Thomas Kling FERNHANDEL
Es ist sicher keine lange Zeit, wenn man zwei Jahre auf einen umfangreicheren Gedichtband eines Lyrikers warten muss. Bei Thomas Kling kommt es einem lange vor, denn, während die meisten seiner Berufsgenossen in allzu bekannten Erlebniskanälen weiter wurschteln, besitzt jedes Kling-Buch Ereignis-Charakter. Einfach weil man wissen möchte, wohin sich seine Dichtung mittlerweile wendet. Die Neuerscheinung „Fernhandel“ ist nicht nur in einem anderen Verlag erschienen als die Vorgänger, sondern - dies vorweg - sie scheint wiederum ein ganz eigenes Kapitel im Werk des Ausnahme-Lyrikers Kling einzuleiten. All das, wofür man ihn kennt: die Sprachstückelungen, quasi „autistisches Lyren“, Worte aus dem logischen Urschlamm beschädigt und zerscherbt herausgestoßen - all das ist mit dem neuen Buch Vergangenheit.
Denn mit „Fernhandel“ verliert das lyrische Sprechen Klings seinen spektakulären, letztlich aber auch auf Effekt angelegten Duktus - die Sprache tritt zurück hinter das überaus komplexe Feld der Inhalte, Verweise und Bezüge. Seinen in Catull-Versen umgedichteten Anfangs-Stoßseufzer „o unberührte beschützerin, mach, daß es/ hundert jahre und mehr, ja, daß dauernd es bleibe“ kann man durchaus als programmatisch für diese neue Werkreihe ansehen - Kling tritt mit „Fernhandel“ tatsächlich in so etwas wie seine „klassische“ Phase ein.
Gleich zu Beginn verblüfft er mit einem Zyklus „Der erste Weltkrieg“, der nicht weiter kontextualisiert wird, aber natürlich im Hinblick auf das aktuelle Kriegsgeschehen, das jüngst vergangene Kosovo-Scharmützel zu lesen ist. Kling enthebt sich gleichwohl jeden Kommentars auf die Zeitgeschichte, das ist auch gar nicht nötig. Verschiedenste Motive aus der Historie, der Geschichte der Literatur und der Medien (Fotografie) werden zu einem faszinierenden Konglomerat verschmolzen. Insbesondere der erste Part dieses Zyklus „Die Modefarben 1914“ lässt den unauflöslichen Konnex mit unserer eigenen, soeben durchlebten Geschichte spüren, zeigt sich in diesem Text doch, wie der 1. Weltkrieg sich bereits im Rahmen der Alltagskultur und Mode vorankündigte bzw. sich auch zugleich darin verbarg: „zur frühlingssaison natürlich/ von marne gar nicht/ die rede. ab herbst war dann/ das kleine schwarz natürlich/ angesagt.“ Und wie der Krieg ausbricht, so erschüttert sich auch der Text im Vollzug, tritt heraus aus dem plaudernden Ton und dem Raum, den es selbst aufgespannt hat, mischt Sprachen, Soziolekte und Gegenstandsbereiche in einer Weise, die unmissverständlich bedeutet, dass Sprechen über den ersten Weltkrieg heute immer auch Sprechen über das Kriegsführen insgesamt ist.
Krieg ist ohnehin eine Sache der Sprache, der Beinhäuser und ebenso von „CNN Verdun“: damals war das schnelle Bild im Grunde schon dabei, heute auch, am Ende ist „totalbildausfall“, für den die Sprecherin sich entschuldigt. Alle Kriege, auch vergangene, finden heute statt, der Kosovo-Krieg ist Substrat einer europäischen Kriegsgeschichte: das Gedicht vermittelt ein Bild davon, jedes Bild ist wie eine Fotografie, so wie Fotografien aus den „familienherbarien“ (Fotoalben) Teile dieses Weltkriegszyklus ausgelöst haben.
Der Fotografie kommt denn auch zentrale Bedeutung in diesem Lyrikband zu: sie ist technisch präsent, ihr Funktionswandel als gesellschaftsbildendes und -bedingendes Instrument - getreu des mediengeschichtlichen Verständnisses etwa Friedrich Kittlers - ist überall mit eingeflossen. Die Gedichte selbst sind so eng daran gekoppelt, dass bisweilen die sprechende „fig. 1“ sie als fiktive „Bildunterschriften“ für nicht vorhandene, sondern zu assoziierende Illustrationen ausweist. Der Lyrikband transzendiert somit seine Letternbeschränktheit und wird zu einem Geschichts- und Bilderbuch, das die anvisierten Ereignisse allerdings gut verklausuliert. Sowieso werden sie zu Material, ebenso wie Alltagsszenen, soziale Sprech-Inseln und immer wieder Literatur. Zeitlich und sachlich heterogene Bereiche werden amalgamiert zu einem dichten Knäuel; dem steten Bildbeschuss, dem wir heute ausgesetzt sind, nähert sich Kling durch Konzentration, durch Verzahnung der Motive. Hier stehen sie eben nicht wie in unserer Wahrnehmung unvermittelt und kantenhart nebeneinander: als „Realitätscollage“, sondern die deutende Verdichtung weist ihnen Sinnbezüge zu, Referenzen, stellt verborgene Zusammenhänge her. Tatsächlich lässt das so etwas wie einen „Kosmos“ entstehen, wo man sich längst der (vermeintlichen) Unausweichlichkeit des medialen/sinnlichen Chaos gefügt hat. Die Dinge „durch denken“ - das ist es wohl, was Klings poetische Sorache vermittelt: sie ist Zeugnis und Beleg dessen, dass es geht, dass man sich nicht mit tatenloser Ohnmacht, nicht mit Fatalismus bescheiden muss angesichts der fulminanten Veränderungen in allen Bereichen. Nein, man kann selber sortieren, selektieren, historisieren - so wie es immer möglich war. Es liegt allein an einem selbst, ob man sich diesem sicher sehr komplizierten Prozess aussetzen mag.
So wie soziale Milieus, individuelle Erinnerungen und historische Epochen Kling zu formbarem Stoff geraten, so spielt natürlich die Dichtungsgeschichte eine gewichtige Rolle. Kling versteht sich ja als „Dolmetsch“ zwischen den Zeiten, das belegt schon die erwähnte Eingangsübersetzung der Catull-Verse, welche die Alltagseingebundenheit des lateinischen Originals nachdrücklich unterstreicht. In solchen Nachdichtungen oder auch in lyrischen „Zwiegesprächen“ reealisiert Kling poetische Referenzen zu Oswald von Wolkenstein, Graf August von Platen oder Giacomo Leopardi. Über Heiner Müller steuert er eine hintergründige „Anekdote“ bei, die sich auf ein Treffen im Belgischen Viertel Kölns bezieht: „es ist die/ rede hier von Normal-Müller, auch/ Totenmüller zubenannt; dem lilienroten/ volkslied, das aufging tief im osten/ weißer als eingeschriebenes papier.“ Nüchterner und zugleich eindringlicher lässt sich wohl die literarische und intellektuelle Physiognomie dieses wichtigsten Dramatikers deutscher Zunge nach 1945 kaum zusammen fassen.
Überhaupt ist das die Stärke des „neuen Kling“: das Reduzierte, Verdichtete, Komplexe seiner Sprache. Zwar tauchen durchaus wunderschöne neologe Konstellationen auf: „dinner-arie“, „lorbeer-ode“, „synapsnslang“, aber grundsätzlich nimmt die Sprache sich zurück, ist übergegangen in ein Stadium manisch-mimischen Memorierens und Referierens. Sie ist „sinn-süchtig“, reißt Interpretationen und Sozio-Referenzen an sich, gliedert das magnetisch Erfasste zu neuen Komplexen.
Sie ist deutungsmächtig - jetzt dachte man schon, die Welt kann man eh nicht verstehen, aber nun kann man sie immerhin lesen.