Max Müller (mit Richard)
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Anything goes … Aus Funk und Fernsehen bekannte Wetterfrösche und ehemalige Moderatoren von Kindersendungen schreiben mittelständische Großstadtromane (Else Buschheuer, Alexa Hennig von Lange), Schriftsteller stehen hinterm DJ-Pult oder kompilieren ihre Lieblingslieder (Wladimir Kaminer, Rainald Goetz, Franz Dobler, Falko Hennig), Aktionisten und Kunststudenten greifen zum Mikrophon und besprechen/besingen Instrumentallieder (Flatz, Chicks on speed), fast zu jeder neuen Buchveröffentlichung erscheint auch eine gleichnamige Audio-CD - und umgekehrt! Michel Houellebecq erscheint heute im Konzertsaal, morgen im Literaturhaus, Gedichte heißen plötzlich Tracks, Collagieren Samplen; ja, alles ist Text, und jeder kann alles! Das war schon immer so und wird nie anders sein.
Interdisziplinäres Schaffen ist einfach in, und insbesondere die Gespielinnen Popmusik und Literatur erscheinen derzeit wie die zwei Seiten einer Medaille. Kein Wunder, beides ist ja auch so leicht, gerade heute. Den Autoren stehen gleich mehrere Rechtschreibungen zur Verfügung, Musiker müssen keine Instrumente mehr beherrschen, gepriesen sei der MusicMaker, und spätestens seit den »Genialen Dilletanten« wissen wir, daß Sänger auch nicht unbedingt singen müssen.
Doch seit jeher besitzen Popmusik und Literatur gegenseitig eine ungeheuere Anziehungskraft. Die Charts waren für den Beatnik Peter Handke eine ebenso wichtige Inspirationsquelle wie für den Popper Benjamin von Stuckrad-Barre, und seit langem schielen die Autoren neidisch auf das ekstatisch-entrückte Konzertpublikum. Freilich, die Popfans sind ja meist nicht nur zahlreicher als das gewöhnliche Lesungspublikum, sondern häufig auch noch jünger, hübscher, knackiger. Also raus aus den engen Buchhandlungen und miefigen Literaturhäusern und rein in die angesagten Nachtclubs und Konzerthallen, auch Ernst Jandl hat in den sechziger Jahren doch schon die Londoner Albert Hall gefüllt.
Trotz aller derzeitigen Anstrengungen muß man allerdings festhalten, daß die singenden, rappenden und rockenden Schriftsteller fast durchweg noch ohrenbeleidigender klingen als das endlose Heer der trällernden Schauspieler (Uwe Ochsenknecht, Ben Becker, Katja Riemann). Aber auch viele Sänger und Musiker drängt es zur anderen Seite und hinter den Schreibtisch, schon Jim Morrison empfand sich eher als Literat und Lyriker denn als Sänger und pumpte seine Tantiemen in den Privatdruck seiner Gedichtbände.
Aber Obacht: Ein Popschaffender schreibt nicht zwangsläufig Popliteratur, ebenso wie Ritterromane ja auch nicht von Rittern geschrieben werden. Das Kreuz mit diesem heute so inflationär gebrauchten Pop-Etikett ist gerade sein wahlloser Gebrauch. Denn es reicht einfach nicht aus, seinem Buch ein Liedzitat voranzustellen, seine Plattensammlung zu beschreiben oder die Protagonisten Nacht für Nacht in irgendwelche Diskotheken zu hetzen. Oder eben Popschaffender zu sein.
Es fällt auf, daß im Gegensatz zu der sogenannten Popliteratur viele Prosa schreibende Popmusiker und -sänger ungemein hochwertige und stilistisch ausgefeilte Texte produzieren. Thomas Meinecke, der Texter, Sänger und Musiker der Ausnahmeband Freiwillige Selbstkontrolle, zählt etwa zu den begabtesten Stimmenimitatoren der neueren deutschen Literatur, Françoise Cactus, die Schlagzeugerin und Frontfrau von Stereo Total, schreibt so wunderbar leicht, brillant und präzise wie keines der in den Himmel gelobten deutschen Fräuleinwunder, und zu guter letzt darf man nicht vergessen, daß der mit wohl stilsicherste und wortgewaltigste deutsche Kolumnist ursprünglich Sänger war und es eigentlich bis heute auch geblieben ist - Max Goldt.
Ein anderer Max hat nun sein erstes Buch, »Musikcafé Wolfsburg«, vorgelegt: Max Müller. Bekannt geworden ist der 1963 geborene und seit Urzeiten in Berlin lebende Wolfsburger als Sänger und Frontmann der Berliner Kultband Mutter, eine Gruppe, die man seit Jahren zweifellos zu den aufsehenerregendsten, wandlungsfähigsten und besten deutschen Musikacts zählen muß. Und es wirft ein bezeichnendes Licht auf die Mechanismen der Plattenindustrie, daß die fünfköpfige Band - deren Schlagzeuger in Jörg Buttgereits Splatterschocker »Schramm« die Hauptrolle spielte, deren Gittarist den fünften Beatle Klaus Beyer managt und zudem u. a. mit David Lynch Filme dreht, deren Bassist eine Baufirma mit dem wunderschönen Namen »Bauphilosophen« gründete und nun einer Internetfirma vorsteht - bis heute noch nicht den Erfolg und die breite Aufmerksamkeit einheimsen konnte, die sie wahrlich verdient hat. Man kann nur hoffen, daß sich dies spätestens dann ändern wird, wenn - wie geplant - Anfang nächsten Jahres endlich die langerwartete sechste Studio-CD von Mutter auf dem Label What`s so funny about erscheinen wird.
Die Intensität von Mutter hängt zweifellos sehr stark mit den außerordentlich ausdrucksstarken, schonungslosen und moralisierenden Liedtexten von Max Müller zusammen, doch der Tausendsassa, der nebenher auch noch zeichnet, malt und filmt, ist nicht nur ein hervorragender Songschreiber, sondern überdies auch ein grandioser Erzähler, was er bereits auf seinen beiden Solo-CDs »Max Müller« und »Endlich tot« bewiesen hat. Die todtraurige Geschichte »Zweiter Weihnachtsfeiertag« sollte etwa in den Kanon christlicher Besinnungsliteratur aufgenommen werden, und das Hörspiel »Mein Vermächtnis« zählt mit zu dem Ungeheuerlichsten, was jemals auf einen Tonträger gepresst wurde.
»Musikcafé Wolfsburg«, erschienen mit zahlreichen Zeichnungen des Autors im kleinen und verdienstvollen Verbrecher Verlag, umfaßt fünfzehn mal kürzere, mal längere Erzählungen und zwei Gedichte. Ebenso unterschiedlich wie die formalen Gestaltungsprinzipien sind auch die Inhalte. Das Buch wimmelt von genmanipulierten Schönheitsköniginnen, gestörten Wunderkindern und gescheiterten Künstlern, die Geschichten berichten von alltäglichen Katastrophen und märchenhaften Wundern, auf manchen Seiten spritzt das Blut eimerweise, dann wieder wird es besinnlich, bedächtig, idyllisch.
Max Müller ist ein Moralist mit einer maßlosen Phantasie, er belehrt nicht, sondern erschlägt die Leser mit seinen ungetümen Hirngespinsten und seiner unkontrollierten Einbildungskraft. Manchmal hat es den Anschein, als ob er zu weit geht und sich und die Wirklichkeit überfordert, doch dann wieder folgen Sätze, Passagen, Einfälle, für die man ihm ewig danken muß, Bilder, die sich in das Hirn brennen. Der Anfang der Erzählung „Koma“ etwa ist ebenso meisterhaft und mustergültig wie der Beginn von Robert Musils »Mann ohne Eigenschaften«: »Nach zweijährigem Koma von der Ehefrau im Wohnzimmer beim Fernsehen erwischt zu werden, ist eine peinliche Situation. Auf die Erklärung ist jeder gespannt. Doch der Reihe nach.«
Max Müller ist ein zärtlicher, brutaler und ungemein unterhaltsamer Chronist des Unvorstellbaren, der neben dem Freiburger Sänger und Schriftsteller Bdolf zu den Virtuosen der sogenannten Trash-Literatur zählt. Wer sich davon überzeugen will, sollte das Buch »Musikcafé Wolfsburg« ganz oben auf seine Weihnachtswunschliste setzen. Und wer bis zum 24. Dezember nicht warten will oder kann, hatte am Sonntag, den 10. Dezember 2000, im Roten Salon der Berliner Volksbühne Gelegenheit, Max Müller aus seinem Werk vorlesen zu hören. Für die Verhinderten, Daheimgebliebenen und Trägen bleibt allein die vage Hoffnung, daß die Lesung vielleicht mitgeschnitten wurde und demnächst als Tonträger erscheint.