Die räumliche Gestaltung
seelischer Vorgänge:
Zu bösen Häusern gehen.
Ein grossartig komplexes Künstlerbuch
um und mit Muriel Gerstner
Es geht um die Ausleuchtung von Innenräumen und um die Gestaltung dessen, was aus diesen Innenräumen nach aussen dringt. „Dem Gestalten wohnt immer die Geste des Umschreibens inne,“ dem Um-Schreiben der Innenräume. Muriel Gerstner, 1962 geboren, ist seit 1990 als freie Bühnen- und Kostümbildnerin in der Schweiz, und dort vor allem in Luzern und Zürich tätig, gleichwohl auch in Deutschland und Österreich mit stage design beschäftigt. Von 3sat erhielt sie den Theaterpreis, von Theater heute den Titel „Bühnenbildnerin des Jahres“ und von der Schweiz wurde sie 2007 zur Prager Quadriennale geschickt, der wichtigsten internationalen Ausstellung zum zeitgenössischen Bühnenschaffen.
Beinahe wichtiger als all dies muss einem jedoch das sehr geglückte Buch „Zu bösen Häusern gehen“ erscheinen, das anlässlich der Quadriennale erschien und zu dem zahlreiche Mit-Arbeiter – und das bedeutet hier vor allem: Innenraum-Beleuchter – ihr Scherflein beigetragen haben. Ziel war, die im Eifer des Theatergeschehens zwar als anwesend hin-, aber doch kaum wahrgenommene und mit dem Fallen des Vorhangs trotz ja weiter existierender Materialien, Bauten und Einrichtungen vergängliche Kunst zu konservieren, sie für die Erinnerung sichtbar zu erhalten. Bühnenbilder vergehen genauso wie die Stücke, die in ihnen spielen.
Wo ein Dramatiker wie Händl Klaus nicht nur die Fähigkeit, sondern überhaupt erst die Möglichkeit besitzt, ein Schauspiel in eine Prosa oder – wie mit dem von Muriel Gerstner ausgestatteten Stück „Dunkel lockende Welt“ geschehen – in ein Krimihörspiel zu transkribieren, bleiben Bühnenbilder wie selbstverständlich auch bei stills und auf Plakaten dezent im Hintergrund, gehen als Beiwerk verloren. Ein ambitionierter Ausstatter, wenn er etwas vorzeigen möchte, kann sich vielleicht mit einer Art architektonischer Skizze behelfen, wie unvollkommen blass der Eindruck einer Bauzeichnung im Vergleich zum fertigen Haus aber ist, zeigt jede beliebige Architekturausstellung.
Auch in dem vom Christoph Merian Verlag gestalteten Buch „Zu bösen Häusern gehen“, das zunächst schlichter daherkommt als es ist, handeln die meisten der 200 Abbildungen, Szenenbilder und Kostümskizzen von Menschen. Selbstverständlich, denn Räume werden ja erst durch eine auf ihre Ausmaße bezogene Bewegung zu Räumen, oder schlichter: durch ihre Nutzung. Ist die Tür zu, existieren sie nicht.
Das Buch stößt Erinnerungsräume auf, andere produziert bzw. projiziert es so geschickt, dass es für den Leser am Ende unerheblich ist, ob er die dokumentierten Bühnenarbeiten tatsächlich gesehen hat oder sie erst jetzt, beim Blättern kennenlernt. „Zu bösen Häusern gehen“ gelingt es, eine Erinnerung an etwas hervorzurufen, an das wir uns eigentlich nicht erinnern können, weil wir es nicht erlebt haben: Das Buch selbst ist das Stück. Es benötigt aber unseren Blick, um bewusste Vorstellung zu werden. Und einmal in unserer Vorstellung präsent, kann sich das Bild verändern, verformen oder in einem Sinne von „weiterreichen“ verflüchtigen, aber nicht wieder entfernt, getilgt werden.
Elisabeth Bronfens Ausführungen hierzu, „Catching the Eye of Conciousness“, bieten eine spannende Lektüre nicht wegen der etwas umständlichen wissenschaftlichen Darlegung, sondern weil die Autorin es uns indirekt freistellt, die Wissenschaft als Prosa zu lesen, als Geschichte einer (Film-) Geschichte. Wo Bronfen Wert auf die Deutung der Licht- und damit auch Linienführung in Filmen wie „Night of the Hunter“ legt, geht es Muriel Gerstner um die gegenseitige Beeinflussung von Licht und Raum. Von Räumen sprechen bedeutet hier zudem von Körperräumen und ihrer Durchdringung zu sprechen, insbesondere etwa in Bezug auf die Lichtbilder zur 1997 von Gerstner in Strasbourg ausgestatteten Bartók-Oper „Herzogs Blaubarts Burg“.
„Good afternoon. Here we have a quite little motel, tucked away off the main highway and as you see, perfectly harmless looking. When in fact it has now become known as the scene of a crime.” Mit diesen Worten eröffnet Muriel Gerstner persönlich die Bildführung durch das Buch. Ihre „Einladung“ spricht nicht allein über das „kulturelle Perpetuum“ einer Verweismaschinerie, die es uns kaum noch ermöglicht, Kunst und das Darüber-Sprechen zu unterscheiden, sondern führt am Beispiel von Hitchcocks „Psycho“ gleich selbst vor, wie ein Verweis den anderen immer wieder antreibt. Trailer oder Hauptfilm: „Kennt man beide, sind sie nicht mehr zu trennen. [Die] Negativ- und Positivnarration funktioniert in beide Richtungen; es ist ganz egal, ob man zuerst den Film sieht oder den Trailer. Das hat vor allem damit zu tun, dass Hitchcock seine Positiv- und Negativformen nicht passgenau ineinandergreifen lässt. Aus diesen unsauberen Nahtstellen können nämlich die Phantome steigen, die unsere Fantasie in Gang setzen und dadurch die kulturelle Produktion am laufen halten.“
Was wir sehen ist nur, was wir zu sehen glauben. Das Auge, das uns zu Anfang des Buchs gross anschaut, noch ehe der Text beginnt, ist in Wirklichkeit Detail eines Bildes Hans Holbein d.J. Die Kamera zoomt auf den nächsten Seiten zurück und wir müssen erkennen: Holbeins „Botschafter“ sind in Wahrheit – in Wirklichkeit? – nur Polaroid in der Hand eines Dramatikers, des Autors Händl Klaus nämlich, der in den folgenden stills zunächst Bruegels „Turmbau zu Babel“ als Postkarte in der Hand hält und sich im Laufe weiterer zooms plötzlich als Miniatur im Gemälde wiederfindet. „Transformiert werden alle, die sich auf [diese] Exkursion begeben,“ konstatiert Gerstner in ihrer Einleitung, die viel mehr ist als das. Sie ist eine Art Poesie, die sich nicht festsetzen lässt zwischen Wort und Bild.
„Zu bösen Häusern gehen“ ist zweisprachig in mehrfacher Hinsicht. Neben bereits erwähnten Dopplungen und Ebenen werden sämtliche Texte sowohl in deutsch wie in englisch wiedergegeben. Das erzeugt Bilder hinter dem Bild, die dramaturgische Skizze (zu Shakespeares „Was ihr wollt“ beispielsweise) leuchtet hinter dem Szenenbild auf: Vorher und Nachher können sich nur dadurch beeinflussen, dass die Mitte, also die Aufführung fehlt. Bei Händls „Schutzdichtung“ und Bronfens Abhandlung über „Kulturelle Effekte: Das Nachdrängen unserer Fantasiebilder“ geschieht dies als Nebeneinander, andere Beiträge werden sozusagen im Epilog übersetzt. Die „Schutzdichtung“, eine Vor- und Zurück-Montage in unterbrochenen Sätzen aus Bild (Film) und Ton (Knirschen, Rauschen) umfasst durch ihr variiertes Wiederauftreten gegen Ende das Projekt wie ein Wall. Das sommernächtliche Kontaktaufnehmen durch eine unsichtbare Mauer, wovon der Text handelt, wird durch Händl und Bronfen zusätzlich in einer Fotostrecke ins Bild gesetzt. Die Autoren werden hier erneut zu Figuren; Holbein, Bruegel und die mit Gips ausgegossenen, später zerbrochenen Krüge tauchen ebenso wie in weiteren Nachstellungen von Gerstner inszenierter Stücke wieder auf – auch das Auge vom Anfang, dann als Bild auf einem Monitor auf einer Bühne. Aufgeschlagen. Zu. Offen.
Um sämtliche Überschneidungen der „bösen Häuser“ näher zu beschreiben, fehlt der Platz. Aber um diese geht es: Überschneidungen, Durchlässigkeiten, Räume, die sich von einem Augenaufschlag zum nächsten, von einer Szene zur anderen verwandeln. Männer wie Frauen geschlechtslose Wesen („Eunuchen als Hüter der Schwelle“), Bahnhofsschliessfächer Sinnbilder einer Eheschliessung, Bewegungen der Schauspieler in Skizzen und Zeichnungen immer orientiert an Linien. Und manchmal geht eine Linie, auf der eine Figur hockt, einer anderen ins Auge ...
„Zu bösen Häusern gehen“ ist ein sorgfältig ediertes, vielschichtiges Künstlerbuch geworden, und grosse Literatur gerade wegen der durchdachten Verknüpfung von Bild und Text. „Nichts als horryfying Andeutungen,“ versehen aber mit einem ausführlichen, beruhigenden Abspann, einer list of productions – und gemacht um genossen zu werden.
Muriel Gerstner,
Bundesamt für Kultur (Hg.):
Zu bösen Häusern gehen –
Number Nine Barnsbury Road, Soho
Muriel Gerstner mit Elisabeth Bronfen, Händl Klaus,
Hanno Flick (Peter Knaack), Emil Flick (Tim Porath)
Fotografien von Hugo Glendinning
Christoph Merian Verlag, Basel 2007
320 S., 200 Abb., 34 €
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