, damit will aber niemand mehr konfrontiert werden. Selbst die Sarden als weltbeste Gastgeber haben nun die Schnauze voll, Paola packt Kind und Tomoko ins Auto, Susi und Pino verschwinden und auch Angelo, ein weiterer Freund Massimos, der sich rührend um die Exaltierten gekümmert hatte, mag jetzt nicht länger.
Nun, wir verschwinden auch. Und reden uns fast die ganze Nacht den Ärger vom Hals. Ist auch egal. Einen Tag haben wir noch, morgen fahren wir erneut nach Chia raus: karibische Lagune, Stille, flirrendes Wasser, sonnenbesprenkelt …. Nur mit Paola, Susi, Pino, Massimo, Iacopo, und dabei soll es bitte auch bleiben!