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September 2001
Gerald Fiebig
für satt.org

Mela Hartwig:
Bin ich ein überflüssiger Mensch?

Roman.
Mit einem Nachwort von Bettina Fraisl.

Literaturverlag Droschl, Graz/Wien 2001
Geb., 168 Seiten

DM 36,-
öS 248,-
sFr 32,-.
EUR 18,40

Mela Hartwig: Bin ich ein überflüssiger Mensch?.

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Tristesse banale


Die Protagonistin von Mela Hartwigs neu erschienenem Roman ist Sekretärin, Single, 30 Jahre alt, hat nichts als Ärger mit sich und den Männern, „und kann mir, glaube ich, das Geständnis ersparen, daß ich schön sein möchte. Das ist selbstverständlich.“ Wer glaubt, hier eine neue Gaby Hauptmann oder Helen Fielding zu finden, sei indessen gewarnt. Trotz einiger unlektorierter stilistischer Unbeholfenheiten, die sich aus der Entstehungsgeschichte des Buches erklären, wird hier nicht von Schokolade zum Frühstück, sondern mit dem Rasiermesser erzählt: Das Buch liest sich etwa so, als hätte Franz Kafka Die Klavierspielerin, Elfriede Jelineks großen Roman einer masochistischen Obsession, vorweggenommen, und heißt Bin ich ein überflüssiger Mensch?.

Vor dem Zeithorizont von Büchern wie Ich finde mich so toll - warum bin ich noch Single? oder Tristesse royale ist allein die Publikation eines Buches mit einem solchen Titel ein Akt von literarischem Terrorismus, für dem man dem Literaturverlag Droschl nicht genug danken kann.

Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass der jetzt erstveröffentlichte Roman bereits um 1930 geschrieben wurde. (Der vorauseilenden Selbstzensur des Paul-Zsolnay-Verlages schien er bereits damals politisch nicht mehr opportun. Mela Hartwig selbst, 1893 in Wien geboren, starb 1967 im Londoner Exil.) Nur so erklärt sich wohl die stahlgraue Wucht, mit der er in den bunten Kontext der Gegenwartsliteratur einbricht. Denn das Frappierende an dem Buch ist eben, dass es sich nicht historisch liest. Zwar spielen der erste Weltkrieg, die Inflation und die Wirtschaftskrise eine Rolle, zwar stehen Theater und Bücher als Leitmodelle für fiktive Erlebnisse, die heute eher Fernsehen und Livechats vermitteln, zwar wird Sexuelles in verschleiernden Sprachformeln thematisiert, aber gerade deshalb erstaunt es, wie wenig sich der Alltag zwischen ungesicherten Beschäftigungsverhältnissen, ritualisiertem „Ausgehzwang“ (Tocotronic) und dem „Ehrgeiz [ …], intensiver zu fühlen, als ich zu fühlen fähig bin“, in der abstrakten Art, wie er bei Hartwig erscheint, von den Koordinaten heutiger Lebenswelten zu unterscheiden scheint.

„Ich mache mir über vieles Gedanken und am meisten über mich selbst, aber eben immer nur Gedanken. Ich träume, könnte man sagen, mit meinem Gehirn und nicht mit meinem Herzen“, schreibt Luise, und diese Unfähigkeit zur Hingabe an ein großes, verzehrendes, authentisches Gefühl wirft sie sich vor: Luise kann sich nicht verlieben. Als es ihr doch passiert, ist das Objekt ein Mann, dessentwegen sich ihre Freundin Elisabeth, an der sie vor allem die schauspielerische Verwandlung in andere Personen fasziniert, das Leben genommen hat: „In diesem Augenblick wußte ich, daß ich ihn liebte. / Ich wußte es, aber ich glaubte es nicht und wollte es nicht glauben.“

Worum es in Luises Geschichte geht, ist die Leere am Grunde der Fiktion, die Unmöglichkeit, die in Literatur und Theater, in Medienerlebnissen simulierten Intensitäten im eigenen Alltag einzuholen, einem Alltag, der letztlich von den banalen Zwängen des Geldverdienens dominiert wird: „vielleicht fürchtete ich mich nur davor, nüchtern zu werden und zu erkennen, daß unbeständiges Geld auch keine Beständigkeit des Herzens aufkommen läßt“.

Dass uns Heutigen der Körper als verlässlicherer Garant intensiven Erlebens gilt als etwas so Prä-Mediales wie „Beständigkeit des Herzens“, ist klar. Man lasse sich aber von dieser stilistischen Entgleisung nicht täuschen: Das eigentliche Skandalon des Buches ist eben gerade, dass es 65 Jahre vor Michel Houellebecqs Ausweitung der Kampfzone (und 40 Jahre vor 1968, wenn man so will) das Glücksversprechen des sexuellen Körpers eskamotiert: „das Geheimnis zu erforschen, das mein Körper seit einiger Zeit vor mir hatte“, heißt in Luises Fall: Fiktionskonsum und Masturbationspraxis gehen Hand in Hand - „ich denke immer nur an mich, gab ich zu. Mein Leben hätte vielleicht so etwas wie ein Ziel, wenn ich mich nur in irgendeine Gemeinschaft hineinschmelzen, mich darbringen und aufopfern könnte. Aber eben davor hatte ich noch mehr Angst als vor dem Leben selbst [ …], auf das bißchen Ich, das ich besaß, konnte ich einfach nicht verzichten.“

Das ist, in äußerst komprimierter Form, die Bestimmung eines Gemütszustandes, den man bei vielen Protagonisten des Gegenwarts-„Pop“ antreffen kann. Eine Freundin von mir äußerte kürzlich die Hoffnung, die exzessive, ritualisierte Verwendung kalkulierter Wiedererkennungseffekte in dieser Art von Texten (Wir, die wir alle in den 80ern mit dem Golf aufgewachsen sind; wir, die wir alle auf Madonna-Konzerte gehen wollen; etc.), könne vielleicht in der Lage sein, beim Publikum eine allergische Reaktion hervorzurufen - nach dem Motto: Wir sind zwei von Millionen - aber wir wollen uns darin nicht mehr so restlos wiedererkennen, also müssen wir (politisch) etwas tun, um uns von diesem Generationsbild abzusetzen, denn sonst wäre man ja womöglich tatsächlich ein überflüssiger Mensch.

Nun, wenn nicht der Überdruss an jenen Gegenwarts-Texten diese Reaktion hervorruft, dann vielleicht die ernüchternde Erkenntnis, dass mit die brisantesten Thesen dieser Gegenwart schon 70 Jahre alt sind: Die Kampfzone wurde offenbar in mehr als einer Hinsicht schon 1930 eröffnet. Deshalb ist Mela Hartwigs Buch nicht weniger als eine massenhafte Verbreitung zu wünschen.