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9. Januar 2011
 

Ruhr 2010

Das eigene Fremde

Anspruch und Wirklichkeit der
Kulturhauptstadt Ruhr 2010

von Herbert Schero,
Kurator der 1. Ruhr Biennale und Vorsitzender
des AortA Kunst- u. Kultur e.V.s

In ein Meer von Fahnen und plakativen Optimismus getaucht, ein ganzes Jahr und noch länger, bestimmte das dauerleuchtende Event bis Advent die Kulturhauptstadt. Für die mediale Aufmerksamkeit hatten Marketing- und PR-Agenturen die Haut der Träume zugeschnitten und der Ruhrmetropole ein buntes, pauschalisiertes, bisweilen niveauvolles Unterhaltungsprogramm verpasst: Mitmachspiele ohne Grenzen, sonntags geöffnete Realzeitmuseen, Kunstachterbahnen... kurz, die standardisierte Einkleidung kultureller Identität, maßgeschneiderte Kulturhauptstadt-Trachten und Betrachtungen.

Zwanghaft bemüht, dem eigenen Bewahrungswillen und Gestaltungsinstinkt gerecht zu werden, es zudem noch möglichst allen recht zu machen: Wetten, dass? - schickten die Kulturhauptstadtmacher den tradierten Themenvorrat des Ruhrgebietes, Denk-, Ideal-, Kult- und Heimatfiguren, internationale Stars und provinzielle Utopien ins Rennen. Zeitgleich wurde die gemeinhin hochgelobte soziale Integrationskraft des Wettbewerbes unterwandert: Propheten im eigenen Land, kritischer Eigensinn, Kunst- und Problemfiguren erhielten Startverbot. Und die Würde des Fragens, Kulturpolitik also, hatte fragwürdigen Zielen und Verblendungszusammenhängen dienlich zu sein. Die Rede ist von der Politik der Ekstase und ihren katastrophalen Fehlentscheidungen, von Seilschaften, ihrem Geltungsdrang, Karrieredenken und Wirtschaftsbeschaffungsmaßnahmen auf allen Ebenen. Kleiner Mann - große Ruhr 2010 GmbH: Was ist geblieben vom Anspruch: »kulturelle Leuchttürme, Höhepunkte mit internationaler Strahlkraft zu schaffen, die die Kulturhauptstadt Europas 2010 weithin sichtbar machen.«? Wo und wie wurde der Möglichkeits- und Wirklichkeitssinn der vier Themenschwerpunkten: »...neue Formen der Urbanität, kreatives Milieu, integrierte Migrantenkultur und schließlich ein kreativ-ökonomisches Modell für Europa zu schaffen« eingelöst?

Blick zurück, ohne Zorn. Die Leistungsschau der Kulturhauptstadt Ruhr 2010 (GmbH) stellte von Beginn an medienwirksame Großevents in den Fokus der Öffentlichkeit, ihre Guinness-Politik der Rekorde die Aufwertung des Wirtschafts- und Freizeitortes: »RUHR 2010 hat die Vision, aus der regionalen Gemeinschaft von 53 Städten eine Metropole neuen Stils zu bilden.«

»Wir malochen für das Ruhrgebiet« hatte BILD das Engagement des Ruhr 2010 Direktoriums gelobt, das kurz nach der Hauptpressekonferenz loslegte und sich ungeniert mit fremden Federn, mit der ehrenamtlichen Arbeit unzähliger Kultur- und Heimatvereine, mit den alltäglichen Kulturveranstaltungen des Ruhrgebietes schmückte. Wo die Hütte brannte, das hob die WAZ täglich hervor. Ihr Satellit, NRW-TV, strahlte die zu Local Hero-Wochen umbenannten Kulturhauptstadt-Wochenmarktangebote zu besten Sendezeiten in die digital empfangenden Haushalte: Illuminationen von Du zu Du, Lyrik von Nachtwächtern und Müllmännern, soziale Skulpturen und ihre Tränen des Eros. Die Montagsandacht der Steuerzahler und die Solidaritätsparty der Banker und Sponsoren in den maroden Kommunen der Ruhr-Verbundenheit wurden live von Televisonsampeln übertragen. Das ZDF-Kulturprogramm strahlte Aspekte der Traumzeit- und Schnittkultur aus: 66 (+/-) türkische Modells in Brautkleidern ohne Kopftuch, made in Marxloh, Geisterfahrer und Geistreiche gingen auf Sendung. Das philosophisch-phallokratische Quartett vor dem Kiosk Dortmunder U diskutierte über das Paarungsverhalten der Kohlenpöttler, Revierhasen und Schützenkönige.

Jeden Monat neu aufgelegt, strotzten dickleibige Veranstaltungsprogramme der Ruhr 2010-GmbH vor Anglizismen, suggerierten Wir-Gefühle und versprachen eine nie dagewesene Alchemie der Gefühle: Metaxa & metexis am Abend mit Goldrand, feurige Stahlabstiche und die Twilight-Kunstlichtshow im Hafen der Kulturhauptstadt. Feierabende, an denen die Goldene Sieben in Spielhallen aufleuchtete, der Mariacron-Stern über dem Tresen. Und so ging tatsächlich jeden Tag für die Liebhaber der Television in der Börse der quadratische Horizont auf. Es fiel das angekündigte, das entscheidende Tor und die Freunde der Kulturhauptstadt und Fußballweltmeisterschaft vereinten sich. Kulturen und Nationen. In der Arena der Geschichte wurde The day of songs zelebriert! Alles gab es per se und für lau noch oben drauf: Manzonis eisgekühlter Mittelstürmer, Klarer mit Speck aus dem Hieronymus Bosch-Kühlschrank Garten der Lüste. Und Poetische Nächte auf der Halde, da kam nämlich der Steiger und erzählte Grubenmärchen gegen den Kohldampf. Vom Gläsernen Hut mit Mercedesstern obendrauf, von der Brücke der Solidarität und so.

Night and day lief die Kulturmaschine Ruhr 2010 GmbH auf Hochtouren. Respekt. Himmelstürmende Lichtprojektionen auf alten Rathausmauern und Feuermusiker am Werk, illuminierten den Flug des Feuervogels. Ja, es hat ihn gegeben, den Himmel aus glühendem Stahl, sie, die Götterdämmerung, in der Gebläsehalle. Ja, der von Herrn Krupp-Beitz gesponserte Neubau des Museum Folkwang steht seit langem wie ’ne Eins in Essen. Der im Volksmund genannte »Schuhkasten«, der Dachaufbau für das Museum Küppersmühle in Duisburg, Kosten mit Nachbesserung 20 bis 40 Millionen, ist in der Mache I. Ebenso das Zwei-drei-Straßen-Projekt von Jochen Gerz. Idee und Realisierung muten wie das Haus ohne Hüter an, wie so viele der medial aufgeblasenen Ruhr 2010-Kunstprojekte. Ob die von Gerz für 2011 angekündigte Print-Dokumentation des Wohn- und Interaktionsprojektes ihr Wirklichkeitsversprechen einlösen wird? Schon in den Siebzigern, »einst vor Jahren, zur Zeit der Allerseelenstürme« hatte Aktionskünstler HA Schult anläßlich seiner TOUR-de-RUHR eine gleichgeartete Livingroom-Kunstmitmach-Idee artbissiger und weniger artig im Kohlenpott realisiert. Ja, damals kochte Literatur im Pott und Ruhrkomiker lösten immer noch Smokealarm aus.

Kulturhauptstadtschlagzeilen und Aufsehen erregte der Auftritt der Duisburger Symphoniker, die in leerstehenden Wohnungen sogenannter »Stadtteile mit sozial-kulturellem Erneuerungsbedarf« ohne Kohle so überzeugend musizierten, dass die Zuhörer glaubten, die Auflösung der hochsubventionierten Symphoniker stünde bevor; zumindest die Streichung der Streicher.

Der drastische Kulturabbau im Namen der Kultur, das Streichkonzert der Einsparungen mit Zensureffekt, war schon 2009 über die Bühne gegangen. Den schätzungsweise 50.000 im Ruhrgebiet lebenden Kreativen der freien Kulturszene verweigerte die Ruhr 2010 GmbH die Teilhabe an der Kulturhauptstadt, das Mitsprache- und Selbstvertretungsrecht. Schon im Jahr 2007 waren zweitausend Kreative blauäugig der Aufforderung der Ruhr 2010 GmbH gefolgt und hatten Projektideen zur Kulturhauptstadt eingereicht, nicht ahnend, dass alle Fördermittel längst verplant waren und pro forma nur zwei Dutzend kleinere Projekte einen Kulturcent erhalten würden. Im Herbst 2009 folgte dann der finale Schachzug der NRW-Regierung.

Ministerpräsident Rüttgers bewilligte den Ruhrkommunen zweckgebundene Kulturhauptstadtmittel (einen Euro pro Einwohner), die nur für Projekte der Ruhr 2010-GmbH verwendet werden durften. Grub so der Kulturszene Ruhr auch noch auf kommunaler Förderebene das Wasser ab. Besonders junge, kritische und ungewöhnliche Kulturansätze mit partizipatorischen Ansprüchen und hohen Risiken stehen – im Gegensatz zur institutionellen, etablierten Kultur – im Ruhrgebiet oft ohne jede Chance auf öffentliche oder private Unterstützung da. Warum das so ist, versuchte im Kulturhauptstadtjahr die Ruhr-Universität Bochum mit einer soziologischen Erkundung der solidaritätsmüden Kunst- und Kulturszene Ruhr herauszufinden. Das Thema wirft viele Fragen auf: Wie kann die sogenannte »freie« Kulturszene überhaupt in einer Gesellschaft existieren, deren kulturspezifische Erziehung nach Auschwitz den Terror der Selbstverwirklichung predigt? In der nicht das feuilletonistische Zeitalter des Glasperlenspieles den Geist der Utopie durchtönt, vielmehr der Homo sociologicus und seine erlernte Hilflosigkeit dem entfremdeten Sehnsuchtsbild des Homo ludens begegnet, der sich in der Moderne zu Tode spielt! Gibt es dort die vorbildliche Freiheit der Andersdenkenden?

Engagierte Kulturschaffende, die das »Wahrlügen« (Louis Aragon) lesen und sich den Strategien »ästhetischer Doppelmoral« (Susan Sontag) verweigern, werden ausgegrenzt. So erhielt die 1. Ruhr Biennale zeitgenössischer Kunst, deren Themenschwerpunkt »Aqua Futurbana - Zukunft des Wassers und der Lebensräume« nach vierjähriger Vorbereitungszeit Werke und Konzepte von 57 Künstlern aus 12 Nationen ausstellte, keine öffentlichen Fördermittel. Nach zweieinhalb Jahren Bedenkzeit kam von der Ruhr 2010 Gmbh eine Kooperationsabsage. Derweil strich der Rat der Stadt Duisburg die jährlichen Fördermittel (120.000 Euro) für die Projekte der freien Kulturszene. Die zunächst von der Stiftung Wilhelm Lehmbruck Museum erteilte Aufstellungsgenehmigung für die Ruhr Biennale - Skulpturen »Wasserhahn« und TV-Sessel im Kantpark, widerrief Direktor Raimund Stecker zwei Tage vor dem geplanten Aufbau. Begründung: Er bevorzuge statt temporärer Kunstwerke mehr Spaziergänger im Park

Parteiübergreifend machen die Kulturverwalter immer drastischer deutlich: selbstreferenzielle Kultur, die von der Differenz zur Politik lebt, ist unerwünscht. Statt sinnstiftender Denkmodelle dominieren Nullikonen - Ruhr-Edelstahlwürfel und Marmorkugeln - öffentliche Plätze; der Nullgrad der Textlichkeit durchtönt digitale News-Schaufenster. Vorbei an warenästhetischen Botschaften durchfahren Menschen auf Rolltreppen die begehbaren Filme urbaner Architektur. Kunstinstallationen für Autobahnfahrer: Die durften an einem restgrünen Rasenstreifen der Ruhrautobahn an eine Hundertschaft leerer, nur mit deutschen Städtenamen bedruckter Liegestühle vorbeirasen, anlässlich der Kunst am Bau- Auschreibung »Paradoxien des Öffentlichen«. So also sieht sie aus, die institutionalisierte Kulturbewusstheit auf der Flucht vor sich selbst.

Das Kulturhauptstadtjahr ist ausgeklungen. Was ist aus den Kulturverbindlichkeiten der Twins- und Melez-Veranstaltungen geworden? Was klingt noch nach vom Impetus der tausend Chöre, vom Sprach- und Heimfindungsvermögen kultureller und integrativer Identität? Was wird aus den unter Berücksichtigung des Kunstmarktranking eingekauften, millionenschweren Kunstinseln? Jenen Atollen auf dem Essener Baldeneysee, die nur von denen bestaunt werden konnten, die ein Boot, Helikopter, Fernglas oder Feuilleton zur Hand hatten. Das A 40-Stilleben aneinandergereihter Flohmärkte und Miniaturbühnen hat es ins weltweite Guinessbuch der Rekorde geschafft. Eins ist sicher: die Liebhaber des Glückauf-Pils-Gesanges werden sich an die gelben Schachtzeichen-Ballons zur Pflege des Traditionsbewusstseins, an Zechen, Thyssenbarone, Dahlbuschbomben und Unglücke erinnern. Das Trauma der Loveparade-Tragödie und der sie begleitende Mangel an ziviler und politischer Courage, die schmerzhafte Kultur nie gekannter Verantwortungslosigkeit und sozialer Amnesie wird auf unbestimmte Zeit im kollektiven Gedächtnis nachwirken.

Ein Drittel des auf 70 bis 150 Millionen Euro geschätzten Ruhr 2010-Budgets haben Berater und Werbeplattformen verschlungen. In einem kritischen Artikel der WAZ ist nachzulesen, dass allein Dieter Gornys Internetplattform artlab Fördermittel in Millionenhöhe erhalten hat (überdies auch für das Jahr 2011). Ironie der Geschichte: Der Medienbunker Hamborn produziert für ARTLAB Beiträge, u. a. eine filmische Dokumentation zur 1. Ruhr Biennale, die bis heute nicht ins Netz gespeist wurde. Ein weiteres Drittel der Kulturhauptstadtmittel schüttet die GmbH an ihr Personal, darunter Herrn Gorny, an und für die Projekte ihrer Juroren und Direktoren. Im Falle des Architekten Professor Petzinka, zuständig für den Bereich Bildende Kunst, bleibt unklar, ob der von ihm mit Kulturhauptstadtmitteln geförderte mehrstöckige Ausbau des denkmalgeschützten Zechengebäudes in Gelsenkirchen, das noch einen Markus Lüpertz-Herkules auf’s Dach bekommen hat, als »Wirtschaftsbeschaffungsmaßnahme«, Zweckentfremdung von Fördergeldern oder »normaler Vorgang im Bereich kultureller Befugnishoheit« einzuordnen sein wird. Das Vorhaben, so pfeifen es die Spatzen von den Dächern, wurde von der Baufirma des Architekten realisiert und vermutlich mit Mitteln aus dem kleinsten Etat (für Kultur- Kunstprojekte und Sonderausgaben) finanziert.


www.ruhrbiennale.de

Der Katalog zur Ruhr Biennale ist
über aortakunst@hotmail.de erhältlich.