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24. Juni 2021 |
Roland van Oystern für satt.org |
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ANOMALER CIRCUS
In der Flurgalerie hängt der Tage schöne Kunst, u.a. eine Reihe von Linolportraits bemerkenswerter Persönlichkeiten, z.T. nicht sehr bekannt, z.T. nicht sehr beliebt, z.T. beides. Im Hauptraum sitzt der Schöpfer unter einem seiner Gemälde auf dem Sofa, trinkt Apfelsaft und raucht. Besuche dieser Privatwohnung in der Augsburger Altstadt sind möglich, aber »bitte mit kleiner Vorwarnung, hier klingeln zu viele Lästlinge.«
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Des Satans schönste Tochter My name is Font |
Mit zweien deiner Linolportraits gedenkst du deiner Erzeuger recht liebevoll, oder zumindest hat es auf mich so gewirkt: »Des Satans schönste Tochter« und »My name is Font«.
Das war naheliegend, beide haben an der Kunstschule Gebrauchsgrafik studiert, aber es konnte nur Einen geben. Sie bekam Kinder, er einen Job als Leiter der Werbeabteilung der NCR. Die Firma war mehr oder weniger Teil von »Little America« und spielte als Konkurrent von IBM eine gar nicht so kleine Rolle im kalten Krieg, u.a. auf der Leipziger Messe. Das machte ihn von Anfang an zu einer »person of interest«. Später lernte er in Hannover Personen aus dem Umfeld der RAF kennen, damit war er endgültig auf dem Radar. Wahre Geschichte: Auch in Leipzig gab es sog. Messematratzen, die mit Spesenrittern aus dem dekadenten Westen in die Kiste stiegen. Eine solche machte ihm schöne Augen für lau, dafür das Angebot, Industriespion zu werden. Angeblich hat er sie erst gebumst und ihr dann den Finger gezeigt, womit der Fall für ihn erledigt schien. Bis zur Zonengrenze, wo er auf der Westseite rausgewunken und von unfreundlichen Herren in Grau erst verhört und dann gedrängt wurde, doch noch auf das Angebot einzugehen, als Doppelagent. Die Koberer hatten aber keine schlagenden Argumente und mussten ihn gehen lassen. So jedenfalls seine Version, mit James Bond hatte er primär das Lügen gemein, dann die Weibergeschichten, dann die Fahrkünste und dann seine Treffsicherheit, er kam ja aus einer Familie von Waffennarren. Als »weißer Jahrgang« hatte er aber keine Grundausbildung, angelegt hat er nur im Schützenverein und auf dem Plärrer. Daher stammt auch die Vorlage für den Linolschnitt, genauer gesagt von Simbecks Fotoschiessen, kulturhistorisch der Vater des Selfies. »Kiss Kiss Bang Bang« ist ein Geheimcode, den kann aber jeder selber googeln. Unterm Strich ist das Portrait eher eine Karikatur.
Und des Satans schönste Tochter?
Das bezieht sich eher auf Pech als Schwefel. Ihre spitze Feder fiel der konventionellen Mutterrolle zum Opfer, ihr blieb nur ihre spitze Zunge. Wie so viele Humoristen war sie depressiv, ihre Kindheit & Jugend im Schatten der auf einer Hinrichtungsstätte errichteten Irrenanstalt Kaufbeuren war von Angst & Schrecken geprägt. Da war nicht nur der Vogelschiss, die Mutter war eine Frömmlerin und betrachtete es als Schande, dass ihre Tochter mal ein halbes Jahr nicht aus dem Bett kam. Obwohl die »Verrücktheit« in der Familie lag, die Mutter zog sich selbst oft ins Schlafzimmer zurück, wenn auch nur für Tage. Die Kunstschule in Augsburg war eine ganz andere Welt, bei den Artelierfesten konnte sie ihre Rollen frei wählen. Auf der Fotovorlage zu dem Linolschnitt lässt sich ein Studienkollege von ihr ohrfeigen, was der gehörnten Schönheit offensichtlich teuflisches Vergnügen bereitet hat. Leider war bald Schluss mit Lustig, ihr geliebter Mummenschanz wurde zur Ausnahme, die Regel waren Mutterpflichten. Bzw. Elternpflichten, der mehr Lebe- als Ehemann drückte sich nach Leibeskräften, dafür mischten sich die Großmütter ein, besonders der eigenen Mutter konnte sie es nicht recht machen, ein kaukasischer Kreidekreis ohne Schiri. Nicht weiter verwunderlich, dass die Teufelin mit Teufel Alkohol flirtete, erst heimlich, dann unheimlich. Dass Mutters morgendliche Migräne hausgemacht war, flog erst nach langer Zeit auf und sie ins Kuckucksnest und weiter zur Leberranch. Nach einem halben Jahr in Klausur hat sie den chronisch treulosen Gatte aus dem Haus geworfen und sich neu erfunden, als Selbsthilfegruppenleiterin und Galeristin. Wirklich froh wurde sie ihres Lebens nicht mehr, sie hat sich immer zu viel um Andere gekümmert.
Wanze auf Linol |
Mit vielen deiner Portraitierten bist du persönlich bekannt, oder warst es... einige sind ja schon gestorben. Punklegende Wanze...
... alias die Mutter Teresa der Kinder vom Bahnhof Kö, eine Schutzheilige mit einem Nimbus aus toupierten Stacheln. Sie hat es sogar als Fototapete in die FH Gestaltung geschafft und in das Archiv von Karl Nagel. Sie ist dann nach London, wurde Mutter und Managerin eines veganen Restaurants. Ende der 90er kam sie zu Besuch in die alte Heimat, sie hat sich tatsächlich noch an mich erinnert. Vom Krebs wusste da nur der kleinste Kreis, sie wollte niemanden in Verlegenheit bringen. Man sieht es dem Portrait nicht an, aber das war eine schwere Geburt. Nicht schmerzhaft, langwierig. Ikonen sind die schwierigsten Motive, am Ende habe ich den Kitsch auf die Spitze getrieben.
Du hast ja viele Persönlichkeiten in deiner Galerie, die sich nachschlagen lassen, die Widerstandskämpferin Anna Pröll, die Typografin Lisa Beck, und andere, die zu ermitteln wären, wie dieser Bienenvolkhüter aus Biberbach oder das altgediente Teeverkaufsduo aus der Altstadt. Manche sind aber auch nur geheimnisvoll und ohne nähere Information: die Jugendliche A. Moser, 2020.
A. Moser |
Die Jugendliche ist die mir persönlich völlig unbekannte Tochter meines Lieblingsvetters. Den habe ich im Rahmen meiner selbsttherapeutischen Familienzusammenführung aufgestöbert, nach Jahren der Funkstille meinerseits. Er besitzt ebenfalls das Kunst-Gen, wir haben Drucke getauscht, das Kinderportrait der Tochter habe ich mir an die Wand gehängt. Sie hatte unlängst Geburtstag, da hielt ich ein Portrait für eine gute Idee. Den Vater habe ich vorgewarnt, er war begeistert. Inzwischen müsste der Druck angekommen sein, aber ich habe ihr geschrieben, dass sie nicht zurückschreiben muss, wenn sie nicht mag.
Der Anomale Circus führt ja diese bestechenden Unterzeile: »Schöne Kunst aus Augsburg. Danke für ihr Verständnis«
Der Slogan ist schon uralt und nur geklaut, aus der Fußgängerzone. Vor der Kreissparkasse stand damals ein Vater mit dem Sohne, beide misshandelten Musikinstrumente. Genauer gesagt, ein Casio-Keyboard und ein Akkordeon, beide hatten schon bessere Tage in E-Moll gesehen. Vor der leiernden Lunchbox made in Japan stand ein offensichtlich mühevoll handbeschriftetes Pappschild mit einem Menetekel:
Das Bild des Jammers hat sich unauslöschlich in mein Gedächtnis eingebrannt. Als ich dann später einen Wahlspruch für mein Schaffen benötigte, fiel die Wahl nicht schwer. Beim Patent- und Markenamt war nichts Vergleichbares in der Datenbank zu finden, also habe ich den Spruch auf mich umgemünzt. Und der internationale Erfolg gibt mir Recht.
In Fernost ist man freundlich zu dir.
Captain Morita |
Nicht weitersagen, aber mein Top-Fan in Taiwan ist ein ausgewanderter Augsburger Pirat (gemeint ist die Partei, Anm.) mit hessischem Migrationshintergrund, dessen Katzenfetisch ich bis dato 3 x bedient habe, dafür schickt er mir obskure Snacks & Shirts. Den singenden Fischhändler Tsurizao »Captain« Morita habe ich schon vor Jahren endeckt, er schien mir der ideale Zweitverwerter für die Miezen in 3D, die auf Asien getrimmte Fanpost made in Germany hat ihm natürlich geschmeichelt, das Dankeschön auf Deutsch (!) kam via Facebook-Posting. Ein Bäcker aus unserer Partnerstadt Amagaski, der hier gelernt und seine Bäckerei nach Augsburg benannt hat, hat sich auf meinen Bildergruß nicht zurückgemeldet, der »Augsburger Bär« war wohl nicht so sein Ding. Das Belegexemplar meines Portraits von Hitoshi Matsumoto ist noch auf dem Weg, möglicherweise wird es seine Agentur nicht weiterleiten.Trotzdem kann ich Asien als bis dato freundlichsten Kontinent bezeichnen, wobei ich erst 4 von 7 Erdteilen beglückt habe, mein Masterplan ist die Welteroberung mit »Blindbewerbungen«. In Augsburg habe ich nur eine Handvoll Liebhaber, die aber keine typischen bzw. gebürtigen Augsburger sind, z.B. unser König.
König zu Besuch.
Foto: ANOMALER CIRCUS
Den König von Augsburg hast du nach einer Originalfotografie von dir in Linol geschnitzt. Er hat dich hier auch schon besucht. Ihr steht seit einigen Jahren in Austausch?
Mehr oder weniger, seit ein paar Wochen sind wir auch Brieffreunde, da geht es um sein Völkerwanderungsprojekt.
Interessant.
Special interest, beim Volk ist er ja umstritten.
Wieso umstritten? Den mag doch jeder.
In der Dokumentation eines Darmstädter Filmstudenten gibt es eine häßliche Szene.
Ah, stimmt. Da beleidigt ihn so ein beknackter Passant als Schmarotzer. Solche Querulanten gibt’s natürlich.
Das war eher ein Vertreter des Besorgtbürgertums. Das kann der König noch weniger leiden als Schnuller, da entfleucht ihm schon mal ein schwäbischer Gruß.
Stellst du eigentlich auch außerhalb deiner Wohnung aus?
Ich habe hier zwei Ausstellungen organisiert, eine Anthologie mit div. Leuten und einmal den Krempel meiner letzten Ex. Und obwohl es Szenekneipen waren, tendierte das Interesse gegen Null. Weil sich die Szenen nur für sich selbst interessieren. Meine Maskenkollektion im Schaufenster eines kleinen Galerishops war ein relativer Erfolg, hat mich aber auch Lehrgeld gekostet. Kurz: Am Lech lohnt den Aufwand nicht. Im Ausland wurde ich schon ausgestellt, das waren aber hauptsächlich am Blechtrottel erstellte Wettbewerbsbeiträge wie z.B. für POSTERHEROES.
Wie hältst du’s mit Aufragsarbeiten?
Theoretisch möglich, praktisch schwierig, ich bin kein Schnellzeichner, dafür Freigeist. Ich war 16 Jahre lang Pixelschubse für Leute, die Picasso nicht von Pikachu untescheiden können, da will man irgendwann nur noch sein Ding machen.
Was ist dran am Gerücht? Der Anomale Circus zieht in die Fuggerei?
Theoretisch, die Sache hat auch ihren Preis. Die Wartezeit ist lang, Beziehungen und/oder Promistatus sind von Vorteil, siehe Hardy.
Kenn ich nicht.
Der mit den Zauberkästen für Kinder.
Ach, Moment, der! Ja, klar. Der wohnt da?
Über unverschuldete Not lässt sich streiten, Bücher & Lizenzprodukte haben natürlich immer weniger eingebracht und der Sparstrumpf aus den fetten Jahren ging wohl in Thailand drauf. In Augsburg genießt er auch einen etwas zweifelhaften Ruf, man munkelt von einer Blacklist bzw. einem kleineren Übel.
Nochmal wegen Depersonalisation/Derealisation. Was war das dann eigentlich für ein Zufall, der dir den Befund gebracht hat?
Ich hatte auf deviantart eine Aspergerin aus Kalifornien kennengelernt, die einen gewissen 6.Sinn für Erdbeben hatte, was sich u.a in Sehstörungen geäußert hat. Über solche haben wir uns ausgetauscht, mein »Dolly Zoom« kannte sie nicht. Also habe ich für sie einen englischen Artikel zum Thema gesucht und fand einen Querverweis auf Depersonalisation-Derealisation. Das war mir kein Begriff, klang aber irgendwie vertraut, also habe ich den Link angeklickt. Und mich im nächsten Moment zum allerersten Mal in meinem Leben danach in einer Zustandsbeschreibung wiedererkannt.
Und wie ging das damals mit dir weiter als Zehnjähriger?
Gar nicht, ich habe auch die Fähigkeit des »mentalen Zeitreisens« verloren. Wenn man keinen Bezug zur Gegenwart hat, hat man auch keinen zu Vergangenheit und Zukunft, so wie man in Dunkelhaft jegliches Zeitgefühl verliert. Im Prinzip basierte der »Horror-Trip« auf der Frage, warum Gott so etwas zulässt. Beide möglichen Antworten waren schockiernd. Da half auch eine Nachtaufe nichts, bis Elf war ich ohne Lizenz zum Glauben. Das Upgrade war eine Formalität zwecks Kommunion und in Folge Firmung, damit die fromme Oma Ruhe gibt. Die hatte mir den Teufel schon an die Wand gemalt. Mit »Du bist nicht getauft, du kommst in die Hölle!« lag sie theologisch falsch, korrekt wäre »Limbus« gewesen.
Selbstportrait |
Die Konfession Römisch-Katholisch ist ja Voraussetzung für ein Heim in der Fuggerei, aber warum bist du eigentlich in all der Zeit nie aus der Kirche ausgetreten?
Ich hab so vieles nicht gemacht, weil mir der Sinn bzw. Bezug fehlt, sogar zu meinem Ebenbild. Ich versage nur deswegen nicht beim Spiegeltest, weil ich lange vor der totalen Entfremdung meine biometrischen Daten auswendig lernen konnte, im sog. Spiegelstadium. Wenn man sein ICH nicht fühlt, ist da nur ein abstraktes Muster wie auf diesem Selbstportrait (zeigt auf das Gemälde über dem Sofa, Anm.).
Ach, das ist ein Selbstportrait. Das sieht für mich aus, wie ein fehlerhaft programmierter Space Invader. Verdreht, aber hübsch.
Hübsch war keine Absicht. Es ist auch keineswegs verdreht, »fehlerhaft programmierter Space Invader« trifft es sogar ganz genau, wenn man Entfremdung ins Englische übersetzt. Apropos Fremdwörter, Cotard- und Capgras-Syndrom sind ganz andere Baustellen, die werde ich jetzt aber nicht auch noch erklären.
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