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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




24. Juni 2021
Roland van Oystern
für satt.org



ANOMALER CIRCUS
Schöne Kunst aus Augsburg
Danke für ihr Verständnis

In der Flurgalerie hängt der Tage schöne Kunst, u.a. eine Reihe von Linolportraits bemerkenswerter Persönlichkeiten, z.T. nicht sehr bekannt, z.T. nicht sehr beliebt, z.T. beides. Im Hauptraum sitzt der Schöpfer unter einem seiner Gemälde auf dem Sofa, trinkt Apfelsaft und raucht. Besuche dieser Privatwohnung in der Augsburger Altstadt sind möglich, aber »bitte mit kleiner Vorwarnung, hier klingeln zu viele Lästlinge.«

Pfingsten 2021 hattest du ein Jubiläum.

Ja, 45 Jahre Depersonalisation-Derealisationssyndrom, ein Zungenbrecher aus der Hölle. Ich stehe ständig neben mir und der Welt, als Zuschauer am Rande der Ohnmacht. Rational kann ich zwischen Realität und Fiktion klar unterscheiden, aber beides fühlt sich gleich an, als wenn ich 24/7 Lindenstraße bingen würde. Frag die allmächtige Suchmaschine, da fallen dann Bezeichnungen wie »Käseglocke und »Fegefeuer«, man könnte es auch »Cartesianisches Theater« nennen.

Zu einem Befund bist du erst spät gekommen.

2013, nach 37 Jahren Odyssee und mehr oder weniger aus Zufall. Typisch, aber weniger für die Betroffenen, eher für die Halbgötter in Weiß. Wenn ihnen das Syndrom überhaupt bekannt ist, wollen sie nichts davon wissen, bis auf eine einzige Ausnahme in der ganzen BRD. An die wird man aber weder hin- noch ver- noch überwiesen. Seit Mitte der 2000er ist das Thema im Internet relativ präsent, aber ich wusste ja gar nicht, wonach ich suchen muss. Oder sollte, im Verlauf der Odyssee habe ich eine Dysthemie entwickelt, eine chronische, mittelgradige Depression. Von der weiß ich auch erst seit 2013, die ist auch mit eine Ursache meiner relativen Therapieresistenz. Die Analyse läuft weiter, zu den Grundursachen entdecke ich immer neue Details. Die kann man teilweise sogar sehen, mein Hinterkopf ist platt und ein Ohr steht ab. Angeblich hatte ich als Kleinkind eine Knorpelwucherung und wurde auf Verdacht operiert. Der einzige nachweisliche Erfolg bestand darin, dass ich nicht durch den Eingriff taub wurde, der hatte aber trotzdem seinen Preis. Ich durfte mich nicht aufs Ohr hauen, also wurde ich komplett fixiert. Ich konnte nur an die Decke der Kinderstation starren und durch den Turban aus Mull kaum etwas hören. Die Deprivation war aber nicht nur sensorisch, sondern auch sozial. In dem Alter sind drei Wochen eine Ewigkeit, in denen es nur ca. 45 Minuten »satt & sauber« pro Tag gab. Krankenbesuche waren damals verboten, die Kinder hätten sonst rumgeheult. Als mich meine Familie abholen durfte, habe ich sie nicht mehr erkannt und wollte die Hand der Schwester nicht loslassen. Und wie die echten Heimkinder aus Osteuropa habe ich einen Hospitalismus entwickelt, Jakation als Einschlafritual habe ich noch jahrelang beibehalten, zum Missfallen meines Stubenkameraden im Kinderzimmer. Und ähnlich wie der Blechtrommler wollte ich auch nicht mehr recht wachsen.

Blue Lulu

Blue Lulu
© ANOMALER CIRCUS

Die Decke hier drin ist kurios niedrig. Wie für dich gemacht. Aber gut, erzähl mal weiter.

Pech kommt in Strähnen, mit Fünf wurde ich im Garten um Haaresbreite von einem Strommast erschlagen und gegrillt. Hollywood übertreibt nicht, da flogen die Funken und sprangen auf Bäume und Büsche über, aus Letzteren wollte ich gerade einen Ball holen. Mein Bruder hat mich in letzter Sekunde festgehalten und weggezogen, physisch blieb ich unverletzt. Dafür stand ich erstmalig neben mir und der Welt. Was psychischer Schock genannt wird, ist Depersonalisation-Derealisation als Symptom bzw. Schutz.

Warum ist der Mast umgeflogen, weißt du das?

Ja, es ist ja keine vollständige Ohnmacht, Wahrnehmung und Bewusstsein nehmen nur einen Sicherheitsabstand ein. Das äussert sich u.a. in der Sehstörung, die mich 2013 auf die richtige Spur gebracht hat. Dolly hin, Zoom her, der hölzerne Mast wurde von einem Leistungsträger gefällt, mit PS und Promille, am hellichten Mittag. Der blieb ebenfalls unverletzt, bekam aber die ungeteilte Aufmerksamkeit der Einsatzkräfte, während meine Mutter ihren tobenden Gatten bändigen musste. Der Choleriker war schon auf 180, weil sie ihn im Büro angerufen hat, zudem konnte mein Bruder noch Klagelaut geben. Ich saß still und bleich auf dem Sofa und wurde einfach vergessen. Als ich wieder erwachte, hatte ich bereits eine panische Angst vor Allem entwickelt, was mich an dieses Beinahtoderlebnis erinnerte. Was z.B. die obligatorischen Waldspaziergänge problematisch machte, bei Wind wurde der Freund zum Feind, die sich sanft wiegenden Nadelbäume zu einem ganzem Heer von Angstgegnern. Ich war längst stubenrein, aber einmal habe ich mir in die Hosen geschissen. Reaktion: Ich sollte mich nicht so anstellen. Leiden war erlaubt, aber bitte stumm.

Klassisch.

Aller schlechten Dinge sind drei. Mit 10 musste ich an einem Familienurlaub zu Dritt teilnehmen, als eine Art kleinster gemeinsamer Nenner meiner Eltern, die schon lange getrennte Schlafzimmer hatten. Ziel war Kroatien, den Brenner gab es noch nicht, mein autonärrischer Vater wählte den berüchtigten Wurzenpass, den er in Rekordzeit zu nehmen gedachte. Kurz: Er heizte mit seinem BMW über die Alpen, ohne Rücksicht auf seine Passagiere. Muttern krallte sich in den Beifahresitz, ich kauerte mich hinten in den Fußraum und wimmerte in jeder Serpentine ein neues Stoßgebet. Geliefert wurde nur ein Wunder 2.Klasse, wir erreichten das Tal in einem Stück, der Fahrer in Ekstase, die Passagiere im Angstschweiße ihres Angesichts. Keine Atempause, Urlaub wird gemacht, das nächste Etappenziel des Tages war Adelsberg, also noch mal 130 Kilometer, ebenfalls in Rekordzeit. Die Höhlen von Postojna waren fantastisch, aber genau das war mein Problem, noch eine Dosis an neuen Eindrücken bzw. starken Reizen, zu viel für einen Tag. Und das war nur der 1., nach einer unruhigen Nacht im Hotel ging es im selben Tempo weiter, es wurden noch einmal 100 Kilometer gefressen. In diesem ohnehin schon überreizten Zustand sah ich dann zum 1.Mal die Weite des Meeres mit eigenen Augen, plus all die anderen Sinneseindrücke, die Film & Fernsehen nicht bieten, Kroatien erschien mir wie ein anderer Planet. Eine Grenzerfahrung, die psychosomatische Beschwerden verursachen kann, die als Stendhal-Syndrom bekannt sind, zu dessen Symptomen wiederum Depersonalisation-Derealisation gehören kann. Diese rannte bei mir die sprichwörtlich offenen Türen ein. Mit einer gewissen Verzögerung, nämlich zwei Tage später bei einem Bummel am Kai. Möglicherweise war es gerade die Monotonie des Meeresrauschens, das meinen Autopiloten aktiviert hat. Ich bin weder erstarrt noch ins Wasser gefallen, sondern mit tagtraumwandlerischer Sicherheit weitergegangen, als wenn ich einen Film sehen würde. Dieser Anfall dauerte vielleicht 10 Minuten, das Erwachen war ein böses, aber ich habe mir nichts anmerken lassen, Macht der Gewohnheit. Als ich nach dem Urlaub weitere Anfälle hatte, habe ich etwas gesagt, Reaktion: »Das bildest du dir ein!«. Der Urlaub war in den Osterferien, am Pfingstsonntag bekam ich einen Anfall, den man als Horrortrip bezeichnen könnte. Von dem ich nicht mehr zurückgekehrt bin, als wäre ich auf Acid hängengeblieben.

ANOMALER CIRCUS

Hast du später mal LSD genommen?

Viel später. Das war eine interessante Abwechslung, aber nicht mein Ding, da ich eben nicht psychotisch bin. Ich musste nicht lernen, wie man Wahn und Wirklichkeit auseinanderhält, ich war mir auf Acid der Illusionen und Halluzinationen als solche völlig bewusst. Das nennt sich Realitätsprüfung, dieses Analyseprogramm läuft bei mir ständig. Bei »Normalen« nur im Zweifelsfall, bei Psychotikern gar nicht. Das Stendhal-Syndrom kann sich auch zu einer Psychose entwickeln, es ist aber selten geworden, das Internet nimmt der Fremde zumindestens den visuellen Reiz des Neuen. Bei einer meiner Exen war das schon fast eine Manie, die hatte Reisefieber und musste alles vorher ansehen.

Deine nachtblinde Freundin? Von der war früher öfter die Rede, daran erinnere ich mich. Die hat niemals jemand zu Gesicht bekommen, und alle haben sich gefragt, ob’s die gibt oder nicht gibt.

Na vielen Dank auch. Also »niemals jemand« stimmt nicht, Sputnik Booster war nicht ihr Ding. Sie war auch nicht einfach nachtblind, sondern mit retinitis pigmentosa geschlagen. Daher auch das Reisefieber, sie wollte möglichst viele neue Bilder für ihr Kopfkino sammeln, um sich in der unausweichlichen Dunkelheit an etwas erinnern zu können. Oder um träumen zu können. Das Thema deprimiert mich, jetzt könnten wir mal über schöne Kunst sprechen.

  Des Satans schönste Tochter

Des Satans schönste Tochter
© ANOMALER CIRCUS



My name is Font

My name is Font
© ANOMALER CIRCUS



Mit zweien deiner Linolportraits gedenkst du deiner Erzeuger recht liebevoll, oder zumindest hat es auf mich so gewirkt: »Des Satans schönste Tochter« und »My name is Font«.

Das war naheliegend, beide haben an der Kunstschule Gebrauchsgrafik studiert, aber es konnte nur Einen geben. Sie bekam Kinder, er einen Job als Leiter der Werbeabteilung der NCR. Die Firma war mehr oder weniger Teil von »Little America« und spielte als Konkurrent von IBM eine gar nicht so kleine Rolle im kalten Krieg, u.a. auf der Leipziger Messe. Das machte ihn von Anfang an zu einer »person of interest«. Später lernte er in Hannover Personen aus dem Umfeld der RAF kennen, damit war er endgültig auf dem Radar. Wahre Geschichte: Auch in Leipzig gab es sog. Messematratzen, die mit Spesenrittern aus dem dekadenten Westen in die Kiste stiegen. Eine solche machte ihm schöne Augen für lau, dafür das Angebot, Industriespion zu werden. Angeblich hat er sie erst gebumst und ihr dann den Finger gezeigt, womit der Fall für ihn erledigt schien. Bis zur Zonengrenze, wo er auf der Westseite rausgewunken und von unfreundlichen Herren in Grau erst verhört und dann gedrängt wurde, doch noch auf das Angebot einzugehen, als Doppelagent. Die Koberer hatten aber keine schlagenden Argumente und mussten ihn gehen lassen. So jedenfalls seine Version, mit James Bond hatte er primär das Lügen gemein, dann die Weibergeschichten, dann die Fahrkünste und dann seine Treffsicherheit, er kam ja aus einer Familie von Waffennarren. Als »weißer Jahrgang« hatte er aber keine Grundausbildung, angelegt hat er nur im Schützenverein und auf dem Plärrer. Daher stammt auch die Vorlage für den Linolschnitt, genauer gesagt von Simbecks Fotoschiessen, kulturhistorisch der Vater des Selfies. »Kiss Kiss Bang Bang« ist ein Geheimcode, den kann aber jeder selber googeln. Unterm Strich ist das Portrait eher eine Karikatur.

Und des Satans schönste Tochter?

Das bezieht sich eher auf Pech als Schwefel. Ihre spitze Feder fiel der konventionellen Mutterrolle zum Opfer, ihr blieb nur ihre spitze Zunge. Wie so viele Humoristen war sie depressiv, ihre Kindheit & Jugend im Schatten der auf einer Hinrichtungsstätte errichteten Irrenanstalt Kaufbeuren war von Angst & Schrecken geprägt. Da war nicht nur der Vogelschiss, die Mutter war eine Frömmlerin und betrachtete es als Schande, dass ihre Tochter mal ein halbes Jahr nicht aus dem Bett kam. Obwohl die »Verrücktheit« in der Familie lag, die Mutter zog sich selbst oft ins Schlafzimmer zurück, wenn auch nur für Tage. Die Kunstschule in Augsburg war eine ganz andere Welt, bei den Artelierfesten konnte sie ihre Rollen frei wählen. Auf der Fotovorlage zu dem Linolschnitt lässt sich ein Studienkollege von ihr ohrfeigen, was der gehörnten Schönheit offensichtlich teuflisches Vergnügen bereitet hat. Leider war bald Schluss mit Lustig, ihr geliebter Mummenschanz wurde zur Ausnahme, die Regel waren Mutterpflichten. Bzw. Elternpflichten, der mehr Lebe- als Ehemann drückte sich nach Leibeskräften, dafür mischten sich die Großmütter ein, besonders der eigenen Mutter konnte sie es nicht recht machen, ein kaukasischer Kreidekreis ohne Schiri. Nicht weiter verwunderlich, dass die Teufelin mit Teufel Alkohol flirtete, erst heimlich, dann unheimlich. Dass Mutters morgendliche Migräne hausgemacht war, flog erst nach langer Zeit auf und sie ins Kuckucksnest und weiter zur Leberranch. Nach einem halben Jahr in Klausur hat sie den chronisch treulosen Gatte aus dem Haus geworfen und sich neu erfunden, als Selbsthilfegruppenleiterin und Galeristin. Wirklich froh wurde sie ihres Lebens nicht mehr, sie hat sich immer zu viel um Andere gekümmert.

  Wanze auf Linol

Wanze auf Linol
© ANOMALER CIRCUS



Mit vielen deiner Portraitierten bist du persönlich bekannt, oder warst es... einige sind ja schon gestorben. Punklegende Wanze...

... alias die Mutter Teresa der Kinder vom Bahnhof Kö, eine Schutzheilige mit einem Nimbus aus toupierten Stacheln. Sie hat es sogar als Fototapete in die FH Gestaltung geschafft und in das Archiv von Karl Nagel. Sie ist dann nach London, wurde Mutter und Managerin eines veganen Restaurants. Ende der 90er kam sie zu Besuch in die alte Heimat, sie hat sich tatsächlich noch an mich erinnert. Vom Krebs wusste da nur der kleinste Kreis, sie wollte niemanden in Verlegenheit bringen. Man sieht es dem Portrait nicht an, aber das war eine schwere Geburt. Nicht schmerzhaft, langwierig. Ikonen sind die schwierigsten Motive, am Ende habe ich den Kitsch auf die Spitze getrieben.

Du hast ja viele Persönlichkeiten in deiner Galerie, die sich nachschlagen lassen, die Widerstandskämpferin Anna Pröll, die Typografin Lisa Beck, und andere, die zu ermitteln wären, wie dieser Bienenvolkhüter aus Biberbach oder das altgediente Teeverkaufsduo aus der Altstadt. Manche sind aber auch nur geheimnisvoll und ohne nähere Information: die Jugendliche A. Moser, 2020.

  A. Moser

A. Moser
© ANOMALER CIRCUS



Die Jugendliche ist die mir persönlich völlig unbekannte Tochter meines Lieblingsvetters. Den habe ich im Rahmen meiner selbsttherapeutischen Familienzusammenführung aufgestöbert, nach Jahren der Funkstille meinerseits. Er besitzt ebenfalls das Kunst-Gen, wir haben Drucke getauscht, das Kinderportrait der Tochter habe ich mir an die Wand gehängt. Sie hatte unlängst Geburtstag, da hielt ich ein Portrait für eine gute Idee. Den Vater habe ich vorgewarnt, er war begeistert. Inzwischen müsste der Druck angekommen sein, aber ich habe ihr geschrieben, dass sie nicht zurückschreiben muss, wenn sie nicht mag.

Der Anomale Circus führt ja diese bestechenden Unterzeile: »Schöne Kunst aus Augsburg. Danke für ihr Verständnis«

Der Slogan ist schon uralt und nur geklaut, aus der Fußgängerzone. Vor der Kreissparkasse stand damals ein Vater mit dem Sohne, beide misshandelten Musikinstrumente. Genauer gesagt, ein Casio-Keyboard und ein Akkordeon, beide hatten schon bessere Tage in E-Moll gesehen. Vor der leiernden Lunchbox made in Japan stand ein offensichtlich mühevoll handbeschriftetes Pappschild mit einem Menetekel:

Schöne Musik aus Kroatien
Danke für ihr Verständnis

Das Bild des Jammers hat sich unauslöschlich in mein Gedächtnis eingebrannt. Als ich dann später einen Wahlspruch für mein Schaffen benötigte, fiel die Wahl nicht schwer. Beim Patent- und Markenamt war nichts Vergleichbares in der Datenbank zu finden, also habe ich den Spruch auf mich umgemünzt. Und der internationale Erfolg gibt mir Recht.

In Fernost ist man freundlich zu dir.

  Captain Morita

Captain Morita



Nicht weitersagen, aber mein Top-Fan in Taiwan ist ein ausgewanderter Augsburger Pirat (gemeint ist die Partei, Anm.) mit hessischem Migrationshintergrund, dessen Katzenfetisch ich bis dato 3 x bedient habe, dafür schickt er mir obskure Snacks & Shirts. Den singenden Fischhändler Tsurizao »Captain« Morita habe ich schon vor Jahren endeckt, er schien mir der ideale Zweitverwerter für die Miezen in 3D, die auf Asien getrimmte Fanpost made in Germany hat ihm natürlich geschmeichelt, das Dankeschön auf Deutsch (!) kam via Facebook-Posting. Ein Bäcker aus unserer Partnerstadt Amagaski, der hier gelernt und seine Bäckerei nach Augsburg benannt hat, hat sich auf meinen Bildergruß nicht zurückgemeldet, der »Augsburger Bär« war wohl nicht so sein Ding. Das Belegexemplar meines Portraits von Hitoshi Matsumoto ist noch auf dem Weg, möglicherweise wird es seine Agentur nicht weiterleiten.Trotzdem kann ich Asien als bis dato freundlichsten Kontinent bezeichnen, wobei ich erst 4 von 7 Erdteilen beglückt habe, mein Masterplan ist die Welteroberung mit »Blindbewerbungen«. In Augsburg habe ich nur eine Handvoll Liebhaber, die aber keine typischen bzw. gebürtigen Augsburger sind, z.B. unser König.

König auf Besuch

König zu Besuch.
Foto: ANOMALER CIRCUS

Den König von Augsburg hast du nach einer Originalfotografie von dir in Linol geschnitzt. Er hat dich hier auch schon besucht. Ihr steht seit einigen Jahren in Austausch?

Mehr oder weniger, seit ein paar Wochen sind wir auch Brieffreunde, da geht es um sein Völkerwanderungsprojekt.

Interessant.

Special interest, beim Volk ist er ja umstritten.

Wieso umstritten? Den mag doch jeder.

In der Dokumentation eines Darmstädter Filmstudenten gibt es eine häßliche Szene.

Ah, stimmt. Da beleidigt ihn so ein beknackter Passant als Schmarotzer. Solche Querulanten gibt’s natürlich.

Das war eher ein Vertreter des Besorgtbürgertums. Das kann der König noch weniger leiden als Schnuller, da entfleucht ihm schon mal ein schwäbischer Gruß.

Stellst du eigentlich auch außerhalb deiner Wohnung aus?

Ich habe hier zwei Ausstellungen organisiert, eine Anthologie mit div. Leuten und einmal den Krempel meiner letzten Ex. Und obwohl es Szenekneipen waren, tendierte das Interesse gegen Null. Weil sich die Szenen nur für sich selbst interessieren. Meine Maskenkollektion im Schaufenster eines kleinen Galerishops war ein relativer Erfolg, hat mich aber auch Lehrgeld gekostet. Kurz: Am Lech lohnt den Aufwand nicht. Im Ausland wurde ich schon ausgestellt, das waren aber hauptsächlich am Blechtrottel erstellte Wettbewerbsbeiträge wie z.B. für POSTERHEROES.

Wie hältst du’s mit Aufragsarbeiten?

Theoretisch möglich, praktisch schwierig, ich bin kein Schnellzeichner, dafür Freigeist. Ich war 16 Jahre lang Pixelschubse für Leute, die Picasso nicht von Pikachu untescheiden können, da will man irgendwann nur noch sein Ding machen.

Was ist dran am Gerücht? Der Anomale Circus zieht in die Fuggerei?

Theoretisch, die Sache hat auch ihren Preis. Die Wartezeit ist lang, Beziehungen und/oder Promistatus sind von Vorteil, siehe Hardy.

Kenn ich nicht.

Der mit den Zauberkästen für Kinder.

Ach, Moment, der! Ja, klar. Der wohnt da?

Über unverschuldete Not lässt sich streiten, Bücher & Lizenzprodukte haben natürlich immer weniger eingebracht und der Sparstrumpf aus den fetten Jahren ging wohl in Thailand drauf. In Augsburg genießt er auch einen etwas zweifelhaften Ruf, man munkelt von einer Blacklist bzw. einem kleineren Übel.

Nochmal wegen Depersonalisation/Derealisation. Was war das dann eigentlich für ein Zufall, der dir den Befund gebracht hat?

Ich hatte auf deviantart eine Aspergerin aus Kalifornien kennengelernt, die einen gewissen 6.Sinn für Erdbeben hatte, was sich u.a in Sehstörungen geäußert hat. Über solche haben wir uns ausgetauscht, mein »Dolly Zoom« kannte sie nicht. Also habe ich für sie einen englischen Artikel zum Thema gesucht und fand einen Querverweis auf Depersonalisation-Derealisation. Das war mir kein Begriff, klang aber irgendwie vertraut, also habe ich den Link angeklickt. Und mich im nächsten Moment zum allerersten Mal in meinem Leben danach in einer Zustandsbeschreibung wiedererkannt.

Und wie ging das damals mit dir weiter als Zehnjähriger?

Gar nicht, ich habe auch die Fähigkeit des »mentalen Zeitreisens« verloren. Wenn man keinen Bezug zur Gegenwart hat, hat man auch keinen zu Vergangenheit und Zukunft, so wie man in Dunkelhaft jegliches Zeitgefühl verliert. Im Prinzip basierte der »Horror-Trip« auf der Frage, warum Gott so etwas zulässt. Beide möglichen Antworten waren schockiernd. Da half auch eine Nachtaufe nichts, bis Elf war ich ohne Lizenz zum Glauben. Das Upgrade war eine Formalität zwecks Kommunion und in Folge Firmung, damit die fromme Oma Ruhe gibt. Die hatte mir den Teufel schon an die Wand gemalt. Mit »Du bist nicht getauft, du kommst in die Hölle!« lag sie theologisch falsch, korrekt wäre »Limbus« gewesen.

  Selbstprtrait

Selbstportrait
© ANOMALER CIRCUS



Die Konfession Römisch-Katholisch ist ja Voraussetzung für ein Heim in der Fuggerei, aber warum bist du eigentlich in all der Zeit nie aus der Kirche ausgetreten?

Ich hab so vieles nicht gemacht, weil mir der Sinn bzw. Bezug fehlt, sogar zu meinem Ebenbild. Ich versage nur deswegen nicht beim Spiegeltest, weil ich lange vor der totalen Entfremdung meine biometrischen Daten auswendig lernen konnte, im sog. Spiegelstadium. Wenn man sein ICH nicht fühlt, ist da nur ein abstraktes Muster wie auf diesem Selbstportrait (zeigt auf das Gemälde über dem Sofa, Anm.).

Ach, das ist ein Selbstportrait. Das sieht für mich aus, wie ein fehlerhaft programmierter Space Invader. Verdreht, aber hübsch.

Hübsch war keine Absicht. Es ist auch keineswegs verdreht, »fehlerhaft programmierter Space Invader« trifft es sogar ganz genau, wenn man Entfremdung ins Englische übersetzt. Apropos Fremdwörter, Cotard- und Capgras-Syndrom sind ganz andere Baustellen, die werde ich jetzt aber nicht auch noch erklären.