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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen



Mai 2001
Anne Hahn
für satt.org


Øystein Lønn:
Maren Gripes notwendige Rituale
Roman
aus dem Norwegischen von Alken Bruns

Gebundene Ausgabe
174 Seiten
Berlin Verlag
Berlin 2001
DM 36,00
EUR 18,41


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Leichte Verschiebung

wie die Bewohner einer kleinen norwegischen Insel aus dem Gleichgewicht geraten

Maren Gripe lebt auf einer überschaubaren norwegischen Insel, deren Rhythmus vom Meer bestimmt ist. Das Geräusch der aus einem Großmast gefallenen Trosse lässt Maren in der Nacht aufwachen; in der sie, wie es später hieß, verrückt wurde. Øystein Lønn führt die junge Frau in einer verschränkten Rückblende ein. In die erzählte jüngste Vergangenheit schieben sich Berichte von Augenzeugen. Die Mutter Sunniva Gripe, der Pastor, der Ehemann Jacob, der Wirt Tollerud und der Arzt Hallum, sie alle berichten über die seltsamen Vorgänge um Maren Gripe. Verwirrend stellen sich diese zeitlich verschobenen Passagen dar, die minutiös von einem Verrücken der Realität berichten. Der Polizeichef und der Lehnsmann sprechen mit den Bewohnern, nachdem Maren in einem Boot hinüber zum Krankenhaus gerudert wurde, um ihren geistigen Zustand untersuchen zu lassen. Was war eigentlich geschehen? Die schöne junge Frau, die in den Salzspeichern am Hafen arbeitet, geht eines Nachts in die Schenke des Tollerud, um Genever zu trinken. Zum ersten Mal in ihrem Leben. Vor dem Gasthaus steht Maren in der sich öffnenden Tür und erblickt Leo Tybrin Beck, einen ausländischen Seemann. „Maren wäre fast umgefallen, als sie ihn sah, stützte sich aber so auf den Korb, dass es aussah, als sei sie plötzlich gestolpert. Das machte keinen Unterschied. Er bemerkte sie kaum. Außerdem zündete er sich seine Pfeife an.“
Maren kann nicht aufhören, ihn anzusehen. Alle, die Maren kennen, wundern sich. Da sitzt Maren Gripe zum ersten Mal im berüchtigten Gasthaus, trinkt Genever und öffnet ihre Bluse langsam vor den Männern. Sie wird verrückt.
In den Metropolen unserer Zeit gibt es kein stilles, kaum wahrnehmbares Verrücktwerden. Wenn etwas aus dem Lot gerät, wird es nur als Extrem sichtbar, eine schreiende oder seltsam bzw. gar nicht bekleidete Frau kann als verrückt bezeichnet werden, aber eine stille, die nur trinkt und schaut? Sie würde wahrscheinlich gar nicht auffallen.
Øystein Lønn schafft mit der genau beobachteten und von allen Seiten analysierten Sicht auf das seltsame Verhalten der Maren Gripe eine Gratwanderung. Enges Bei- und Miteinanderleben kann einschränken, bevormunden, durch Kontrolle zum Kerker gedeihen. Aber die Inselbewohner Lønns sind „normale“, liebenswerte Leute, die ihre Schrullen haben und einander respektieren. Sie sind auf dieses Gleichgewicht und die Toleranz angewiesen, damit sie der Eintönigkeit ihres schroffen Eilands trotzen können. Und da bricht eine aus. Sie wird aber nur scheinbar verrückt, sie tut vielmehr, woran sie sonst nie dachte. Wozu sie Lust hat. Das erkennt auch bald der Arzt auf dem Festland, der sie untersuchen soll. Er geleitet sie schließlich fasziniert zur Anlegestelle zurück.
„Und als sie sein Gesicht sah, bemerkte sie zum ersten Mal, dass die Hausdächer der Stadt glühen konnten. Doktor Hallum, der sich nicht gerne in der Sonne aufhielt, betrachtete dagegen Marens Schultern, und als er das tat, fanden seine inneren Organe gleichsam eine andere und vernünftigere Lage, wie er seinem Freund, dem Bischof, verriet. Als ob Leber, Herz, Milz und Galle mit Seife gewaschen und sorgfältig gespült würden. ( …) Als er wieder ihr Gesicht entdeckte, mitten im Sonnenlicht auf der grauschwarzen und verwitterten Anlegerbrücke, war er nahe daran, etwas Unerhörtes zu sagen und zu tun, aber sie legte ihre Wange plötzlich und mit einer raschen Bewegung an seine Schulter, und er begriff, dass es nicht notwendig war. Er brauchte es nicht zu sagen. Sie hatte es verstanden, und er wusste, dass sie von dem Moment an, als sie ihre Finger in seine geflochten und bis sie den Schlipsknoten gelöst hatte, darum gegangen war, ein Chaos zu vermeiden.“
Doch wo einmal der gewisse Schmetterling seinen Flügelschlag erhebt, bleibt nichts, wie es war. Das millimeterbreite Verrücken der Maren Gripe löst eine köstlich inszenierte Gedanken- und Handlungsflut aus, die den Leser mitreißt und fortträgt, zu den schwarzen Loden, die in der Sonne beim Walken plötzlich türkisfarben werden.