
Ricarda Bethke: Die anders rote Fahne
Gebundene Ausgabe 288 Seiten S. Fischer Verlag Ffm. 2001
DM 39,90 EUR 20,40
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Am Abend singen wir selber
Das erstaunliche Debüt der Ricarda Bethke:
Die anders rote Fahne
„Der Friede ist ausgebrochen. Pfingsten 45 ist golden und hell. Meine Großmutter ist eine fleißige Frau, die sich und die ihren benäht. Ihre beiden jüngeren Töchter können auch nähen, sie trennen von einer großen Hakenkreuzfahne die weißen Kreise ab und machen sich rote Dirndlröcke mit weißen und blauen Litzen darauf.“ Ein fünfjähriges Mädchen erwacht ins Leben. In einer Kleinstadt in Thüringen. Ihr kurzes Dasein offerierte ihr bereits eine „anders rote Fahne“ (die ausgeblichene, unten im Wäscheschrank) und das Ende einer Ära. Der Aufbau einer neuen Gesellschaft fällt in ihre Kindheit, Jugend und das Erwachsenwerden. Wir dürfen es miterleben. Der Ton Ricarda Bethkes Erzählung, immer in der Gegenwartsform geschrieben, ist spröde. „Das frühere BDM-Heim unserem Haus gegenüber ist jetzt die Kommandantur. Die Russen rasen mit ihren Autos an unserem Haus vorbei auf der Straße nach Weimar.“ Und überfahren dabei Candidas Onkel. Ricarda Bethkes Ich- Figur hat einen ähnlich ausgefallenen Vornamen wie die Autorin selbst; Candida (candida = eine Antiqua - Schrifttype, lat.).Der Name bezeichnet treffend die etwas antiquierte Sicht des kleinen Mädchens auf die stürmischen Entwicklungen um sie herum. Erzogen wird sie von der schrulligen Großmutter, einer westorientierten Tante, der verträumten Mutter und dem Idol des abwesenden, weil toten Vaters. Sie wird eine Einzelgängerin. „Richtig lieb ist nur Erna zu mir. Erna verspotten die anderen noch mehr als mich, denn Erna ist gutmütig, groß und dick, und ihre Kleider und ihre Wäsche sind noch armseliger als meine und Helgas.“ Candida verbringt einige Jahre in einem Thüringer Internat. Die Kinder erfahren im Mikrokosmos Internat den Wandel und Aufbau der neuen Gesellschaft. Lehrer wechseln, immer neue Appelle werden inszeniert, Weltanschauungen gebastelt und überworfen, korrigiert. Viele sensible Musiklehrer kehren mehrfach Candidas Heimat und Kindheit den Rücken in Richtung Westen. Candida versucht, zu verstehen. Im Pionierlager macht sie begeistert die großen Demonstrationen internationaler Kinderfreundschaft mit und bemerkt gleichzeitig die mangelhafte Ernährung und schlechten hygienischen Bedingungen. Eine Ambivalenz, die von der Autorin nicht kommentiert wird und dadurch trägt. „Eine sehr kleine chinesische Pionierin grüßt uns mit einer sehr hohen Stimme von den chinesischen Pionieren. Ich weine fast, so lieb habe ich die kleine Chinesin. Ich rufe ihr zu „Freundschaft, Drushba, Freundschaft!“ und winke mit meinem bedruckten Weltjugend-Tuch, bis ich nicht mehr kann.“
Gekonnt vermeidet Ricarda Bethke jede Interpretation. Unbeschönigt bietet die 62- jährige Autorin breite Einblicke in die autobiografisch orientierte Kindheit und Jugend der Heldin. Sympathisch wird die naive Selbstsuche eines missverstandenen, belesenen Mädchens dargestellt, dass sich den hehren Zielen des sozialistischen Modells zunächst öffnet. „Weihnachtsmorgen. Ich bin zu Hause. Ich betrachte mit meinen kurzsichtigen Augen die fusselige Kante der Bettdecke im Gegenlicht, die eine große weite Schneelandschaft wird, und halte Reden an Stalin, an Wilhelm Pieck oder an Walter Ulbricht, wie sie es machen sollen, daß kein Krieg kommt. Man muß es doch nur richtig sagen, denke ich.“
Aus dem Internat kehrt das schlaksige junge Mädchen nach Hause zurück. Aber zu Hause ist sie dort nicht mehr. „Ich denke, daß ich nicht zu den normalen Leuten in der kleinen Stadt gehöre. Spreche ich aus, was ich denke, ist es ein Schrecken.“ Allein ihr Nachdenken trennt sie von Kleinstadt und Familie. Sie geht nach Berlin.
Der zweite Teil des Romans ist dem Studium Candidas und einer kurzen Zeit danach gewidmet, bis der Roman abrupt abbricht. An der Humboldt Uni wird eine Lehrerin für Kunsterziehung und Germanistik aus ihr geformt. Ihre menschliche Erziehung übernehmen die Altersgenossen im Wohnheim. „Im Studentenheim lachen alle drei Mädchen in meinem Zimmer Tränen über mich. Ich kenne keine Schlagersänger ich habe noch nie mit einem Mann geschlafen. Ich war noch nie in Westberlin. Ich glaube an den Kommunismus, obwohl ich nicht in die Partei will. Ich verstehe all ihre Berlinerischen Witze nicht. Ich habe eine unmögliche Frisur, nämlich gar keine. Meine Haare hängen einfach zu beiden Seiten herunter.“
Jahre des Lernens, Schauens und Begreifens liegen noch vor Candida. Freunde wird sie erst allmählich finden. Richtig wohl fühlt sie sich erst bei Hans, dem Maler und seiner Muse Gretchen. Dass sie im Prenzlauer Berg Ateliers besucht und in Nächte in Wohnküchen hockt, erzählt Ricarda Bethke genauso unaufgeregt wie das Winken Candidas mit dem Weltjugend- Tuch. Das Debüt der Hörspielautorin und Feuilletonistin steigt hoch über die Wogen „ostalgischer“ Prosastürmer auf. Langsam und genau kann hier ein Lebenslauf verfolgt werden, der exemplarisch eine Entwicklung zum DDR - Bürger beschreibt. In seiner ganzen Individualität tritt dieser auf, mit seinen Freuden, Lieben und Zweifeln. Bevor die Kämpfe und Desillusionen der reifen Frau einsetzen, verabschiedet sich Ricarda Bethke von uns. Nach der Verblüffung darüber wächst ein Gefühl der Dankbarkeit. All das Unausgesprochene füttert die Phantasie. Und nur da ist wirklich Platz für Verklärung.
„Heller Geist herrscht bei Hans und Gretchen, aber nur ganz dünne Scheibchen Seife liegen auf dem Klo in den Rillen des Waschbeckens, und immer Jazzplatten und immer kein Geld. Am Abend singen wir selber ( …) Freunde aus dem Jazzklub, junge Philosophiestudenten, Freunde von Gretchen und, junge Maler oder Zeichenlehrer, Freunde von Hans. Fast alle sind sie widerspenstige Kinder von Widerstandskämpfern, dem Biermann nah … Manche haben Eltern, die sind aus dem Exil in London in die DDR gekommen, um den Sozialismus aufzubauen. Den Kindern gefällt dieser Sozialismus nicht. Sie wollen einen anderen.“
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