RAINALD GOETZ
UND SEIN ZWEITER ROMAN
»KONTROLLIERT«
I. Rainald Goetz: Vorläufiges zu
Leben und Werk [Stand: 1996]
Rainald Maria Goetz wurde am 24. Mai 1954 als Sohn eines
Chirurgen und einer Photographin in München
geboren.
1 1960 wurde Rainald Goetz
eingeschult, und 1965 wechselte er nach dem Abschluß der
Volksschule auf ein humanistisches Gymnasium in München
und bestand dort 1974 sein Abitur. Unterbrochen wurde seine
Gymnasialzeit durch ein freiwilliges Schuljahr 1971/72 an der
Luke M. Powers High School in Flint, Michigan, USA. 1974 begann
Goetz ein Doppelstudium der Geschichte und Medizin an der
Ludwig-Maximillians-Universität in München und zwei
Jahre später mit den ersten publizistischen
Tätigkeiten für die Süddeutsche Zeitung,
hauptsächlich als Rezensent von Kinder- und
Jugendbüchern
2. Erste größere
Resonanz erzielte seine dreiteilige Artikelserie "Aus dem
Tagebuch eines Medizinstudenten", die 1977 im gleichen Forum
veröffentlicht wurde. Ein Jahr später promovierte
Goetz nach Studienaufenthalten an der Sorbonne zum Dr. phil.
mit einer althistorischen Dissertation. Im gleichen Jahr
erschien seine erste Buchveröffentlichung, der Text "Der
macht seinen Weg. Privilegien. Anpassung. Widerstand." in dem
Kursbuch Nummer 54. 1980 absolvierte Goetz ein praktisches Jahr
in der Nervenklinik der Universität München, ein Jahr
später approbierte er als Arzt, und 1982 promovierte er
zum Dr. med. mit einer an der Klinik des Max-Planck-Instituts
für Psychatrie durchgeführten Untersuchung zu
Hirnfunktionsstörungen.
(1) Diese und alle nachfolgenden
biographischen Angaben stammen aus: Rainer Kühn: Rainald Goetz,
S. 1ff.
(2) Seine Spuren im Feuilleton sind allerdings nicht
sehr nachdrücklich. "Mit den netten Kinderbuchkritiken, die er
für die Süddeutsche Zeitung schrieb, wäre er [Goetz]
nicht weit gekommen" (Winkler, 4).
(3) Christian Schultz-Gerstein: Der rasende
Mitläufer. In: Klaus Bittermann (Hrsg.): Rasende Mitläufer.
Berlin 1987. S. 27.
(4) Etwa Wiglaf Droste: Rainald Goetz und der
Literaturbetrieb bzw. Der Bluter von Klagenfurt; Öl im Betriebe.
Der 1. FC Delius. In: Ders.: Kommunikaze. Berlin 1989, S. 30-34. Oder
Eckhard Henscheid: Literaturpreise oder Aus der Welt der
Obszönität. In: Merkur 1, 1986, S. 66-71.
(5) Welche Formen der Bewunderung dieser Roman
auslöste, beschreibt der Spiegelrezensent Christian
Schultz-Gerstein: "Man hörte von Literaten, die den Roman derart
bewunderten, daß sie sich außerstande sahen, eine
Rezension zu verfassen. Andere stammelten nur, ob man das Buch von
Goetz schon gelesen habe." (Bittermann, 27).
(6) Mit einer sehr ungewöhnlichen Bitte, die
Rainald Goetz' Sonderstellung in der hiesigen Literaturszene
verdeutlicht, trat übrigens der Spiegel an ihn heran, denn er
selber, sollte sein Buch "Kontrolliert" im Spiegel rezensieren.
Daß Goetz dies ablehnte, kann man m. M. nach gut verstehen,
denn es ist wohl kaum möglich, daß ein Autor zu einem
seiner Werke eine annähernd,objektive' Haltung einnehmen und
etwa bestimmte Dinge als,mißlungen' oder,schlecht' erachten
kann.
(7) Wobei ein Kritikpunkt m.E. auch sehr
nachvollziehbar ist, denn besonders die Materialbände "1989"
wirken aufgrund ihrer vielen zusammenhangslos aneinandergereihten
Fernsehmitschriften ungemein,aufgebläht'. Rainald Goetz
muß sich die Frage gefallen lassen, ob z.B. der Text "Mittwoch,
8. November 1989/Shoah/Marx/Fest Buch" (1989, Bd. 2, 322) so wichtig,
aussagekräftig und bedeutungsvoll ist, daß er wirklich
unbedingt auf einer ansonsten leeren Seite gedruckt werden muß.
Falls Goetz die insgesamt über 1500 Seiten reichenden Materialen
aber tatsächlich für unverzichtbar hält, dann
hätte er sie besser in komprimierterer Form veröffentlichen
sollen, denn so erinnern diese drei Bände stark an Peter Handkes
"Mein Jahr in der Niemandsbucht" (Frankfurt 1995), das vom Verlag
erst als ein 500 Seiten starkes Buch angekündigt wurde und
später mit mehr als doppeltem Umfang, ungewöhnlich
großen Lettern und riesigen Zeilenabständen erschien.
Weiterhin ungewöhnlich ist die Tatsache, daß "Kronos" viel
Bildmaterial und sogar die beinah sechzigseitige Prosa "Der
Attentäter" enthält, die allesamt bereits in seinem
Prosaband "Hirn" abgedruckt waren.
(8) Wer dieser Erzähler genau ist, möchte
ich im Kapitel II.3. dieser Arbeit klären.
(9) Aus: Uwe Wittstock: Der Terror und seine Dichter.
Politisch motivierte Gewalt in der neuen deutschen Literatur: Bodo
Morshäuser, Michael Wildenhain, Rainald Goetz. In: Neue
Rundschau 3, 1990, S. 65-78.
(10) Dies zeigt allein die irrsinnig und verbittert
geführte Diskussion um die angebliche Waffenlieferantin der
Lufthansamaschinenentführung Monika Haas, die nach dem Willen
der Bundesanwaltschaft heute, fast zwanzig Jahre nach der
Entführung, wegen "erpresserischen Menschenraubs und
Geiselnahme" angeklagt werden soll, obwohl die mehrfache Mutter
bereits über ein Jahrzehnt unbehelligt und von den Ämtern
toleriert ein,normales' Leben in Frankfurt führte. Um Monika
Haas anklagen zu können, wurde sogar extra die damalige, bereits
rechtmäßig verurteilte Entführerin Souhaila Andrawes
in Norwegen verhaftet, selbst mehrfache Mutter, und nach Deutschland
geflogen, um ihr hier erneut den Prozeß zu machen. Dabei
drängt sich der Verdacht auf, daß der ganze Aufwand um
Andrawes nur deshalb geschieht, damit Monika Haas verurteilt werden
kann. (Dies würde dann aber einen Mißbrauch der
Kronzeugenregelung bedeuten.) Vorläufiger Schlußpunkt in
dieser Diskussion ist der Rückzieher von Souhaila Andrawes, die
ihre Anschuldigungen gegen Monika Hass im Januar 1996
zurücknahm.
(11) Dieses Umschlagbild sorgte schon für
einige Verwirrung, denn eigentlich zeigt das Bild eine Opferpose,
weswegen ein Rezensent auch vermutet, "Rainald Goetz ist ein
Gefangener der Raf, sitzt dort, an Schleyers Stelle, unter
fünfzackigem Stern und Maschinengewehr" (Höbel). Doch nach
der Lektüre des Romans drängt sich eine andere
Interpretation auf, nämlich "Goetz der Terrorist" (Winkler),
zumindest Goetz der RAF-Sympathisant. Ich finde, daß egal
welche Intention Goetz mit diesem Bild verfolgte, der Umschlag die
ganze Situation eher veralbert, was den ambitionierten Absichten von
Rainald Goetz also schadet.
(12) Urteil vom 7. Mai 1984 - 2- 1StE 5/81.
(13) Das volle Zitat lautet: "( …) für einen
echten Terroristenfreund wie mich" (Hirn, 44) und bezieht sich auf
verschiedene Kontroversen, die Rainald Goetz mit diversen Rezensenten
seines Romans "Irre" führte.
(14) Diedrich Diederichsen taucht häufig in
Goetz' Werken auf. Entweder mit Veralberungen seines Namens, "der
geniale Kulturkritiker Neger Negersen" (Hirn, 14), oder als
ernsthafter Gesprächspartner mit voller Namensnennung
(Kontrolliert, 100f.).
(15) Aus: Diedrich Diederichsen: Sexbeat. 1972 bis
heute. Köln 1985. S. 38. In einer Vorbemerkung bedankt sich
Diederichsen übrigens auch bei Rainald Goetz "für
Anregungen und Inspirationen" (ebd., 13).
(16) Etwa Jan-Carl Raspe in "Subito", "Irre" und
"Kontrolliert" oder Christian Klar in "Moskau" (Kronos, 183-228) und
"Kontrolliert" (S.166ff.). Auch Baader taucht häufig in seinen
Texten auf (z.B. Hirn, 12).
(17) Aus: Ingeborg Bachmann: Gedichte.
Erzählungen. Hörspiel. Essays. München 71992.
S.320.
(18) Besonders aus dem "Komitee gegen
Isolationsfolter' rekrutierten sich viele Terroristen der zweiten
RAF-Generation, etwa Ralf Friedrich, Willy-Peter Stoll, Monika
Helbing, Stefan Wiesniewski und Susanne Albrecht (vgl. Peters,
209-211).
(19) Was dem Erzähler als Student damals, 1977,
noch gelang, denn er war "( …) in diesem Herbst, wie schon in den
sieben Jahren davor, wieder eher von echten poetischen Büchern
gefesselt als von der Politik" (Kontrolliert, 100). Diese Flucht in
die Kunst erlebte zur Zeit des Nationalsozialismus auch Alfred
Andersch und bezeichnete sie als "totale Introversion" (In: Alfred
Andersch: Die Kirschen der Freiheit. Zürich 1971).
(20) "Für junge Arbeiter stellt die Karriere
als Fußballer oder als Boxer einen solchen Ausweichkanal dar,
für Menschen bürgerlicher Herkunft etwa die Laufbahn als
Schriftsteller und Dichter ( …)" (Elias, 322).
(21) So wie alle Schriften der RAF kleingeschrieben
sind.
(22) Dieses Spiel mit den sich andauernd
verändernden Erzählperspektiven irritierte viele
Rezensenten, so auch Walter Delabar, der seine Kritik zu
"Kontrolliert" "Goetz, Sie reden wirres Zeug" (In: Juni. Magazin
für Kultur und Politik am Niederrhein, 4, 1990, S. 68-78.)
nannte, und damit einen ehemaligen Lehrer von Rainald Goetz zitierte,
der dessen Kommentare immer mit dem Satz "Goetz, Sie reden wirren
Zeug, schweigen Sie." abschmetterte (Zitiert nach: Irre, S 71).
(23) Jan-Carl Raspes Bedeutung für die RAF,
besonders in der Phase der Inhaftierung, wurde lange Zeit
unterschätzt, denn er ließ sich im Gefängnis zum
Elektrotechniker ausbilden und stattete den gesamten
Führungskader, dem er auch angehörte, unbemerkt mit
Gegensprechanlagen und Radiogeräten aus, so daß die
Kontaktsperre und Isolationshaft von den Inhaftierten umgangen werden
konnte und die führenden Köpfe wie Andreas Baader und
Gudrun Ensslin immer mit den neusten Nachrichten versorgt waren.
Dahingegen wurde in der öffentlichen Meinung Ulrike Meinhofs
Bedeutung enorm überschätzt, denn besonders in den letzten
Jahren ihres Lebens übte sie keinen Einfluß in der Gruppe
aus, wurde in die wichtigen Planungen und Entscheidungen nicht mehr
eingeweiht, was sie neben ihrer Krebserkrankung wohl wesentlich mit
in den Selbstmord am 9. Mai 1976 trieb. Genau in der Zelle
übrigens, in der sich nach der Befreiung der "Landshut" durch
ein GSG 9-Kommando am 18. Oktober 1977 Gudrun Ensslin erhängte,
während sich zur selben Zeit Andreas Baader und Jan-Carl Raspe
in ihren Zellen erschoßen (vgl. Peters, 139-168 und 191-294),
wobei es aber gerade in diesen Punkten noch einige ungeklärte
Fragen gibt.
(24) In dessen Wohnung, die auf die
Bundesanwaltschaft gerichtete Schießvorrichtung (vgl. Kapitel
II.1.) instaliert wurde.
(25) "Schnauze Kritiker, sage ich zum Kritiker" (aus
dem Wettbewerbstext "Subito". In: Hirn, 15.).
(26) So gelang es Peter Handke 1966 in Princeton, im
zarten Alter von 24 Jahren, durch einen aggressiven Redebeitrag auf
der Tagung der Gruppe 47, beinah das gesamte Literaturestablishment,
von den einflußreichsten Zeitungskritikern bis hin zu den
renommiertesten Schriftstellern, gegen sich aufzubringen. Dadurch
hatte er nicht unwesentlich dazubeigetragen, daß sich im
Anschluß an diese Tagung, die Gruppe 47 auflöste (vgl.
hierzu "Zur Tagung der Gruppe 47 in den USA" in: Peter Handke: Ich
bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. Frankfurt a.M. 141990.). Doch
nicht nur Kollegen und Kritiker waren das Ziel seiner verbalen
Attacken, sondern auch seine Leser und die Zuschauer seiner
Theaterstücke. Der Titel seines Sprechstücks
"Publikumsbeschimpfung" (in: Peter Handke: Stücke 1. Frankfurt
a.M. 51979.) zeigt dies ja schon zweifelsfrei an.
(27) Hier fällt eine Parallele zu Andreas
Baader auf, der ja auch beinah jede Frau, zumindest in ihrer
Abwesenheit, als,Fotze' bezeichnete, unter anderem auch Gudrun
Ensslin. "Seine Freundin Gudrun nennt er in Gegenwart anderer
Mitglieder ungeniert,Fotze'. Sie sagt liebevoll,Baby' zu ihm"
(Peters, 110).
(28) Zitiert nach: Strasser, 11. Ein Bericht
über dieses Symposium findet sich "mit einigen verschämten
Sternchen, aber mit voller Namensnennung der Beschimpften" (ebd.) in:
Hirn, S.110ff.
(29) Die Schwierigkeiten, ein Interview mit Rainald
Goetz zu führen, beschreibt Dietmar Dath ausführlich im
siebten Kapitel seines Buchs
"Cordula killt Dich!"
(Dath, 88-99).
(30) Diesen Weg beschreitet in "Irre" der Arzt Dr.
Andreas Hippius (!).
(31) Vgl. Kapitel II.2. dieser Arbeit.
(32) Vgl. Kapitel II.4. dieser Arbeit.
(33) Etwa in: Hirn, 12. Oder in: Irre, 33. Oder in:
1989 Bd. 1, 518. Desweiteren versah Rainald Goetz die meisten seiner
in den Jahren 1983 und 1984 entstandenen Bild- und Textcollagen, die
zum Teil in seinen Büchern abgedruckt wurden, mit dem
Stempelaufdruck "Kontrolliert" (vgl.: Hirn, 170ff. Und: Kronos,
155-179.).
(34) Bei dem Anschlag des RAF-"Kommando Ulrike
Meinhof" am 7. April 1977 auf Siegfried Buback, stirbt nicht nur er,
sondern auch direkt am Tatort sein Fahrer Wolfgang Göbel und
eine Woche später im Krankenhaus der Justizhauptwachtmeister
Wurster (vgl. Peters, 220-227).
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Seine Karriere als Schriftsteller erhielt dann 1983 durch den
provokativen Auftritt beim Ingeborg-Bachmann-Preis in
Klagenfurt einen ungeheuren Schub. Während der Lesung
seines Textes "Subito" (Hirn, 9-21) ritzte sich Goetz mit einer
Rasierklinge die Stirn auf und las den Text
blutüberströmt zu Ende. Die Bilder dieses telegenen
Auftritts, die vom ZDF aufgezeichnet wurden, gingen durch die
Medien und Rainald Goetz wurde "ohne einen Preis bekommen zu
haben, der mediale Sieger von
Klagenfurt" 3. In den folgenden Monaten
und Jahren wurde er mit Literaturpreisen und Arbeitsstipendien
ausgezeichnet und hielt sich von Oktober 1983 bis zum März
1984 in New York auf.
Im gleichen Jahr seiner Klagenfurter Lesung, die ihn
schlagartig berühmt machte, die gleichzeitig aber auch
viel Spott nach sich
zog 4, erschien dann sein
vielbeachtetes Romandebüt "Irre", das fast durchweg
positiv besprochen
wurde 5. Besonders hervorgehoben in
den Rezensionen wurde dabei immer wieder seine "Wort-Gewalt"
(Waschescio, Noetzel, 28). Diese meint zum einen seine
Sprachartistik und -fertigkeit, zum anderen bezieht sie sich
aber auch auf seine "eruptive Leidenswut" (ebd., 29). Viele
Kritiker sahen in dieser "Wort-Gewalt" Parallelen zu Heiner
Müller (ebd.) oder Thomas Bernhard (Winkler).
Seit 1984 arbeitet Rainald Goetz ausschließlich als
freier Schriftsteller und schreibt regelmäßig
Artikel für die Musikzeitschrift "Spex". Zwei Jahre
später erschien dann im Doppelpack die Theatertrilogie
"Krieg" und der Prosaband "Hirn". "Krieg" besteht aus den drei
Stücken "Heiliger Krieg", "Schlachten" und "Kolik", die
1987/1988 im Bonner Schauspielhaus uraufgeführt und
nachher mit dem Mülheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet
wurden. "Hirn" ist "Schrift Zugabe zu Krieg" (Hirn, 2) und
umfaßt vereinzelte Gelegenheitsarbeiten aus den Jahren
1983 bis 1985, die hauptsächlich in,Spex',,Merkur' und
in der Süddeutschen Zeitung erstveröffentlicht
wurden.
1987 erschien daraufhin sein vieldiskutierter zweiter Roman
"Kontrolliert", der "die Geschichte des Jahres 1977"
(Kontrolliert, 2) erzählt und in dem ursprünglich der
"Staat verhandelt werden" (ebd., 15) sollte. Dieses Buch
splittete die Leserschaft in zwei Lager. Die einen sehen in
"Kontrolliert" ein reines RAF-Sympathisanten-Werk (Höbel),
die anderen ein gänzlich unpolitisches Buch, in dem es
"nicht um die RAF, sondern um die deutsche Romantik" (Winkler,
4) geht. Mit der Klärung der Frage, ob und wie
"Kontrolliert" Partei für die RAF ergreift, möchte
ich mich im weiteren Teil dieser Arbeit
beschäftigen. 6
Zwei Jahre später erhielt Rainald Goetz die
Fördergabe des Schillerpreises und erst 1993, also sechs
Jahre nach seinem zweiten Roman, erschien sein bis heute
letztes Werk, das Buch "Festung" in drei Bänden. "Festung"
umfaßt die drei Theaterstücke "Kritik in Festung",
"Festung" und "Katarakt", zusammengestellt in dem Band
"Festung", die drei Materialbände "1989" und die
verstreute Arbeiten aus den Jahren 1982 bis 1990
bündelnden Berichte "Kronos". Dieses Werk erhielt viele
niederschmetternde Kritiken, auch aus den Kreisen, die Rainald
Goetz eigentlich sehr nahestanden, so etwa dem Konkret- und
Spex-Umfeld (vgl. Dath,
99). 7
Als letzte eigenständige Veröffentlichung von Rainald
Goetz erschien 1994 die Doppelliteratur-CD "Word", auf die er,
von den Technomusikern Oliver Lieb und Stevie Be Zet
musikalisch begleitet, die in "Kronos" veröffentlichten
Texte "Soziale Praxis" und "Ästhetisches System" leicht
gekürzt spricht, beziehungsweise singt.
II. Der Roman "Kontrolliert"
II.1. Aufbau und Thema
An dem zweiten Roman von Rainald Goetz fällt formal als
erstes die Gliederung in drei Abschnitte auf, die er schon bei
seinem ersten Roman "Irre" und auch bei den beiden
Theaterbänden "Krieg" und "Festung" verwandte. Diese
Gliederung besitzt keinen Symbolcharakter (und steht zum
Beispiel für die Trinität Gottes), sondern will dem
Leser, bereits optisch, "die Wandlungen seines alter ego
anschaulich machen" (Wittstock). So unterscheiden sich diese
drei Abschnitte auch deutlich voneinander.
Das erste Kapitel "Schwarze Zelle" ist ein rasanter, zorniger
absatzloser Monolog, nach dem Vorbild Thomas Bernhards. In
diesem Abschnitt sitzt der
Erzähler8 allein an einem Schreibtisch
in seiner,schwarzen Zelle' und erinnert sich an die
Vorkommnisse des Jahres 1977. Vor allen Dingen an sein Erleben
der herbstlichen RAF-Offensive, die er damals als
Geschichtsstudent verfolgte.
Im zweiten Teil "Diktat" verläßt der Erzähler
die selbst auferlegte Einsamkeit seines Schreibtisches, "die
Kontaktsperre" (Kontrolliert, 16), und präsentiert sich
hauptsächlich im Gespräch mit Freunden und Bekannten.
Wild wechselt nun die Erzählperspektive zwischen "der nach
wie vor unversöhnlichen Ich- und einer
gemäßigteren Er-Form hin und her" (Wittstock).
In dem Schlußkapitel "Im Namen des Volkes" rückt der
Erzähler schließlich immer mehr aus dem Blickpunkt
des Geschehens und "Goetz parodiert in 44 Szenen - die den 44
Tagen zwischen Schleyers Entführung am 5.9. und der
Entdeckung seiner Leiche am 18.10. 1977 entsprechen - Tonfall
und Denkmuster eines Regierungssprechers ebenso wie die eines
Psychiaters oder eines leitenden Verfassungsschützers
( …)"9.
Genau zehn Jahre nach dem größten bundesdeutschen
Nachkriegstrauma, das mit der Ermordung des
Generalbundesanwalts Siegfried Buback am 7. Mai 1977 begann,
die Ermordung des Sprechers der Dresdner Bank, Jürgen
Ponto, am 1. Juli 1977 und die Entführung des
Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer und der
Lufthansamaschine,Landshut' nach sich zog und
schließlich mit dem kollektiven Selbstmord von Andreas
Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe und der
Erschießung Hanns-Martin Schleyers blutig endete, nahm
sich Rainald Goetz des Themas an, das auch heute noch für
Schlagzeilen sorgt 10.
"Ich erzähle hier die Geschichte des Jahres 1977"
(Kontrolliert, 15), lautet der erste Satz des Romans und schon
das Bild auf dem Umschlag - Rainald Goetz läßt sich
vor dem RAF-Signum, das Maschinengewehr im fünfzackigen
Stern, abbilden11 - verrät die
Beschäftigung mit der RAF in diesem Werk.
Das ganze Buch ist aufgeladen mit meist kurzen,
beiläufigen Anspielungen und Kommentierungen der damaligen
Geschehnisse. Als Beispiel möchte ich nur zwei Textstellen
anführen.
"Höfliche Terroristen ( …) können die installierte
Stalinorgel am Schluß auch selber sabotieren, damit die
Stenotypistinnen in der Bundesanwaltschaft gegenüber nicht
erschrecken, wenn sie plötzlich aus heiterem Himmel durch
den Fensterkaktus durch tot geschossen werden"(ebd., 148),
bezieht sich auf den mißglückten
"Raketenwerfer-Anschlag" der Raf auf das Gebäude der
Bundesanwaltschaft in Karlsruhe am 25. August 1977. Dieser
Anschlag scheiterte, weil die Täter vergaßen, das
Läutwerk des Tischweckers, der das von einer
gegenüberliegenden Wohnung auf die Bundesanwaltschaft
gerichtete "Flächenschußgerät" auslösen
sollte, aufzuziehen. Vor Gericht behauptete der dafür
angeklagte Terrorist Peter-Jürgen Boock später,
daß er dies absichtlich getan habe, da er den Anschlag
vereiteln wollte. Dennoch kam das Oberlandesgericht nachher zu
dem Fazit, "daß der Angeklagte den Anschlag nicht
bewußt sabotiert hat, sondern daß ihm in der Hektik
der Tatvorbereitungen lediglich ein Fehler unterlaufen
ist." 12
Eine weitere Textstelle, die sich auf einen Terrorakt der RAF
bezieht, ist "Susanne Albrecht war bei Pontos zu Besuch, dann
war Herr Ponto tot, obwohl Susannes Freunde ganz manierlich
waren und extra Blumen mitgebracht hatten ( …)" (ebd., 148).
Dieses Zitat erklärt die Umstände, wie das
RAF-Kommando, das Jürgen Ponto eigentlich entführen
wollte, ihn dann aber nach dessen Weigerung mit fünf
Kugeln erschoß, überhaupt Zugang zu dessen
Privatwohnung erhielt. Diesen erhielten Brigitte Mohnhaupt und
ein bis heute nicht identifizierter männlicher Begleiter
durch Susanne Albrecht, der Tochter eines Studienfreundes von
Ponto, die zu dritt und mit einem Blumenstrauß in der
Hand einfach an der Haustür klingelten und von Pontos
Fahrer und Hausmeister hineingelassen wurden.
Diese beiden exemplarischen Textstellen machen deutlich,
daß es Goetz nicht darum geht, wie es im ersten Satz des
Romans geschrieben steht, die Geschichte des Jahres 1977 zu
erzählen, also einfach chronologisch wiederzugeben,
sondern daß er sie in erster Linie kommentiert. Der Leser
versteht nur dann die knappen, meist beiläufigen
Anspielungen und Kommentare, wenn er mit den terroristischen
Ereignissen des Jahres 1977 vertraut ist. Falls er sich aber
mit der Materie nicht auskennt, dann besteht sehr leicht die
Gefahr, daß er entscheidene Textstellen einfach
überliest und am Ende des Buches überhaupt nicht
mitbekommen hat, wo und wann es um die RAF und die Ereignisse
des Jahres 1977 ging. Somit ist "Kontrolliert" keine
durchschnittliche, in Zeitgeschichte gebettete Erzählung,
sondern vielmehr ein Geschichtskommentar. Darauf weist bereits
der Untertitel von "Kontrolliert" hin, der nicht,Roman'
lautet, sondern "Geschichte" (ebd., 5).
II.2. Der
"Terroristenfreund"13
Rainald Goetz ist ein hochgradig politischer Schriftsteller,
dessen Werk, vor allen Dingen das dramatische, bis 1989
geradezu,klassenkämpferische' Dimensionen besitzt, so
lautet der Klappentext der Theatertrilogie "Krieg": "Der Kampf
geht weiter. Sieg oder Tod."
Eine Erklärung für die starke Anziehungskraft des
Kommunismus auf Intellektuelle, insbesondere auf den zweifachen
Doktor Goetz, liefert sein Freund und Förderer Diedrich
Diederichsen 14, der auch die
"Hauszeitschrift" von Rainald Goetz (Winkler),Spex'
herausgibt, in seinem Buch "Sexbeat":
"Ich bin Kommunist, weil Kommunismus, speziell der Leninismus,
die einzige Weltanschauung ist, die die Macht in die Hände
der Intellektuellen
legt." 15
Den tiefen Einschnitt in ihrem Selbstverständnis, den der
Mauerfall 1989 bei vielen,linken' Intellektuellen
auslöste, verarbeitet Goetz in seinem dreibändigen
Werk "Festung", besonders stark in den Materialbänden
"1989". Dort verwischen die bis dahin klargezogenen Grenzen, -
die Französischen Tennismeisterschaften erhalten etwa die
gleiche Aufmerksamkeit wie politische Dinge, z. B. die
Studentenunruhen in China - und der Erzähler ist nicht
mehr in der Lage, Sport, Unterhaltung, Kultur und Politik
voneinander zu trennen: "Becker mit einem frischen Hemd/und
Pollunder wieder drüber/Mao/Altbundeskanzler
Schmidt/Respect yourself" (1989 Bd. 1, 54).
Doch mindestens bis 1987, dem Erscheinungsjahr von
"Kontrolliert", plagen Goetz diese Zweifel nicht.
Immer wieder hat sich Goetz in seinem Werk als
"Terroristenfreund" bezeichnet, teilweise bedauert er sogar,
kein Terrorist geworden zu sein. Der Rasiermesserauftritt von
Klagenfurt basiert so etwa auf dem folgenden Satz des
Wettbewerbtextes "Subito": "Und weil ich kein Terrorist
geworden bin, deshalb kann ich bloß in mein eigenes
weißes Fleisch hinein schneiden." (Hirn, 16)
Darüberhinaus wählt Goetz meist Terroristen als
Namenspaten für seine
Protagonisten 16. Die elementare Bedeutung
und Symbolkraft, die diesen Namensbeziehungen innewohnt, hat
Ingeborg Bachmann schon 1959/60 in der vierten ihrer fünf
Frankfurter Vorlesungen unter dem Titel "Der Umgang mit Namen"
hervorgehoben, wo es heißt:
"Denn mir scheint, daß die Treue zu diesen Namen,
Gestaltnamen, Ortsnamen, fast die einzige ist, deren die
Menschen fähig
sind." 17
Die Terroristensympathie von Rainald Goetz hat im Wesentlichen
zwei Gründe.
Zum einen wehrt er sich energisch gegen die staatliche
Terroristenverfolgung. So heißt es im dritten Punkt
seines Textes,Kerker': "Die Verhaftung ist ein Akt staatlicher
Willkür" (ebd., 106). Besonders die Isolationshaft, mit
der Nachrichten- und Kontaktsperre, der die damals einsitzenden
Terroristen ausgeliefert waren, läßt Goetz für
die Gefangenen eintreten. In diesem Punkt fallen einige
Parallelen zur Hochphase des Terrorismus in den siebziger
Jahren auf, denn die damaligen Hungerstreiks, mit denen die
Gefangenen auf ihre Situation aufmerksam machten, führten
zur massenhaften Gründung von sogenannten
Hungerstreik-Komitees. Ihr Ziel sahen die Mitarbeiter darin,
"eine breite antifaschistische Öffentlichkeit
herzustellen" (Peters, 155). Aus dieser
,Gegenöffentlichkeit' wurden viele Menschen zu
RAF-Sympathisanten, manche sogar zu neuen
Terroristen 18. Insofern kann man Goetz
auch zu diesem "legalen Arm der RAF" (ebd., 155) zählen,
wobei Goetz allerdings seine Motivation genau kennt und
beschreibt:
"( …) Der Staat ist Ausbeuter und Unterdrücker, das
Kapital, und plötzlich ist der Staat Gefangener der raf,
der Staat ist nur noch Angst, die Drohung, die Kontaktsperre,
der Staat ist machtlos, der Staat ist der im
Volksgefängnis inhaftierte Altfaschist ( …)"
(Kontrolliert, 16).
Doch die noch wichtigere, noch entscheidendere Motivation
für das Eintreten und Identifizieren mit den Terroristen,
ist für Rainald Goetz die Unfaßbarkeit des Staates.
"Der Staat ist ungeheuerlich, die Ungeheuerlichkeit, die einer,
wie ich hier, nicht fassen kann" (ebd., 15). Goetz, für
den "Spontaneitismus und Terror ( …) selbstverständliche
Aktionsformen des revolutionären Kampfs" (Hirn, 106) sind,
kann sich nicht mit diesem Staatengebilde identifizieren. Ihm
schwebt eine andere Gesellschaftsform vor, er ist im Besitz
einer Utopie, so daß er das Bestehende grundweg ablehnt.
Soweit ablehnt, daß der Staat in ihm Ekel hervorruft, er
sich von ihm eingeengt fühlt, Goetz den Staat also
haßt. Damit besitzt er eine Grundhaltung, die für
Norbert Elias die Grundhaltung der RAF-Terroristen war:
"Vermutlich spielte bei ihrem gewalttätigen Kampf gegen
die bestehende Gesellschaftsordnung ihr eigenes Empfinden, von
schweren gesellschaftlichen Zwängen belastet zu sein, und
ihr Verlangen nach ihrer eigenen Befreiung von einer
unerträglichen Unterdrückung eine sehr viel
größere Rolle, als ihnen theoretisch bewußt
war. ( …) Wenn man die Äußerungen intellektueller
Terroristen liest, dann stößt man immer wieder von
neuem auf Zeugnisse für das Empfinden, in einer
unerträglich oppressiven und unfreien Gesellschaft zu
leben, die zerstört werden muß ( …)" (Elias,
305f).
Genau dieses Empfinden herrscht bei Goetz im gesamten ersten
Kapitel des Romans vor. Dieses Empfinden reicht sogar soweit,
daß sich der Erzähler bis zur Selbstaufgabe hin mit
Raspe identifiziert: "( …) ich bin Raspe" (Kontrolliert, 16).
Für ihn gibt es vor dieser "unerträglichen
Unterdrückung" keine Flucht mehr; weder im Alkohol noch in
der Kunst 19, die Elias als klassische
"Ausweichkanäle" 20 bezeichnet, findet der
Erzähler einen Ausweg.
In dem Roman wird der Leser ständig damit konfrontiert,
daß es für den Erzähler zwei Wirklichkeiten
gibt. Zum einen die "Wirklichkeit" (ebd., 38), die
großgeschrieben und durch den Staat repräsentiert
wird, zum anderen die "wirklichkeit" (ebd., 20), die
kleingeschrieben wird 21 und damit die
RAF-Realität bezeichnet.
II.3. Wer spricht?
Wenn man die Fragen klären will, welche Position der Roman
"Kontrolliert" zum Terrorismus und welche Haltung Rainald Goetz
zur RAF einnimmt, zwei übrigens grundlegend verschiedene
Dinge, dann ist ein Aspekt von entscheidender Bedeutung: Wer
ist eigentlich der Erzähler in diesem Buch?
Viele Rezensenten haben es sich, auch schon bei den
Besprechungen zu früheren Werken von Goetz, zu einfach
gemacht, so schreibt Willi Winkler etwa in seiner
Zeitungskritik, daß "dieser Raspe [Kontrolliert] ( …)
natürlich identisch mit jenem Rainald M. Goetz" (Winkler)
ist. Dies ist ebenso falsch wie die Gleichsetzung des Raspes
aus "Irre" mit jenem Terroristen Jan-Carl Raspe. Goetz
verärgert es,
"daß Jan Carl Raspe, derherrhabihnselig, nicht Jan Karl
Raspe mit K geheißen hat, wie Lorenz Lenzilein von
Seidlein in einem Textlein in Elaste Nummer 7 Seite 7, der
meinen schönen Vornamen zur Überschrift hat,
schreibt, und daß die Hauptfigur meines Romans weder Jan
Karl noch Jan Carl sondern Wilhelm Raspe heißt ( …)"
(Hirn, 44).
Nach genauer Lektüre des Romans erkennt man, daß
Goetz mit den Erzählperspektiven und auch mit den
Erzählern geradezu spielt, so daß jene simplen
Übertragungsmodelle, die oben angeführt wurden, nicht
greifen. Dennoch lassen sich drei Erzählperspektiven, die
nicht immer klar zu trennen sind,
herausstellen. 22
Zum einen gibt es eine Hauptfigur namens Raspe. Dieser Raspe
besitzt mannigfaltig biographische Gemeinsamkeiten mit Rainald
Goetz, etwa das gleiche Geburtsjahr (Kontrolliert, 42) und
dasselbe Studienfach (ebd., 32), so daß man diesen Raspe
als das "Alter ego" von Goetz ansehen kann. Damit würde
Goetz ein klassisches Erzählmodell aufgreifen; eben das,
des ausgewählten Protagonisten als Sprachrohr des Autors.
Dieser Raspe könnte so eventuell auch der Ludwig Raspe aus
"Irre" oder der Raspe aus "Subito" sein, obwohl es dafür
keine eindeutigen Hinweise gibt.
Zum anderen wechselt vor allen Dingen im Schlußkapitel
die Perspektive immer häufiger zu Jan-Carl
Raspe 23 hinüber, besonders
deutlich in der Schilderung seines Todes (ebd., 279ff).
Allerdings ist sich Rainald Goetz der Schwierigkeiten
bewußt, die diese Identifikation mit sich bringt, so
daß er schon auf den ersten Seiten seine spätere
Vorgehensweise abschwächt:
"Der Bau heißt Stammheim, ich bin Raspe. Ich saß im
Gefängnis, ich ging im Raspe in der Zelle auf und ab, ich
las mit seinen Augen Bücher, ich war der Baaderhaß.
Da war die Grenze da. Ich war nicht Raspe." (ebd., 16)
Hierin macht Goetz deutlich, daß diese zeitweilige
Identifikation nur literarisch möglich ist, als
ästhetisches Spiel, so wie er etwa im letzten Kapitel die
Gedanken des Kunstmalers
Sand 24 imitiert. Damit unterliegt
Goetz trotz seiner starken Sympathien und der ähnlichen
Grundüberzeugung (vgl. Kapitel II.2.) nicht der
Versuchung, seine Rolle zu überschätzen und sich
anzumaßen, dem Kreis der Terroristen anzugehören. Er
ist "weniger der Bauherr, mehr der Schreiber" (Kontrolliert,
18).
Schließlich aber meldet sich Rainald Goetz, wie er es
schon in seinem ersten Roman (Irre, 258) tat, doch noch an
wenigen Stellen selbst zu Wort, etwa "ich heiße Rainald,
ich bin Alkoholiker" (Kontrolliert, 104).
Dies bedeutet, daß mindestens drei Erzählpositionen
in diesem Roman existieren und gleichzeitig damit mehrere
Beurteilungen der RAF.
Zum einen die aus der Sicht des Sympathisanten, durch das
"Alter ego" von Rainald Goetz, Raspe, zum anderen die des
tatsächlichen Terroristen, der jedoch nur literarisch
verfremdet präsent ist. Die aber wahrscheinlich wichtigste
Position, die tatsächliche von Rainald Goetz, tritt nicht
offen und unverhüllt zu Tage. Eine Annäherung an
diese möchte ich im Kapitel III. wagen.
Einen Punkt stellt Goetz aber ganz klar heraus; er ist kein
"Terrorist", für den ihn etwa einige Rezensenten halten
(vgl. Winkler), denn "richtiger Terror heißt für
mich wirklicher Terror steht mir vom Wortort her entgegen durch
den Stilleterror" (Kontrolliert, 90).
II.4. Der Verweigerer
Ein Motiv, das das Leben und das Werk von Rainald Goetz wie ein
roter Faden durchzieht, ist die Verweigerung.
Schon früh, mit seinem ersten öffentlichen Auftritt
in Klagenfurt, bricht Goetz Tabus der Kulturszene, so
beschimpft er beispielsweise unverhohlen die
Juroren 25. Da auch diese
,Literaturverweigerung', also die Schockierung des Publikums
und der Kritiker, mittlerweile eine recht lange Tradition
aufweist, exemplarisch sei an dieser Stelle nur auf Peter
Handke hingewiesen 26, müssen die Mittel
zwangsläufig drastischer werden, damit man
tatsächlich noch Entrüstung und Bestürzung
hervorrufen kann.
Rainald Goetz, der den Kulturbetrieb in seiner Funktion als
Zeitungsrezensent genau beobachtet hatte, kennt natürlich
diese Spielregeln und spielt anfänglich munter mit. Da es
immer schwerer geworden ist, in einer Diskussion das
Gegenüber mit Thesen zu schockieren, muß man, um
Aufsehen zu erregen, die Diskussion verweigern. Und so sieht
sich Goetz "als der entschiedenste Feind des Gesprächs,
schon gar des öffentlichen Gesprächs" (Hirn, 110) an.
Dennoch nahm er etwa 1984 an einem Symposium in Graz teil
und
"beschimpfte ( …) eine Schriftstellerkollegin als,verhungerte
Germanistenfotze' 27, eine andere als
,Teiggesicht', einen Soziologen als,Fettsack', einen weiteren
Schriftsteller als,ringelhemdtragende
Elendsexistenz'." 28
Natürlich verwundert es, daß "der entschiedenste
Feind des Gesprächs" überhaupt an einem Symposium
teilnahm. Und hier zeigt sich ein Problem der
Verweigerungshaltung. Falls man sich wirklich nur verweigert,
in diesem Fall etwa den Gesprächen fernhält, findet
diese Haltung keine Beachtung. Sie wird gar nicht als
Verweigerung sichtbar, sondern als stilles Einverständnis,
so wie etwa die Stimmenthaltung bei politischen Wahlen auch nur
die dann gewählte Mehrheit unterstützt. Andererseits
bietet die,volltönige', mediengerechte Verweigerung sehr
viel Angriffs- und Kritikfläche. Goetz muß sich den
Vorwurf gefallen lassen, daß die
Gesprächsverweigerung nur der eigenen Darstellung diente,
so daß er gar nicht das Gespräch verweigerte,
sondern nur eine Außenseiterrolle im Gespräch
annahm, die die Institution,Gespräch' wiederum festigte.
Diese Paradoxie wurde Goetz in den folgenden Jahren immer
bewußter, worauf er mit einem Rückzug aus den Medien
reagierte und hauptsächlich seine Texte sprechen
ließ. So erschien Goetz nicht mehr persönlich auf
Preisverleihungen und gab nur noch selten Lesungen und
Interviews. 29
Wesentlich problemloser verweigern sich Goetz' Romanfiguren. In
seinem ersten Roman "Irre" droht der Irrenarzt Raspe an der
Institution Psychatrie zu zerbrechen, förmlich selber
wahnsinnig zu werden. Und als er "nicht mehr weiter konnte,
schmiß er den Kram einfach hin" (Höbel). Diese
Kapitulation ist die klarste Form der Verweigerung.
Doch in "Kontrolliert" erreicht die Verweigerung eine neue
Stufe. Die Hauptfigur Raspe ist im ersten Kapitel des Romans
mit der Abfassung seiner Doktorarbeit beschäftigt.
Wiederum scheint Raspe an einer Institution, diesmal der
Institution "Universität", zu scheitern, denn seine
hochgesteckten Erwartungen haben sich nicht erfüllt,
"weil die Universität nicht Wissen lehrt, sondern
Wissensränder, an denen Forschung steht und einen
Einzelpunkt ins nichts des Nichtwissens raus treibt"
(Kontrolliert, 32).
Doch in "Kontrolliert" besteht Raspe die Herausforderung, denn
"die Universitätsverhöhnung ist mein Motiv für
meine Doktorarbeit" (ebd., 39). Damit kapituliert er nicht vor
der Institution, sondern unterwandert sie. Dadurch wird er zwar
ein Teil der Institution, besitzt dafür aber auch die
Möglichkeit, die Institution von innen her zu
verändern, zu reformieren. Und eine Veränderung
besteht allein schon darin, daß jemand wie er ein Teil
der Institution wird. So besteht die Verweigerung diesmal nicht
wie in "Irre" aus der äußerlichen Verweigerung, also
der Wegwendung von der Institution, sondern aus einer inneren
Verweigerung. 30
III. Schlußbetrachtungen
Wenn man dem zweiten Roman von Rainald Goetz gerecht werden
will, falls man ernsthaft versucht, "Kontrolliert" als ein
politisierendes Werk nachzuvollziehen, dann rückt ein
Spannungsfeld immer deutlicher in den Vordergrund: Das
Spannungsfeld zwischen
,Terroristenfreund'
31 und,innerem
Verweigerer'
32. Falls man aber den Fehler
begeht und einen der beiden Aspekte nicht berücksichtigt,
das Spannungsfeld also übersieht, kommt man
zwangsläufig zu einer falschen, da einseitigen Bewertung.
Je nachdem sieht man so entweder in dem Autor den "als
späten Sympathisanten Delirierenden" (nach Höbel)
oder in "Kontrolliert" ein Werk, indem es "nicht um die RAF,
sondern um die deutsche Romantik" (Winkler) geht.
Einen Schlüsselbegriff für Goetz, der dieses
Spannungsfeld genau umreißt und mit dem er sich beinah in
allen seinen Werken
beschäftigt 33, wählte er deshalb als
Titel seines zweiten Romans: "Kontrolliert".
Einerseits ist Kontrolle, vor allen Dingen wenn sie eine
staatliche ist und sich zum Beispiel in Inhaftierungen und
Kontaktsperren äußert, für Raspe eine
Ungeheuerlichkeit. Andererseits braucht er als Mensch diese
Kontrolle, denn
"Ordnung ist schließlich in allem, gerade im
äußerlichen, ein wunderbarer Halt des Schönen."
(Kontrolliert, 33.)
Darin hat der Raspe aus "Kontrolliert" dem Raspe aus "Irre"
einiges voraus. Während der erste Raspe an einer neuen
Herausforderung, in diesem Fall die Abfassung einer
Doktorarbeit, höchstwahrscheinlich wie an der Institution
"Psychatrie" gescheitert wäre, und also die
äußere Form der Verweigerung gewählt
hätte, da er Kontrolle in jeglicher Form, staatlich wie
auch individuell, ablehnt, weiß der andere Raspe
mittlerweile, daß Kontrolle auf alle Fälle
individuell notwendig ist. Notwendig um die staatliche
Kontrolle, die Raspe durchaus noch verurteilt, überhaupt
zu kritisieren, denn "Kritik ist Kontrolle der Korrektheit"
(Hirn, 43). Dieser Kontrollgewinn hält ihn aber davon ab,
die RAF zu verherrlichen; einer Gefahr, der der frühere
Raspe ausgesetzt war. Doch der neuerliche Kontrollgewinn macht
auch vor der RAF nicht Halt, so ist der neue Raspe durchaus in
der Lage, die RAF zu kritisieren. Rainald Goetz bringt in
seinem Roman sogar ein Argument, daß die Aktionen der RAF
insgesamt humanistisch verurteilt:
"Das Problem, an dem die ganze raf zerbricht, ist weder der
Mercedes, noch der Buback, sondern sein Fahrer Wolfgang
Göbel 34, so ging die Rechnung hier
ganz klar, da halfen keine Worte revolutionärer
Herrlichkeit und Härte." (Kontrolliert, 139.)
Allein durch diesen Satz wird klar, daß Goetz kein reines
"RAF-Buch", das den Terror verherrlicht, geschrieben hat, so
wie es viele Rezensenten (Strasser) sehen. Doch ein
unpolitisches Buch, für das es Willi Winkler hält,
ist "Kontrolliert" natürlich auch nicht. Das Thema ist
eindeutig festgelegt, Rainald Goetz verhandelt in seinem Buch
den Staat ebenso wie die RAF und kritisiert schonungslos beide
Seiten. Allein aber dadurch, daß er beide Seiten gleich
behandelt und auf eine Stufe setzt, löst er in einem Land,
indem die Debatte um Terrorismus immer noch tabuisiert ist,
einen Proteststurm aus.
Im Kapitel II.2. habe ich einen Satz von Diedrich Diederichsen
zitiert, der die Anziehungskraft des Kommunismus auf
Intellektuelle erklärt, zu denen auch Rainald Goetz
zählt. Auch auf die Terroristen der RAF besaß der
Kommunismus eine große Anziehungskraft, da
"Marx fast als einziger Gesellschaftswissenschaftler ein
Gedankengebäude hinterlassen hat, dessen Kern eine Theorie
der sozialen Ungleichheit und Unterdrückung mit einem
eingebauten Versprechen der Lösung dieses Problems ist,
wurde sein Werk zum zentralen Orientierungsmittel für
diejenigen Gruppen der aufsteigenden bürgerlichen
Generationen, die unter der gesellschaftlichen Situation ihrer
Gegenwart und unter ihrer eigenen Stellung darin litten."
(Elias, 303.)
Doch hierin besteht der entscheidene Unterschied zwischen einem
Intellektuellen wie Goetz auf der einen Seite und den
RAF-Terroristen auf der anderen. Denn für die
Intellektuellen stellt der Kommunismus vordergründig das
Ziel dar, die Utopie, während Marx für die
Terroristen nur der Ausweg ist. Goetz erkennt, daß
"gewalttätig in einen fremden Menschen rein zu
schießen, oder auch nur in einen selbst, kann keine noch
so revolutionäre Logik theoretisch postulieren"
(Kontrolliert, 102.) und "Handeln folgt nicht theoretischer
Begründung, sondern handelt für sich logisch einfach
Schritt für Schritt nach einer jeweils neuen
Augenblickslogik. Deshalb ist es Unsinn, vom Täter auch
noch Theorien zu verlangen." (ebd., 60.)
Damit liefert der Intellektuelle Goetz die Erklärung ab,
warum er kein Terrorist, sondern nur,Terroristenfreund'
geworden ist und dieses Buch geschrieben hat.
IV. Literaturverzeichnis
Werke
- Rainald Goetz: Irre. Frankfurt a. M. 61986 (=suhrkamp
taschenbuch 1224).
- Ders.: Krieg. Hirn. 2 Bde. Frankfurt a. M. 31986
(=edition suhrkamp 1320).
- Ders.: Kontrolliert. Frankfurt a. M. 1991 (=suhrkamp
taschenbuch 1836).
- Ders.: Festung. Frankfurt a. M. 1993 (=edition suhrkamp
1793).
- Ders.: 1989. 3 Bde. Frankfurt a. M. 1993 (=edition
suhrkamp 1794).
- Ders.: Kronos. Frankfurt a. M. 1993 (=edition suhrkamp
1795).
Darstellungen
- Johano Strasser: Über eine neue Lust an der
Raserei. In: L'80 44, 1987, S. 9-23.
- Petra Waschescio/Thomas Noetzel: Die Ohnmacht der
Rebellion. Anmerkungen zu Heiner Müller und Rainald
Goetz. In: L'80 44, 1987, S. 27-40.
- Uwe Wittstock: Vom Terror der Gedanken. Der Haß
des Rainald Goetz und sein RAF-Buch,Kontrolliert'. In:
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.9.1988 (Bilder und
Zeiten).
- Wolfgang Höbel: Das Wortkraftwerk als Wurstfabrik.
Rainald Goetz deliriert als später Sympathisant:
,Kontrolliert'. In: Süddeutsche Zeitung, 5.10.1988
(Literaturbeilage).
- Willi Winkler: Niemand, nichts, nur ich. Rainald Goetz
schreibt seinen zweiten Roman, es geht aber nicht um die
RAF, sondern um die deutsche Romantik. In: Die Zeit,
7.10.1988, S. 4 (Literaturbeilage).
- Rainer Kühn: Bürgerliche Kunst und
antipolitische Politik. Der,Subjektkultkarrierist' Rainald
Goetz. In: Walter Debelar (Hrsg.): Neue Generation - neues
Erzählen. Deutsche Prosa-Literatur der achtziger Jahre.
Opladen 1993.
- Rainer Kühn: Rainald Goetz. In: Heinz Ludwig Arnold
(Hrsg.): Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen
Gegenwartsliteratur. München 1978ff (32. Nlg.).
Hinzugezogene Werke
- Norbert Elias: Studien über die Deutschen.
Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20.
Jahrhundert. Frankfurt a. M. 41990.
- Butz Peters: RAF. Terrorismus in Deutschland. Stuttgart
1991.
- Dietmar Dath: Cordula killt Dich! oder Wir sind doch
nicht Nemesis von jedem Pfeifenheini. Berlin 1995.