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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




3. Juli 2010
Christina Mohr
für satt.org

  Wolfgang Müller: Valeska Gert. Ästhetik der Präsenzen
Wolfgang Müller: Valeska Gert.
Ästhetik der Präsenzen

Martin Schmitz Verlag
272 S., viele Fotos, € 18,80
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Wolfgang Müller:
Valeska Gert.
Ästhetik der Präsenzen

Wer ein Baby hat, weiß: auch wenn man erst acht Monate alt ist, sieht man manchmal aus wie 75. Vor allem kurz nach dem Aufwachen oder wenn man sehr müde ist. Aber warum schreiben wir über Babys, wenn doch ein Buch über die Tänzerin Valeska Gert (1892 – 1978) vorgestellt werden soll?

Eine der eindrucksvollsten Performances Gerts ist das Baby: Abwechselnd beziehungsweise gleichzeitig verkörpert Valeska Gert ein Baby und seine Amme. Ihr rasantes Rollenspiel verblüfft und macht sprachlos vor Staunen, bruchlos wechselt sie von verzweifeltem Baby-Geschrei zum beruhigenden Singsang der Amme. Dialektik des menschlichen Daseins in anschaulichster Form. Schon an dieser Stelle wird deutlich: Der Begriff (Ausdrucks-)Tänzerin wird der in Berlin aufgewachsenen Gert, bürgerlich Gertrud Valesca Samosch, nicht gerecht. Sie war Performancekünstlerin, lange bevor es diesen Begriff gab. Gert ließ nicht nur ihren Körper sprechen, sie „tanzte“ auch mit ihrem Gesicht und – größter Unterschied zum modernen Ausdruckstanz, sie setzte in „Geräuschliedern“ ihre Stimme ein, sang, fauchte, schrie und jammerte. Auch die Themen ihrer Tänze waren grundlegend anders als die ihrer Kolleginnen/Konkurrentinnen Mary Wigman oder Gret Palucca: Gert tanzte Huren, Kupplerinnen, KZ-Wächterinnen, Autounfälle, einen Zirkus, den Orgasmus und den Tod. Es verwundert nicht, dass Valeska Gert für ihre Zeitgenossinnen nur Geringschätzung übrig hatte: sie bezichtigte Wigman und Palucca, lediglich „pseudo-klassische Bewegungen“ zu vollführen. Ebenso wenig verwunderlich ist, dass weder damals noch heute Valeska-Gert-Tanzschulen existieren (wie z.B. die Palucca-Schule in Dresden), zu individuell, krass, kompromisslos und deshalb an ElevInnen unvermittelbar war ihre Art zu tanzen.

Tanz allein war ihr ohnehin zu wenig: Valeska Gert arbeitete transdiszplinär. Sie wirkte in Filmen mit, schrieb Bücher und Kolumnen, betrieb ihre eigene Kabarettbühne „Kohlkopp“ und war in allem, was sie tat, ihrer Zeit weit voraus. Bereits in den 1920'er Jahren wünschte sie sich Musik aus Natur- und Großstadtgeräuschen, ließ sich bei Auftritten von kreischenden Mädchen statt vom üblichen Orchester begleiten und schuf 1931 ihr „Opus Nr. 1, Komposition auf ausgeleiertem Klavier“ - zehn Jahre vor John Cages präpariertem Klavier, wohlgemerkt. Neben ihrem visionär-avantgardistischen Tun war Valeska Gert aber auch Realistin mit messerscharfem Blick für die Beschränkungen der Moderne – zu scharf und realistisch für Futurist und Surrealist André Breton, der sie auf offener Bühne beschimpfte. Valeska Gert machte die Probleme des technischen Fortschritts sichtbar, mehr noch, sie fokussierte die Fehler: der gerade aufgekommene abendfüllende Kinofilm zum Beispiel beinhaltete eine Pause, der tempogewöhnte Großstädter musste warten, bis die Filmrolle gewechselt war. Gert kreiert die auch aus heutiger Perspektive radikale „Pause“: einen Anti-Tanz aus Innehalten und Bewegungslosigkeit. Wäre sie heute noch am Leben, sie tanzte Atomkraftwerke, Flugzeugabstürze und ICE-Entgleisungen.

Außerdem erhob sie die Kneipe zum Kunstwerk: 1939 emigrierte Valeska Gert in die USA, weil sie als Halbjüdin in Nazideutschland kaum noch Auftrittsmöglichkeiten hatte. In New York eröffnete sie die Beggar Bar (in der ein gewisser Tennessee Williams kellnerte), deren Interieur komplett zusammengebettelt war, in den Fünfzigern wurde ihr Ziegenstall auf Sylt legendär: „Die Gäste werden gemolken und meckern“, sagte Gert über ihr Lokal.

Dass Gerts Kunst/Schaffen gemeinhin als dada-, futur- oder expressionistisch bezeichnet wird, ist schlichter Erklärungsnot geschuldet - sofern sie überhaupt in der Geschichtsschreibung vorkommt. Denn anders als Wigman und Palucca taugte Gert nicht zur idealisiert-ätherischen Ausdruckstänzerin, sie war ein Freak, ein Puck, ein Troll; für Buchautor Wolfgang Müller (Die Tödliche Doris) ist sie eine Philosophin und Proto-Punk, direkte Vorläuferin viel später auftauchender Figuren wie Nina Hagen. „Real ist nur die ewige Verwandlung“, sagt Valeska Gert 1973 – ein Satz, der das Mantra von Popstars wie Madonna und Lady Gaga sein könnte.

Müllers erste Begegnung mit Valeska Gert fand 1975 via TV in der ARD-Talkshow statt: der 18-jährige ist elektrisiert von der hochbetagten Gert, die auch im Alter Kunst und Leben glaubwürdig vereint. Müllers Entschluss, selbst Künstler zu werden, wird durch dieses Erweckungserlebnis manifest. Gert wird ohne ihr Wissen zu Müllers Muse und Leitstern – immer wieder wird Müller den Einfluss Valeska Gerts auf das Werk seiner Band/seines Kunstprojekts Die Tödliche Doris betonen. Sein Buch über Valeska Gert, „Ästhetik der Präsenzen“, ist daher auch keine Biografie im üblichen Sinn (die gibt es schon: von ihr selbst, z.B. die Hitler-Persiflage „Mein Weg“, und von Susanne Foellmer, Valeska Gert. Fragmente einer Avantgardistin in Tanz und Schauspiel der 1920er Jahre. Bielefeld 2006), sondern bietet Variationen auf Basis Gert. Müller schweift ab, schreibt über KünstlerInnen wie Joseph Beuys, Christof Schlingensief, Ming Wong, Björk, Die Tödliche Doris und die Genialen Dilletanten – die Abschweifung hat Methode, Valeska Gerts Person und Werk dient als Matrix für Müllers Gedanken über (moderne) Kunst.

Und noch ein Zitat Gerts, das ihren Dialektik-Begriff verdeutlicht: „Ich will leben, auch wenn ich tot bin“, verkündete sie 1955. Wolfgang Müllers Buch macht Valeska Gert über Umwege und Abschweifungen lebendig.

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Christina Mohr und Wolfgang Müller im Gespräch über Valeska Gert und sein Buch „Valeska Gert – Ästhetik der Präsenzen“.

CM: Warum schreiben eigentlich Männer so selten Biografien über Frauen? Kann ich empirisch zwar nicht belegen, habe aber ganz stark den Eindruck, dass das so ist.

WM: Vielleicht ist es für Männer unangenehm zu bemerken, dass viele Lebensläufe von Frauen durch ihre Geschlechtsgenossen, also durch Männer behindert, abgewürgt oder ihre Kunst ins Abseits gedrängt und auch einfach geklaut wurde. Mir war es auch unangenehm, das zu merken. Bei der Recherche zu meinem Buch über Valeska Gert stieß ich ständig auf Männer, die heute als ziemlich unbedeutend gelten oder zumindest nicht berühmt sind, aber die Leistungen von Valeska Gert auf ihr Konto verbuchen wollten.

CM: Gibt es da konkrete Beispiele?

WM: Der Gesichtstanz von Valeska Gert, den sie 1963 vor der Kamera von Mark Anstendig aufführt, ist ja belegt als eine Idee, die sie bereits in den 1920ern hat und die sie auch öffentlich ausführt. Kurt Tucholsky beschreibt das ausführlich: „Diese Frau tanzt mit dem Gesicht!“ Der Fotograf, der als 20-jähriger, die damals 70-jährige Valeska Gert in ihrem Auftrag in Sylt fotografierte – Federico Fellini wollte wegen seines Filmes „Julia und die Geister“ Fotos von ihr – ist heute weit über 70. Er ist davon fest überzeugt, dass das, was da auf den Fotografien sichtbar wird, sein alleiniges Werk sei. Dabei ist sein kühler, sachlich-technischer Blick gerade richtig, perfekt, um den Gesichtstanz von Valeska Gert, ihr bewusstes Neben-sich-Selbst-Stehen, ihr Außer-sich-sein so klar zu zeigen und zu dokumentieren. Es sieht aus, wie das, was Arnulf Rainer und Dieter Roth mit ihren merkwürdigen Slapstickverrenkungen und Gemeinschaftsarbeiten zehn Jahre später machen. Also, um es diplomatisch zu formulieren, das Kunstwerk emergiert im Raum zwischen Subjekt- und Objektpositionen. Es entsteht in einer Interaktion des Fotografen und der Künstlerin, denn natürlich sind beide daran beteiligt. Sein Verdienst bleibt dem Fotografen ja. Aber offensichtlich haben Männer einen Hang dazu, immer gleich alles komplett für sich zu reklamieren.

CM: Sie verzichten in "ÄdP" weitgehend auf biografische Details aus Valeska Gerts Leben, sondern konzentrieren sich auf ihre Kunst/Arbeit. Warum? Soll man bei Interesse in anderen Büchern nachlesen, wollten Sie einen Fokus setzen?

WM: In erster Linie interessiert mich die künstlerische Leistung von Valeska Gert. Sie hat ja ein Werk geschaffen, dass keinen festen Rahmen zu haben scheint. Sie hat das vorexerziert, was heute alle möglichen Künstler von sich behaupten, nämlich, dass sie und ihre Kunst grenzenlos, frei und offen seien – von Jonathan Meese über Damien Hirst bis zu Christof Schlingensief. Und es ist doch verrückt, dass die Kunst von Valeska Gert, obwohl so wenig davon übrig geblieben ist, die Behauptung dieser postmodernen Künstler so klar, eindeutig und anschaulich widerlegt. Es war mir ein Bedürfnis, die künstlerische Leistung dieser beeindruckenden Anarchistin zu würdigen und aufzuzeigen. Klar, die Medien sind mehr an kitschigen Homestories über das Leben von angeblich exzentrischen Künstlern interessiert, an der Inszenierung von Künstlerklischees, als an der Kunst selbst. Aber Valeska Gert hat vier Bücher über sich und ihre Kunst geschrieben, die man fast alle im Antiquariat bekommt. Außerdem ist das sehr schwer erhältliche Buch dieser vier, nämlich ihre erste Biographie „Mein Weg“ (1931) in „Ästhetik der Präsenzen“ erstmals als vollständiger Nachdruck vorhanden. Es ist eine Biographie aus erster Hand. Und sicher ist es kein Zufall, dass diese fünf Jahre nach dem Hitlers Besteller „Mein Kampf“ erscheint und den unpathetischen, fast sachlich-langweiligen Titel „Mein Weg“ trägt. Im Gegensatz zum wirren, unerträglichen pathetischen Geschwafel von „Mein Kampf“ schläft man während der Lektüre von „Mein Weg“ überhaupt nicht ein, nicht einmal heute. Es liest sich immer noch frisch und aufregend.

CM: Konnten Sie Martin Schmitz leicht für das Buch begeistern?

WM: Er ist, genau wie ich, schon seit den 1970er Jahren ein Fan von Valeska Gert und ihrer Kunst. Er kannte auch ihre Bücher und bemerkte ebenfalls ihre wunderbare Sprache, eine Art neue Sachlichkeit, ein Realismus. Valeska Gerts Interdisziplinarität oder besser: Transdisziplinarität, ist genau das, was auch Martin Schmitz immer schon interessierte. Da gibt es zahlreiche Verbindungen zu seinem sonstigen Programm, über Lucius Burkhard bis hin zur Tödlichen Doris.

CM: War Valeska Gert Feministin? Oder zu sehr Individualistin, um sich um Belange anderer zu kümmern? Zwischen den Zeilen schimmert durch, sie sei recht kompliziert gewesen.

WM: Das sind Beschreibungen und Definitionen anderer. Jeder Mensch wird von anderen unterschiedlich wahrgenommen. Eine Künstlerin wie Valeska Gert, die sehr selbstbestimmt ist, sehr klar denkt und ihre Gedanken kompromisslos ausdrückt, muss ja auf die Mehrheit unheimlich wirken und kompliziert dazu – zumal in den muffigen 1950er Jahren.

CM: Sie tanzt 1950 eine KZ-Kommandeuse in ihrem West-Berliner Lokal Hexenküche. Fällt sie damit nicht auch als Künstlerin für die neue Frauenbewegung aus?

WM: Für einen Teil dieser wohl schon. Aber auch die damalige jüdische Gemeinde in West-Berlin hätte, aus durchaus nachvollziehbaren Gründen, diese Performance nicht unbedingt wunderbar finden können.

CM: Alice Schwarzer hat ja am Beispiel von Leni Riefenstahl aufzeigen wollen, dass Nazi-Künstlerinnen nach dem Krieg vergleichsweise mehr geächtet wurden, wie ihre männlichen Künstlerkollegen.

WM: Alice Schwarzer wird mit ihrer Behauptung sogar Recht haben. Aber die Ästhetik von Riefenstahl ist – im Gegensatz zu der von Valeska Gert – sehr konform gewesen. Sie filmt ästhetische Idealkörper, zunächst weiße Körper, nach dem Krieg mit den Nuba schwarze Körper, aber diese sind ebenfalls Idealkörper. Dass sie von weiß auf schwarz umschwenkt, nach dem Krieg, wirkt auf mich wie eine Selbst-Entnazifizierung. Nachher, als sie über siebzig ist, werden ihre Motive schöne Korallen. Welcher Mensch findet Korallen eigentlich hässlich? Ich kenne niemanden, einschließlich mich. Leni Riefenstahl richtet also immer den Blick auf das, was eh allgemein als „schön“ wahrgenommen wird. Sie schafft keine neue Ästhetiken oder Aushandlungsräume für neue Ästhetiken. Das ist mit Valeska Gert und ihrer Analyse und DeKonstruktion (sic!) völlig anders. Mit Valeska Gerts ästhetischer Haltung ist das Ticket in den Mainstream nicht erhältlich – niemand kommt mit dieser Ästhetik zu BILD und Thomas Gottschalk auf das Sofa.

CM: Sie bezeichnen Valeska Gert als direkte Vorläuferin des Punk und der Genialen Dilletanten; Nina Hagen nennt sie ihr Vorbild – glauben Sie, Valeska Gert hätte sich in der Punkszene wohlgefühlt, wenn sie alles noch erlebt hätte? Hätten sich Nina Hagen und Valeska Gert gemocht?

WM: Die 85-jährige Valeska Gert bekommt ja nach ihrem einzigen Talkshow-Auftritt im NDR tatsächlich Fanpost von Punks. Ihr Lokal „Ziegenstall“ sieht eh aus wie ein Punkclub – bereits in den 50er Jahren. Nina Hagen ist in der Tat extrem beeinflusst von ihr, nennt sie in einem frühen Interview ihr großes Vorbild. Ob sie sich mal getroffen haben, weiß ich nicht. Womöglich hätten sie sich gestritten. Vielleicht hätte Valeska zu Nina Hagen gesagt: Du imitierst mich viel zu sehr. Deine berühmte, schief verzogene Schnute hast du aus meiner Canaille-Darstellung, dem Film von Suse Byk aus den 1920ern geklaut, deine Stimme setzt du genauso ein, wie ich es bereits seit den 1920ern tue, Stimmakrobatik. Und dein ORF-Skandal mit der öffentlichen Demonstration der Selbstbefriedigung – das hast du doch auch von mir. Ich habe doch schon 1920 den Orgasmus auf der Bühne performt. Aber vielleicht hätte sie zu Nina Hagen auch gesagt: Toll, dass endlich jemand meine Ideen in den Pop übersetzt und sie damit bekannt macht. Großartig, dass ich endlich mit dir eine begabte Schülerin gefunden habe. – Natürlich weiß ich nicht, wie sie zueinander standen. Aber anlässlich des 100. Geburtstages von Valeska Gert hat sich Nina Hagen jedenfalls an einer Ausstellung ihr zu Ehren in Sylt beteiligt.

CM: Die Bar als Kunst(projekt) - hätten Sie gern in Valeska Gerts Lokal Ziegenstall gearbeitet?

WM: Ich habe ja einige Jahre im Berliner Lokal Kumpelnest 3000 gearbeitet, das war möglicherweise ähnlich lustig und interessant.

CM: Sie schreiben im Buch auch über andere KünstlerInnen wie z.B. Ming Wong, Marina Abramovic, Damien Hirst und auch über ihre eigene Arbeit mit Die Tödliche Doris. Ist Valeska Gert in ihrer Radikalität bzw. die Radikalität ihrer Kunst so etwas wie die ideale Folie/Matrix, um die Kunst anderer zu betrachten?

WM: Da sich die Kunst von Valeska Gert den Definitionen und Kategorisierungen so beharrlich entzieht, helfen Gegenüberstellungen, gerade zu zeitgenössischen Künstlern. Man spürt schneller deren Qualität oder auch deren qualitative Grenzen. Aber insgesamt geht es mir mehr um Valeska Gerts Qualitäten. Dass dabei auch meine deutlich werden können, ist unvermeidlich.

CM: Ich bin begeistert von Valeska Gerts Urteilsschärfe – beispielsweise bezeichnet sie den Expressionismus als Kitsch und fand den Film "Metropolis" doof, was ich gut nachvollziehen kann. Kennen Sie weitere Beispiele für ihr hartes, aber treffsicheres Urteil?

WM: In ihrem letzten, unveröffentlichten Interview 1978 spricht sie davon, dass sie eben nicht glaube, dass das Publikum doof sei, und es nicht überfordert werden dürfe. Ihrer Meinung nach seien die Ängstlichen, Dummen eher bei denen zu finden, die im Kulturbetrieb das Sagen, also die Machtpositionen hätten, Theaterdirektoren, Intendanten, Produzenten, Verleger usw. Diese würden Interessantes verhindern, eben weil sie denken, das Publikum sei so dumm wie sie selbst es sind. Das ist sehr wahr. Wahrscheinlich war und ist das so in jeder Epoche. Nur heute glauben viele, es sei nun völlig anders.

CM: Der Ausdruckstanz, die Kunst von Mary Wigman, Gret Palucca, Valeska Gert und anderen, war zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts sehr populär - gibt es dafür Erklärungen?

WM: Verkürzt gesagt: Einiges davon war sicher ursprünglich erotisch und fast esoterisch aufgeladen, man denke nur an die „Tänze des Lasters“ von Anita Berber. Und es war wohl so, dass die Individualität nach dem geforderten militärischen Gleichschritt, beziehungsweise der Disziplin im Ballett, mal aus der Reihe tanzen wollte. Ab 1933 stand der Körper dann bereits wieder als ornamentales Muster zu Verfügung – in der Kunst und beim Militär.

CM : Warum sind andere Tänzerinnen wie Mary Wigman und Gret Palucca so viel berühmter als Valeska Gert? Sie war doch in den 20er- und 30er-Jahren keineswegs unbekannt.

WM: Valeska Gerts analytische DeKonstruktion und ihr Realismus reichen viel weiter, als die abstrakte, konstruktive Formensprache von Gret Palucca und Mary Wigman. Gerts Tanz/Performance ist nicht unbedingt "angenehm" anzuschauen, es berührt zu sehr, sie ist zu nah-entfernt zugleich. Kontemplation sieht anders aus. Ihre Kunst ist viel zu intellektuell und positioniert, um sie in den Kunstbetrieb widerstandslos zu integrieren.

CM : Valeska Gerts Performances wie "Baby" und "Pause", ihre Gesichtstänze und vieles mehr wirken auch heute modern, ja avantgardistisch. War Valeska Gert ihrer Zeit voraus, oder ist es heute ähnlich? Erfolgreich sind ja meistens nur glattgebügelte Mainstream-Stars und nicht die Genialen Dilletanten...

WM: Es gibt Künstler, welche die Gesellschaft abbilden und spiegeln, wie sie sich ihnen darstellt und andere, die eine weitere, zusätzliche Ebene dazuschalten. Es ist wie der Unterschied zwischen Mimesis und Mimikry. Kunst, die gegenüber gesellschaftlichen Konventionen rücksichtslos ist, sich gleichzeitig aber über diese bewusst ist, vermittelt sich immer etwas zäher. Die Performances von Valeska Gert wirken in der Tat extrem modern. Der aus Singapur stammende und in Berlin wohnende Künstler Ming Wong wurde gleich zum großen Valeska Gert-Fan, als er über mich ihre Arbeit kennen lernte. Er sieht viele inhaltliche Verbindungen zwischen ihrer und seiner Kunst. Und dass, obwohl er selbst von völlig anderen Positionen und einer völlig anderen Geschichte ausgeht.

CM: Was ist der Unterschied zwischen Pantomime und Tanz? Und wenn es ihn gibt, kann man diesen bei Valeska Gert ausmachen?

WM: Sie gilt ja als Erfinderin der Tanzpantomime. Marcel Marceau hat die moderne Tanzpantomime von ihr übernommen und wurde damit ein Star. Valeska Gert denkt alle Möglichkeiten immer nur an und macht, wenn sie das Konzept realisiert hat, sofort wieder etwas ganz Neues. Viele ihrer Konzepte changieren zwischen den Genres, sind beispielsweise Tanz-Performance, Ton-Tanz oder Happening-Tanz-Schauspiel, sie bewegen sich oft genau an den Grenzen der Genres, sind nicht eindeutig festzulegen, zeigen aber gerade deshalb deutlich die Genregrenzen auf und die Strukturen, aus denen sich diese Grenzen konstituieren. Um aber etwas Ungesehenes zu zeigen, sind gewisse "Umwege" notwendig. Die meisten Menschen können sich aber leider nur Künstler merken, die sich lediglich wiederholen und sich selbst imitieren. Das beruhigt und gibt ihnen ein Gefühl der Sicherheit.

CM: Was können heutige KünstlerInnen von Valeska Gert lernen?

WM: Dass es keine Gerechtigkeit in der Kunst gibt. Dass bestimmte Qualitäten erst in bestimmten Zeiten und in bestimmten gesellschaftlichen Zusammenhängen sichtbar werden können. Dass Geschlecht, Herkunft und Sexualität dabei eine große Rolle spielen – nach wie vor. Dass die Kunst nicht frei ist. Und ganz weltlich gesehen: Dass, wenn der Papst der Surrrealisten, André Breton, Louise Bourgeois und Valeska Gert seinerzeit nicht so heftig bekämpft hätte, beide Künstlerinnen vermutlich viel früher oder – bei Valeska Gert eben auch später – bekannt gewesen wären. – Freiheit gibt es nur im Dazwischen oder im Zwischenraum.

CM: Welches künstlerische Projekt hättest du mit Valeska Gert gern zusammen gemacht?

WM: Lebensgroßes 3-D-Fernsehen. Das war ihr Zukunftsplan in ihrem letzten Interview. Und ich hätte gern eine LP mit ihren gesamten Vokalliedern, den Kummer-, Wein-, Lach-, Babyliedern aufgenommen und herausgegeben. Immerhin konnte ich jetzt, anlässlich des Erscheinens meines Buches, ihr 1961 von der Deutschen Grammophon verhindertes Baby als Vinylplatte bei Martin Schmitz herausbringen. Leider quatscht Volker Schlöndorff im Off über ihr Kummerlied in seinem Dokumentarfilm von 1977. Er erklärt dem TV-Publikum, was Valeska Gert gerade macht. Vielleicht gibt es irgendwann die technische Möglichkeit, die Stimme des Regisseurs aus diesem großartigen Dokument herauszufiltern. Also, es gibt noch viel zu tun.



Die Buchrezension und das (gekürzte) Interview erschienen zuerst in der Tageszeitung Junge Welt vom 16.6.2010. satt.org veröffentlicht hier das vollständige Interview mit Wolfgang Müller zu seinem Buch über Valeska Gert.