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Dezember 2005
Janina Nentwig
für satt.org


Wolfgang Pehnt:
Deutsche Architektur seit 1900

Wüstenrot Stiftung, Ludwigsburg und Deutsche Verlagsanstalt, München 2005

Titel

592 S., 49,90 €
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Nicht nur für Bausparer:
Wolfgang Pehnts Geschichte
der deutschen Architektur seit 1900

Knapp drei Kilo schwer, 600 Seiten lang, 850 Abbildungen – Wolfgang Pehnt hat eine wahrhaft gewichtige Geschichte der deutschen Architektur seit 1900 geschrieben, deren hervorragend dargebotener Inhalt den physischen Umfang mehr als rechtfertigt. Was der Autor, einer der führenden Architekturhistoriker, zwischen den Buchdeckeln ausbreitet, ist ein unverzichtbares Standardwerk, das sich bei aller Gelehrsamkeit ausdrücklich nicht nur an ein Fachpublikum, sondern auch an den interessierten Laien richtet. Pehnt beherrscht perfekt die hohe Kunst, Gebautes in Sprache zu übersetzen. Verständlich und präzise beschreibt er, was das jeweils Spezifische an einem Bauwerk ist und wie es sich zugleich in den zeitlichen Kontext einordnet. Indem er stets die politischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge herstellt, mit denen die Architektur wie keine andere Kunst aufs Engste verknüpft ist, kann Pehnt auch als ein Erfinder im besten Sinne gelten. Er sieht sich nicht nur als Berichterstatter, sondern auch als Erzähler, und seine fesselnde Darstellung von mehr als 100 Jahren Architekturgeschichte ist eine Erzählung für viele Leser. Dass eine solche Publikation nur 49,90 Euro kostet, ist der Förderung der Wüstenrot-Stiftung zu verdanken, die sich auch im denkmalpflegerischen Bereich in vorbildlicher Weise engagiert. Die teilweise mindere Qualität der Abbildungen – viele der Fotografien hat Pehnt selber aufgenommen – lässt sich aufgrund dieses erschwinglichen Preises verschmerzen. Eine Ausstattung mit aktuellen, von professionellen Architekturfotografen aufgenommenen Bildern, hätte die Kosten zweifelsohne in die Höhe getrieben.

Pehnt hat seine Untersuchung klug eingegrenzt und strukturiert: In der widerspruchsvollen Gemengelage der Stile und Bauaufgaben, den historischen und politischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts, wählt er nicht nur Architektur in Deutschland als Gegenstand seiner Untersuchung, sondern zugleich auch Architektur von deutschen Architekten. Pehnt macht deutlich, dass Architektur in Deutschland ohne die Beiträge internationaler Architekten von Henry van de Velde bis Zaha Hadid undenkbar ist. Die Staatsgalerie in Stuttgart von James Stirling und die Reichstagskuppel von Sir Norman Foster sind nur einige von unzähligen Beispielen, wie Bauwerke ausländischer Architekten zu identitätsstiftenden Markenzeichen für Städte und den Staat avancierten. Umso bedauerlicher ist es, dass im biographischen Anhang, der rund 300 Namen umfasst, nur in Deutschland geborene und in Deutschland lebende Architekten aufgenommen sind. Auch der umgekehrte Weg der deutschen Architekten ins Ausland, nicht immer ein freiwilliger, ist ein wichtiger Aspekt in der Geschichte der deutschen Architektur. So folgt Pehnt den Pionieren der Moderne wie Walter Gropius, Ludwig Mies van der Rohe und Erich Mendelsohn, die der Weimarer Republik ihr architektonisches Gesicht gaben und nach 1933 von den Nationalsozialisten in die Emigration getrieben wurden. Ihrem Schaffen im Exil und der Fortentwicklung ihrer Ideen insbesondere in den USA sind eigne Kapitel gewidmet. Heutzutage locken große Bauaufgaben deutsche Architekten in die Fremde. Gegenwärtig herrschen in China, dem Land des scheinbar unbegrenzten Baubooms, für viele deutsche Architekten paradiesische Bedingungen für die Verwirklichungen ihrer Visionen. Diese orientieren sich jedoch, wie Pehnt kritisch anmerkt, an den Megasiedlungen der 1960er Jahre, die ins Kolossale gesteigert nun im fernen Osten entstehen und die aktuellen Erfahrungen mit solchen zur Gettobildung prädestinierten Siedlungsformen ignorieren.

Auch die Einteilung der Kapitel entlang der politischen Zäsuren Kaiserreich und Erster Weltkrieg (1900-1918), Weimarer Republik (1918-1933), Drittes Reich (1933-1945), Kalter Krieg und deutsche Teilung (1945-1970), schrittweise Öffnung des Ostens (1970-1989) und wiedervereinigtes Deutschland (1989 bis heute) ist einsichtig und richtig, zumal Pehnt erklärtermaßen keine reine Stilgeschichte verfolgt, sondern Architektur als sozialen Raum und Gebrauchskunst darstellt, die stark vom jeweiligen politischen Klima und dem gesellschaftlichen Entwurf des menschlichen Miteinanders abhängt. Pehnt geht es um die Interpretation und Instrumentalisierung von Baustilen und –aufgaben. Dies verdeutlicht er besonders eindrücklich in der Parallelführung von BRD und DDR. Allein der Zeitschnitt 1900 erscheint willkürlich gewählt, was vor allem in den Kapiteln, die sich mit Berlin beschäftigen, negativ auffällt. Hier wäre ein Rückgriff auf die Reichsgründung 1871 konsequent gewesen, wenngleich die Umgestaltungen Berlins zu einer Hauptstadt bereits früher angesetzt werden können. Allerdings wäre der Umfang des Buches bei einer solchen Ausweitung wohl explodiert, zumal Pehnt eine erstaunliche funktionale Spannbreite von Architektur berücksichtigt, vom Städtebau über Industriebauten, Wohnungsbau und Verkehr, Denkmäler, Kinos und Theater, Kirchen und Synagogen, Museen und öffentliche Bauten, bis hin zur Kriegsarchitektur wie dem Westwall während des Zweiten Weltkriegs und dem Wiederaufbau der zerstörten Städte und heutigen denkmalpflegerischen Problemen.

Im Mut zur Zusammenfassung, in der Auswahl und Konzentration des umfangreichen Stoffes liegt die große Qualität von Pehnts Buch. Unumwunden gibt der Autor im Vorwort zu, dass man anstatt der erwähnten rund 400 Architekten genauso gut 400 andere hätte auswählen können. Es ist diese sympathische Souveränität“ (Neue Zürcher Zeitung, 18.10.2005), die den Leser sich vertrauensvoll der fachkundigen Auswahl und dem reflektierten Urteil Pehnts anvertrauen lässt. Nach der Lektüre wird er mit einem geschärften, aufmerksameren Blick seine gebaute Umgebung wahrnehmen.