Geschichte und Entwicklung des Barockbegriffs
Mit einem Plädoyer für einen neuen Modernebegriff
Vorwort
Ein „Babel conceptual“1
nennt Walter Moser die vielfältigen Versuche, einen allgemeingültigen Barockbegriff zu entwickeln. Diese Arbeit stellt in den ersten beiden Kapiteln die wichtigsten, in der ersten Jahrhunderthälfte entstandenen Ansätze eines solchen Unternehmens in der deutschen germanistischen und hispanistischen Barockforschung vor. Das dritte Kapitel setzt sich mit der Frage auseinander, ob und inwieweit man von einer spanischen Renaissance sprechen kann, da dieses Problem in starkem Maße die verschiedenen Barockkonzepte, für die zumeist paradigmatisch die spanische Literatur des 17. Jhd.s stand, beeinflusst hat.
Im vierten Kapitel werden drei Aufsätze aus den letzten 15 Jahren diskutiert. Sie machen deutlich, dass es einen allgemeingültigen Barockbegriff nicht geben kann, da die Literatur jener Epoche durch unterschiedlichste und im einzelnen auch gegenläufige Diskurse geprägt ist. Diese Heterogenität in einem offenen, d. h. wandlungsfähigen Epochenkonzept zu fassen und in der Forschung gewinnbringend einzusetzen ist das Ziel dieser Arbeiten, dem sich auch das fünfte Kapitel, mit dem Vorschlag, den Barockbegriff auch für die Moderne-Theorie nutzbar zu machen, anschließt (die Überschrift wandelt den Titel eines Buches von Wolfgang Welsch ab: „Unsere postmoderne Moderne“). Im Rahmen dieser Arbeit kann das selbstverständlich nur in Andeutungen geschehen und soll lediglich als Ausblick verstanden werden. Ein Satz Roland Barthes' über unser Verhältnis zur Sprache beschreibt vielleicht den Weg und momentanen Endpunkt, auf dem sich bisherige Suche nach einem Barockbegriff befindet: „Der alte biblische Mythos kehrt sich um, die Verwirrung der Sprachen ist keine Strafe mehr, das Subjekt gelangt zur Wollust durch die Kohabitation der Sprachen, die nebeneinander arbeiten: der Text der Lust, das ist das glückliche Babel“2
.
1. Zur Entstehung des Barockbegriffs
Eine Zusammenfassung der Geschichte des Barockbegriffs in der Literaturwissenschaft liefert René Wellek in seinem 1945 erschienenen und durch ein Postscriptum 1962 erweiterten Aufsatz „The Baroque in Literary Scholarship“. Zusammen mit einigen anderen Hinweisen auf den frühen Gebrauch des Begriffs, findet man in diesem Text den auf Nietzsche, der ihn 1878 in „Menschliches, Allzumenschliches“ verwendet und den auf Menéndez y Pelayo (in „Historia de las ideas estéticas en España“, 1886). Nicht zufällig wird die Barockforschung in den kommenden Dekaden vor allem von deutschen Wissenschaftlern betrieben werden und die spanische Literatur des 17. Jahrhunderts ihr neben der deutschen als exemplarischer Forschungsgegenstand dienen.
Doch zur weiten Verbreitung des Barockbegriffs als Epochenbezeichnung führen anfangs zwei Arbeiten des Schweizer Kunsthistorikers Heinrich Wölfflin, der ihn erstmals 1888 (in „Renaissance und Barock“) als neutralen kunsthistorischen Begriff verwendet. Vor Wölfflin und auch noch bei Benedetto Croce ist das Wort Barock negativ konnotiert. Zuerst im Portugiesischen als Bezeichnung für eine schiefrunde Perle gebräuchlich, wird franz. baroque im 17. Jhd. vor allem in Frankreich zu einem Synonym für bizarr. Mit der Ausbreitung des Begriffs in anderen Ländern, erweitert sich auch das Feld der ihn umschreibenden Adjektive, so etwa absurd, grotesk, sonderbar, schwülstig, exzentrisch, chaotisch, kompliziert, ungeordnet, von schlechtem Geschmack.
In dieser recht wahllosen Aneinanderreihung, die sich in jedem Lexikon anders darstellt, deutet sich bereits die Vielschichtigkeit des Barockbegriffs an, und damit die Problematik, mit der sich in späteren Jahren alle Barockforscher konfrontiert sehen: Einem bereits existierenden Wort mit einem breitgefächerten Konnotationsfeld soll ein neues Signifikat (d. h. als Bezeichnung einer Epoche, bzw. eines Stils) und eine exakte Definition zugeordnet werden.
Dieser Aufgabe stellt sich Wölfflin 1915 in seiner Arbeit “Kunstgeschichtliche Grundbegriffe“, indem er Barock als phaseologischen Stilbegriff auffasst, und eine Liste von Gegensatzpaaren aufstellt, die eine Definition des Begriffs anhand einer Unterscheidung Klassik-Barock versucht. Wölfflins Ansicht nach findet in der abendländischen Kunstgeschichte ein steter Wechsel von barockem und klassischem Stil statt. Für Wölfflin stehen für den barocken Stil fünf Grundbegriffe - malerisch, Tiefe, atektonisch, einheitliche Einheit, Unklarheit - weiteren fünf Grundbegriffen, die den klassischen Stil charakterisieren, gegenüber - plastisch, Fläche, tektonisch, vielheitliche Einheit, Klarheit.
Diese Dichotomie von Klassik und Barock wirkt, was ihre Charakterisierung betrifft, relativ beliebig und einer genauen Definition dessen, was Barock sei, nicht viel dienlicher, als etwa die weiter oben erfolgte Reihung von Adjektiven. Doch wird bei Wölfflin Barock erstmals differenziert als Stilbegriff aufgefasst.
Wenn derartige binäre Oppositionen zuweilen auch die Gehalte berühren, bzw. sie sich nicht ausschließlich auf der Ebene der Rhetorik befinden, so deswegen, weil der Barockbegriff bei Wöllflin ein kunstgeschichtlicher und kein speziell literaturwissenschaftlicher ist.
Die von Fritz Strich in der Nachfolge Wöllflins aufgestellte, jedoch nun allein auf die Literatur bezogene Reihung naiv - sentimentalisch, dionysisch - apollinisch, Abstraktion - Einfühlung, Vollendung - Unendlichkeit (in „Der lyrische Stil des 17. Jahrhunderts“, 1916) hingegen berührt vornehmlich inhaltliche Aspekte. Das Wort,inhaltlich' scheint mir hier und im folgenden unzureichend zu sein, da es nicht vermag die Bewegung des Textes bestimmende, sich in den Zeiten beständig wandelnde Art des Denkens zu umgreifen. Insofern wäre es nützlich, an den Stellen, wo es um die Frage nach Inhalt oder Gehalt eines Textes geht, immer das Wort,ideologisch' als Opposition zu,stilistisch' oder,rhetorisch' mitzudenken.
Ernst Robert Curtius wird sich der Frage nach dem Verhältnis von Stil- und Epochenbegriff 1948 weitaus differenzierter nähern, es bleibt hier aber, vor allem in Hinblick auf die spätere Diskussion, die Frage festzuhalten, inwieweit ein Epochenvergleich sinnvoll und für die Erhellung einer einzigen Epoche nützlich ist, ob es sich nun um das Verhältnis Barock-Klassik oder Barock-Postmoderne handelt.
Dass der neuentwickelte Begriff in den 20er Jahren vor allem im deutschsprachigen Raum auf eine sehr breite Resonanz stößt, hängt damit zusammen, dass, was eine epochale Charakterisierung des 17. Jhd.s anging, bis dahin, wie Wellek bemerkt3
, ein Vakuum in der Begriffsbildung herrschte und mit „der Tatsache, daß zugleich eine vernachlässigte und deklassierte Epoche der deutschen Literaturgeschichte dem interpretatorischen Verständnis wiedergewonnen schien“4
.
Helmut Hatzfeld gehört neben Leo Spitzer, Hugo Friedrich und Curtius, auf die im nachfolgenden näher eingegangen werden soll, zu den wichtigsten Vertretern der frühen romanistischen Barockforschung. Die Gründe für die schnelle Aufnahme des Begriffs in die Hispanistik sind ähnlich gelagert wie in der Germanistik: „cultismo“, „conceptismo“ oder andere im 17. Jhd. auftretenden Ismen waren zugleich unscharf und zu speziell. Sie ließen sich nicht für eine allgemeinere und über den Stil hinausgehende Epochencharakterisierung verwenden.
Hatzfeld, dessen Forschungen sich über mehrere Dekaden erstrecken, sieht in Spanien das Kernland des Barock und ist bemüht eine exakte Chronologie der Epochenfolgen der Neuzeit aufzustellen. Zugleich aber sieht er einen Durchlauf des Phänomens Barock durch die verschiedenen Nationalliteraturen (Italien - Spanien - Frankreich), was zumindest drei verschiedene Zeiteinteilungen erforderlich macht und einen europäischen Barock mehr als anderthalb Jahrhunderte andauern lassen würde. Nicht nur mutet dieser Zeitraum übertrieben weit gefasst an, auch ist eine solch genaue Grenzziehung, wie sie Hatzfeld vorschwebt, unrealistisch. Die in späteren Jahren aufgekommene Diskussion um Epochenschwellen macht deutlich, dass Epochenwechsel sich nicht von einem Jahr auf das andere vollziehen, sondern dass eine Übergangsbewegung stattfindet, die sich in einem zeitlichen Rahmen nur unscharf lokalisieren lässt (insofern sind Epochenmodelle vielleicht vergleichbar mit den Isoglossenbündeln der Sprachgeographie).
2. Entwicklungen des Barockbegriffs
„Schon in der Spätperiode Rafaels findet die Kunstgeschichte Keime dessen, was sie Manierismus nennt und als Entartungsform deutet. Eine künstliche,Manier', die sich in verschiedenen Formen äußern kann, überwuchert die klassische Norm“5
. Der so gebrauchte kunstgeschichtliche Terminus Manierismus erscheint Ernst Robert Curtius geeignet ebenso in der Literaturgeschichte Verwendung zu finden und dort eine terminologische Lücke zu füllen. Das Wort scheint ihm geeignet, “da es nur ein Minimum an geschichtlichen Assoziationen enthält“ und, aller kunstgeschichtlichen Gehalte entleert, „den Generalnenner für alle literarischen Tendenzen bezeichnet, die der Klassik entgegengesetzt sind“6
.
In einer Klassik werde das, was zu sagen ist, in einer dem Gegenstand angemessenen Form gesagt, und der jeweils geltenden Norm nach mit Redeschmuck versehen. In manieristischen Epochen hingegen werde der ornatus „wahl- und sinnlos gehäuft“7
.
Deutlich wird an dieser Stelle, dass Curtius Epochentrennungen zuerst auf der rhetorischen Ebene vornimmt. Als Beispiele für die gesteigerte Bedeutung der Rhetorik in manieristischen Epochen untersucht er das Hyperbaton, die Periphrase, die Annominatio und die manierierte Metaphorik; außerdem setzt er sich mit formalen Manierismen, sogenannten systematischen Künsteleien, auseinander, wie etwa dem Figurengedicht. Es stellt sich jedoch die Frage, wie schnell die Häufung des ornatus zur Norm wird, d. h. wie schnell die Modernes Anciens werden, und damit zur neuen Klassik.
Außerdem entgeht auch Curtius nicht der Versuchung, wie er es zuvor noch der Kunstgeschichte ankreidet, eine solche Entwicklung zu werten. In der pejorativen Formulierung von der wahl- und sinnlosen Häufung des ornatus liegt die Gefahr, rhetorische Mittel nur als solche aufzufassen, und nicht zu beachten, dass sich womöglich in der rhetorischen Entwicklung auch eine ideologische abbildet.
Trotzdem findet auch dieser Aspekt barocken Dichtens bei Curtius Beachtung: „Der Manierismus kann bei der sprachlichen Form oder dem gedanklichen Gehalt ansetzen. In seinen Blütezeiten verknüpft er beides.“8
Wenn hier die Rede ist vom gedanklichen Gehalt, so ist damit die Pointe, bzw. der „Pointenstil“9
gemeint, mit dem sich Curtius, wenn auch vornehmlich aus rhetorischer Sicht, im letzten Paragraphen des Manierismus-Kapitels auseinandersetzt, ausgehend von Baltasar Graciáns Theorie der conceptos, auf die weiter unten noch näher eingegangen wird.
Leo Spitzer geht 1943 einen ganz anderen Weg, um zu einer Erklärung dessen zu gelangen, was Barock sei. Er hat keinen rhetorischen Ansatz, wie Curtius, und „die malerischen und architektonischen Kategorien Wölfflins, diese abstrakte Grammatik einer Kunst“10
lehnt er ab. Für ihn ist das 17. Jhd. das „katholische Jahrhundert“11
, und daher erkläre sich eben der Erfolg der Wölfflinschen Terminologie nach dem ersten Weltkrieg, da eben in jener Zeit die zuvor „so verachteten religiösen Werte ihre herausragende Bedeutung wieder[gewannen]“ und die Literatur des zweiten siglo de oro „innigere Aufnahme“ fand.
Für Spitzer ist das „eigentliche, konkrete und menschliche Problem des spanischen Barock [ …] die bewußte Verbindung des Sinnlichen mit dem Ewigen“. Dieses Problem finde Ausdruck im desengaño: „der Traum als Gegensatz zum Leben, die Maske im Gegensatz zur Wahrheit, die zeitliche Größe im Gegensatz zur Vergänglichkeit“. Wie man sieht, entwickelt Spitzer seinen Barockbegriff aus Spannungsverhältnissen innerhalb der Epoche, und nicht aus der Opposition des Barock zu einer anderen Epoche, wie es vor ihm Wölfflin und dessen Nachfolger getan haben, und es Curtius 1948 versuchen wird. Wenn Spitzer schreibt, dass „der,Conceptismo' und der,Culteranismo' vom stilistischen her letztlich mittelalterliche Geisteshaltungen sind“12
, so wird deutlich, dass auch für ihn die barocke écriture, also das, was Curtius unter Manierismus zusammenfassen wird, ein wiederkehrendes Phänomen der abendländischen Literaturgeschichte, jedoch von untergeordneter Bedeutung für die Bestimmung eines Epochenbegriffs ist. Spitzer selbst räumt in einer nachträglich ans Ende des Aufsatzes gesetzten Fußnote ein, dass sein Vortrag an einer Vermengung von religiösem und ästhetischem Bekenntnis leide13
. Und sicherlich scheint Curtius' rhetorisch begründeter Manierismusbegriff auf den ersten blickt tragfähiger zu sein, als eine Barockdefinition, die spezielle Geisteshaltungen innerhalb eines Stils verortet, doch meint Wellek, dass der „Weg, der am ehesten zu unserem Ziel einer genauer zutreffenden Bestimmung des Barock führt, in Richtung auf Untersuchungen [geht], in denen stilistische und weltanschauliche Kriterien wechselseitig aufeinander bezogen werden“14
.
Hugo Friedrichs vielzitiertes Wort von der „Hypertrophie der Kunstmittel und [ …] der Atrophie der Gehalte“15
soll an dieser Stelle als Anlass genommen werden, das Verhältnis von Ausgesagtem und der sprachlichen Form der Aussage in der barocken Literatur zu beleuchten. Für Friedrich stellt sich barockes Dichten als eine Sonderform manieristischen Dichtens dar16
. Die Überfunktion des Stils führt, laut Friedrich, dazu, dass der Gehalt an Bedeutung verliert: „Barocke Schönheit ist Pracht. [ …] Sie öffnet keine Transzendenz, obwohl sie so hyperbolisch ist.“17
Diese Formulierung lässt die Möglichkeit offen, dass Transzendenz18
auch bei hyperbolischer Gestaltung von Schönheit erfahrbar sei. Warum dies seiner Meinung nach in der barocken Dichtung nicht der Fall ist, lässt Friedrich offen.
Am deutlichsten ist der Unterschied zwischen Barock- und Renaissancedichtung für ihn in der Liebeslyrik erkennbar: „Der Liebende, notwendigerweise das Subjekt der barocken Lyrik, blickt nicht in sich hinein; er blickt hinaus, und was der Autor ihn betrachten lässt, sind Haare, Hände, Juwelen, halbentblößte Glieder: Spielzeuge für den bravourösen Sprachmeister.“19
Haare, Hände, Juwelen, halbentblößte Glieder. Betrachtet man z. B. das berühmte Mientras por competir con tu cabello-Sonett von Luis de Góngora, so ist die dingliche Ausstattung des Themas ganz ähnlich, wie in der von Friedrich angeführten Beispielsreihe. Auch ist der Blick des lyrischen Ich ausschließlich auf das Du gerichtet, zudem kann man im angewendeten Summationsschema, das die einzelnen Topoi schließlich zusammenfasst, ein typisch manieristisches Stilmittel sehen. Doch am Ende des Sonetts sieht der Leser nicht den bravourösen Sprachmeister, sondern ist nach der Prachtentfaltung und dem Anklingen des Carpe Diem-Motivs, dem Erscheinen des Vergänglichkeitstopos gegenüber weit empfänglicher, als wenn die Kunstmittel in beschränkterem Maße aufgetreten wären. Es,öffnet sich ihm eine Transzendenz'. Eine Transzendenz (eine Erkenntnis-, Erfahrungsweise), die die Literatur der Renaissance womöglich nicht mehr herbeizuführen imstande war und die sich so einen neuen Ausdruck suchte. Wie die Literatur, so wandeln sich die Rezeptionsgewohnheiten. Die Beeinflussung findet sicherlich wechselseitig statt.
Wie die bis hierhin betrachteten Untersuchungen zeigen, lässt sich dieser Wandel jedoch nur schwer außerhalb der rhetorischen Ebene festmachen.
3. Renaissance
„Was immer die Geschichtsschreibung und ihre Theorie sonst noch erfordern mögen: als mindestes sind zwei Abgrenzungsereignisse, also drei Epochen für eine Gesamtdarstellung der Geschichte als Prozeß unerlässlich“20
. Dieser Feststellung Niklas Luhmanns entsprechen in der Barockforschung die Versuche den Barock als Stilbegriff von einer Klassik oder den Barock als epochalen Begriff von der Renaissance abzugrenzen. Da sich nach der einen Meinung barocke und klassische Perioden immer miteinander abwechseln, sind automatisch zwei Abgrenzungsereignisse gegeben. Die Abgrenzungsversuche des Barock zur Renaissance beschäftigen sich jedoch vornehmlich mit dieser einen Schwelle, die Frage nach einer Grenze zu dem, was im 18. Jhd. folgt, wird so gut wie nicht gestellt. Dieser Umstand liegt womöglich darin begründet, dass, wie Wolfgang Matzat bemerkt, „die Epochenkonzepte der Renaissance und des Barock in der Rangordnung der unsicheren Kandidaten sicherlich eine Spitzenstellung ein[nehmen]“, dass also diese Epochengrenze eben deswegen problematisiert wird, weil auch für die Renaissance noch kein allgemein anerkanntes Konzept vorliegt. Für die Hispanistik gilt dies in besonderem Maße21
.
Die häufig aufgestellte These von der barocken Kunst als Kunst der Gegenreformation oder des höfischen Absolutismus, wird von Curtius verworfen: „Spanien brauchte keine Gegenreformation, weil es keine Reformation gehabt hatte - so wenig wie einen Renaissancepaganismus. Es blieb so gut wie unberührt von der Tyrannei des Aristotelismus“22
. Curtius entgeht der Problematik einer Abgrenzung der Renaissance vom Barock, indem er behauptet, dass es einen solchen Gegensatz in Spanien nie gegeben habe: „Weder Humanismus noch Renaissance, weder Antike noch Mittelalter bedeuten Einschnitte der literarischen Totaltradition der letzten Habsburger. Spanien hat sein eigenes Zeitgefühl, wie es ein eigenes Nationalbewußtsein hat“23
. Ist Spanien also ein Sonderfall? „Italien hat kein Mittelalter im Sinne der nordischen Nationen gehabt, Frankreich hat um 1550 mit seinem Mittelalter gebrochen. Spanien hat das seinige bewahrt und der nationalen Tradition einverleibt. Die Wellen von Italianismus, die im 15. und 16. Jahrhundert nach Spanien hinüberfluten, haben formale Anregungen gebracht, aber die spanische Substanz nie berührt“24
. Somit wären auch Frankreich und Italien Sonderfälle, vom Heiligen römischen Reich deutscher Nation ganz abgesehen, in dem sich zur Zeit des dreißigjährigen Krieges ein eigenes Nationalbewusstsein zu entwickeln beginnt, und wo von einer Kunst der Gegenreformation bei vornehmlich lutherischen Poeten kaum die Rede sein kann25
. Ein Normalfall wäre also kaum irgendwo auszumachen.
Worin die spanische Substanz nun auch bestehen mag, der immer wieder erfolgte Verweis auf Spaniens maurische Vergangenheit ist sicherlich nicht unwesentlich, wenn dabei auch häufig übersehen wird, dass die Reconquista ein Vierteljahrtausend vor dem Fall Granadas so gut wie abgeschlossen, die Vergangenheit Spaniens also bereits zur Zeit Karls V. zuerst eine spanische war.
Wichtiger erscheint mir an Curtius' Äußerungen in diesem Zusammenhang die Erwähnung eines Italianismus und des Aristotelismus. Die Prägung der rinascimentalen Literatur in Ländern wie Frankreich und Italien durch die Poetik des Aristoteles ist unbestritten. Besonders deutlich spürbar wird der Einfluss in den zeitgenössischen Poetiken. Ein umfangreicher Sammelband von romanischen Poetiken aus dem 16. und 17. Jhd.26
liefert für Italien, neben humanistischen und platonischen, sieben Poetiken, die in aristotelischer Tradition stehen, für Frankreich werden derer gar acht in Auszügen dargeboten. In Spanien sind es jedoch lediglich drei, die auch erst sehr spät erschienen sind, und zu ihrer Zeit kaum Beachtung fanden.
Um so größer ist dann die Beachtung, die Graciáns bereits erwähntem Traktat „Agudeza y Arte de ingenio“ widerfährt. Das 1642 zum erstenmal und sechs Jahre später in seiner endgültigen Fassung erschienene Werk stellt in seiner radikalen Neuheit ingenium und inventio über juicio und imitatio und rät dem Dichter „exprimir cultamente sus conceptos“27
, wodurch der Literatenstreit zwischen,Konzeptisten' und,Kultisten' zu Beginn des 17. Jhd.s mit einem Schlag gelöst zu sein scheint. Doch fundiert Gracián theoretisch lediglich das, was bereits seit Jahrzehnten praktiziert wird. Auch Quevedo und Lope de Vega bedienen sich in ihrem konzeptistischen Stil einer mitunter kultistischen Ausdrucksweise, und umgekehrt ist Góngora ein Meister der agudeza, des konzeptistischen Pointenspiels.
Die Liebeslyrik der drei genannten Dichter ist, bei aller Eigenheit, jedoch undenkbar ohne die Vorarbeit etwa eines Garcilaso de la Vega in der ersten Hälfte des 16. Jhd.s. Und dessen Schaffen wiederum unterliegt nun dem, was Curtius Italianismus nennt: Einer in der italienischen Renaissance entwickelten Formen- und Bildersprache. Inwieweit diese aber genuin rinascimental ist, bleibt umstritten.
So wird z. B. Cervantes' Werk von Werner Krauss aus dem Geist des Humanismus und der erasmatischen Philosophie heraus interpretiert und Aristoteles „Poetik“ als die dafür einflussreichste Literaturtheorie betrachtet28
, Hatzfeld hingegen ordnet es als paradigmatisch für das Barockzeitalter ein.
An dieser Stelle stellt sich der Epochenfrage eine weitere Schwierigkeit in den Weg. Der Versuch, die literarischen Produkte der Zeit einer zusammenfassenden Charakterisierung zu unterziehen, sieht sich mit dem Problem konfrontiert, dass es nicht möglich ist, von einer Literatur zu sprechen, d. h. dass sich etwa Drama und Lyrik wesenhaft unterscheiden. Ihre Entwicklung vollzieht sich in unterschiedlicher Geschwindigkeit, von der viel jüngeren Gattung Roman ganz zu schweigen.
Der Personalstil wirft ein noch größeres Problem auf. So ist Lope de Vega kein einfaches Bindeglied in einem historischen Prozess, der z. B. von „La Celestina“ bis zum Werk Calderóns sich vollzieht. Die Vorstellung des Dichters als Glied in einer Kette ist eine Abstraktion und lässt sich nur aus einer zeitlichen Distanz konstruieren. Die Literatur gibt es nicht; Lope schreibt sowenig wie Quevedo die Literatur des 16. Jhd.s fort, er schafft vielmehr ein Werk, das zuvorderst Ausdruck seiner Persönlichkeit und seiner Zeit ist und sich seine eigene Tradition erst schafft.
Epochenkonzepte sind Modelle und eine klare Feststellung, ob es eine spanische Renaissance gab, lässt sich tatsächlich erst dann treffen, wenn ein umfassendes Renaissancekonzept vorliegt. Bis dahin sollte man vielleicht für Spanien von einer sanften oder „dem milden Glanz einer Renaissance“29
sprechen und einen Barockbegriff nicht allein aus einer Opposition Renaissance-Barock entwickeln.
4. Neuere Versuche zum Barockbegriff
Ein Grund, warum die Frage nach einer spanischen Renaissance im vorigen Kapitel so ausführlich behandelt wurde, ist ein neueres Epochenkonzept, für dessen Schlüssigkeit die Annahme einer spanischen Renaissance elementare Voraussetzung ist.
Joachim Küppers These von einer Diskurs-Renovatio geht davon aus, das „der Barock zugleich Wiederaufnahme (des Mittelalterlichen) und Bewältigungsversuch (des Rinascimentalen)“30
ist. Worin dieses Rinascimentale besteht findet in seiner Arbeit jedoch nur ungenauen Ausdruck. Die Behauptung, dass es in Spanien eine Renaissance gegeben habe, stützt sich zudem nicht auf eine schlüssige Begründung, sondern auf die bloße Behauptung des „Sachkenner[s]“ A. Hillach, für den „[d]ie Meinung, es habe in Spanien keine Renaissance gegeben [ …] als abgetan gelten kann“31
.
Die Renovatio, von der Küpper spricht, gründet für ihn auf einer Entgrenzung der episteme im 16. Jhd, die er als Verfallsstufe bezeichnet, und die dazu führt, dass im Zeitalter des Barock der mittelalterliche Diskurs neu aufgegriffen wird, wodurch die episteme der Renaissance wieder zusammengeführt und konserviert werden kann. Kritisch erscheint mir an dieser zentralen Stelle der Bezug auf Michel Foucault.
Für Foucault löst sich die Anordnung der Zeichen nach 1600 auf. Waren Signifikat und Signifikant bis dahin noch durch die sogenannte Konjunktur verbunden, ändert sich dies im 17. Jhd. Die Anordnung ist nun binär, die Ähnlichkeit zwischen les mots et les choses, die vorher wahrgenommen wurde, die Signatur, die den Dingen auferlegt war, hört auf zu existieren32
. Für den Bereich der Zeichen führt dies im 17. Jhd. eher zu einer Entgrenzung, als zu einer Begrenzung gegenüber den vorhergehenden Jahrhunderten, die Wörter werden von den Dingen entkoppelt und das Zeichen wird arbiträr, wodurch eine völlig neue Taxinomia möglich wird, die grundsätzlich wesensverschieden von den Ordnungsstrukturen des Mittelalters und der Renaissance ist. Wenn das der Fall ist, dann ist es zumindest bedenklich, wie Küpper, von einem mehr oder weniger homogenen Diskursbegriff und einer Re-novatio auszugehen.
Geeigneter für eine Barockdiskussion auf diskurstheoretischer Ebene scheint mir der Vorschlag Wolfgang Matzats33
zu sein, der die Problematik unter der Dichotomie „Desorganisation vs. Reorganisation“ zusammenfasst. Matzat sieht Küppers These „einer epistemologisch fundierten Erneuerung der Diskursordnung [ …] auf der Basis mittelalterlicher Sinnstiftungsverfahren“ vor dem Hintergrund der Reorganisation einer in der Renaissance entstandenen kulturellen Pluralität vertreten. Die Auffassung der Barockepoche als Zeitalter der Gegenreformation und des Absolutismus, die Tendenz zur geschlossenen Form im Roman, sowie die handlungsstrukturelle und semantische Systematisierung im Drama werden von Matzat als Beispiele einer solchen Reorganisation angeführt. Der Komponente Reorganisation als Merkmal des Barock fügt Matzat erweiternd (und einen Großteil der gesamten Barockforschung von Wölfflin über Friedrich bis Schulz-Buschhaus zusammenfassend) die Dimension der Desorganisation hinzu. Dieser Desorganisation, „oppositiv auf ein harmonistisches Bild der Renaissance bezogen“ (zu dem man auch die ternäre Ordnung der Zeichen rechnen kann), entspricht eine „Ästhetik der diversité“, die sich z. B. in der Tendenz zur Gattungsmischung und dem „Konzept eines pessimistischen Menschenbildes, in dem nicht mehr die Würde, sondern das Elend des Menschen im Vordergrund steht“ äußert.
Diese an sich völlig gegensätzlichen Merkmale Des- und Reorganisation verlören, würde man sich darauf beschränken sie einfach unter dem Merkmal Heterogenität zusammenzufassen, ihre wissenschaftliche Brauchbarkeit. Womöglich ist das im letzten Jahrhundert beständige und immer wieder gestiegene (wissenschaftliche) Interesse an der Literatur des Barock damit zu erklären, dass es, sowenig wie mit der zeitgenössischen Literatur, nicht gelungen ist ein konsistentes Bild von ihr zu erhalten.
Matzat jedoch nutzt die Dichotomie von Des- und Reorganisation, um auf ihrer Basis eine Untersuchung des „Guzmán de Alfarache“ vorzunehmen und gewinnt aus dem Konflikt „zwischen Ordnungsverlust und erneuerten Ordnungsstrukturen“ neue Aspekte einer barocken Subjektkonstitution ab, die an dieser Stelle leider nicht weiter ausgeführt werden können.
Ulrich Schulz-Buschhaus bringt in seinem Ansatz, einen Barockbegriff zu bestimmen, noch einmal die nach aristotelischen und anti-aristotelischen Poetiken ins Spiel. Vom Vorschlag Wilfried Floecks ausgehend, „die barocke Ästhetik als eine programmatische Verwirklichung der Vielheitsideale von,diversité' und,variété' zu identifizieren“34
, betrachtet er „die literarische Renaissance nicht als eine Epoche, die von harmonischer Einheit und Schönheit bestimmt wäre, sondern als eine Epoche, die in erster Linie nach einer neuen Ordnung strebt, einer Systematisierung und Hierarchisierung der Schreibweisen, welche sich auf die aus der Antike übernommene Idee einer bewußten Trennung der Gattungen gründet“35
. Im europäischen Klassizismus sieht er diese Idee vertieft, im Barock aber bemerkt er die entgegengesetzte Bewegung hin zur Mischung von Gattungen.
Schulz-Buschhaus erstellt eine Typologie der Gattungsmischung, die sich in drei Arten teilt. Die Gründe für eine Mischung der Gattungen sind danach im Barock: Erstens, Indifferenz gegenüber dem Dekorum und ein gesteigertes Bemühen um Historizität; Zweitens, bewusstes Experimentieren mit verschieden Gattungen; Drittens, Überlagerung der traditionellen Distinktionen durch ein bestimmtes stilistisches Prinzip.
Letztere Variante hält Schulz-Buschhaus für „im höchsten Maße spezifisch für die Epoche“36
, da er darin bereits Ansätze zu einer völligen Auflösung der humanistischen Gattungshierarchie sieht.
Zwei Probleme ergeben sich bei dieser Einschätzung. Erstens kann man von einem wirklichen stilistischen Prinzip erst seit Graciáns „Agudeza y Arte de ingenio“ sprechen (von Schulz-Buschhaus im folgenden auch „halb-offizielle Doktrin“ genannt), das, wie gesagt, erst nach Quevedos, Góngoras und Lopes Tod erschien und somit dem Einfluss der neben Calderón wichtigsten Dichter unterlag, anstatt selber Einfluss auszuüben. Vielmehr scheint das Traktat das bisher Erreichte zu bündeln. Sicherlich kann man Graciáns Text als Antwort auf den Aristotelismus, d. h. die immense Wirkung, die die Poetik des Aristoteles auf die Literatur der Renaissance ausübte, auffassen, doch entwickeln beide Texte in Spanien keine normative Wirkung. Normativ zu wirken beginnt im spanischen Theater des siglo de oro hingegen der Publikumsgeschmack, was bereits der berühmte Ausspruch Lopes andeutet, er wäre gerne Aristoteliker, wenn das Publikum ihn denn lassen würde.
Mögen auch die von Schulz-Buschhaus genannten Gründe für eine Mischung der Gattungen noch einiger Modifikationen bedürfen, so sind seine Beobachtungen dennoch überzeugend. Auch kann es nicht überraschend sein, dass bei der Vielfalt der dramatischen Gattungen im siglo de oro37
die Distinktionen zunehmend unschärfer wurden (und so einen ordnenden Klassizismus herausforderten).
5. Unsere barocke Moderne
„Es gibt keine Epochen. Epochen sind Anschauungsformen des geschichtlichen Sinns, die die geschichtliche Zeit zu Figuren der gedeuteten Geschichte ordnen.“38
Die Epoche des Barock ist eine der wenigen Epochen, deren Benennung erst nachträglich erfolgte. Sicherlich ist dies genauso gerechtfertigt, als wenn eine Bezeichnung im entsprechenden Zeitraum erfolgt, wie es etwa zur Zeit der Aufklärung der Fall war. Dass es im Barock zu keiner Namengebung durch die Zeitgenossen kam, kann aufgrund der vielen widerstreitenden Faktoren, die diese Epoche charakterisieren nicht überraschend sein. Erst nachträglich wurde die geschichtliche Zeit zu einer Figur der gedeuteten Geschichte, zu einer in hohem Maße artistischen, von vielen Fremdbildern bestimmten Figur. Dieser Umstand erklärt sich aus einem fehlenden „geschichtlichen Selbstbewußtsein des betreffenden Zeitraums“39
. Es ist nicht möglich von einem barocken Selbstbild zu reden. Das „Konzept eines pessimistischen Menschenbildes“, von dem Matzat spricht, kann nicht programmatisch verstanden werden und lässt sich auch nur mittelbar nachweisen, etwa in der Vanitas-Thematik. Renaissance und Aufklärung hingegen, sind Begriffe von programmatischem Wert, sie charakterisieren zugleich das Denken einer Epoche und die Bewegung, die dieses Denken nimmt. Die Etymologie und Fremdartigkeit des Terminus Barock rief jedoch immer wieder Einspruch hervor; er tauge nicht zur Periodenbenennung, hieß es häufig genug. Eine Alternative aber wurde niemals angeboten. Curtius' Vorschlag „Manierismus“ war gewiss notwendig, um zu einer differenzierteren Betrachtung von Stil und Inhalt zu gelangen. Diese Unterscheidung ist nun nicht mehr nötig, wichtiger erscheint mir heute, diese beiden Kategorien stärker aufeinander zu beziehen und zu fragen, in welchem Zusammenhang sie miteinander stehen und inwieweit sie sich gegenseitig bedingen.
,Barock' scheint sich trotz aller Widerstände als idealer Epochenbegriff erwiesen zu haben, und das vielleicht deswegen, weil er nie eine bestimmte interpretatorische Richtung vorgab, weil es bisher nicht möglich war, mit ihm Position zu beziehen. Heute aber ist klar, dass sich Denken und geschichtliche Bewegung des 17. Jhd.s am besten im Bild der schiefrunden Perle, barrôco, fassen lassen, d.h. in einer unberechenbaren geometrischen Form, die aber dennoch Form ist.
Wellek sieht den Grund für die verstärkte Auseinandersetzung mit der Barockliteratur und den entsprechenden ersten Versuchen der Begriffsbildung in den 20er Jahren darin, dass man „die Nähe der Barockdichtung zur eigenen Zeit, zu der ekstatischen, spannungsgeladenen und zerrissenen Sprache und der durch die Nachwirkungen des Krieges aufbrechenden tragischen Weltanschauung des Expressionismus [spürte]“40
.
Der Grund dafür, dass die Debatte um eine Begriffsbestimmung in den folgenden Dekaden kaum abflaute und in den letzten Jahren noch einmal an Intensität zugenommen hat, liegt ebenfalls in der als verwandtschaftlich empfundenen Beziehung der zeitgenössischen literarischen Entwicklung zur Literatur des Barock. Diese Verwandtschaft wird jedoch als weit enger erfahren, als es zu Zeiten des Expressionismus der Fall war.
Paradigmatisch für Betrachtung sogenannter postmoderner Literatur ist die Lateinamerikanische geworden. Jorge Luis Borges, Gabriel García Márquez und José Lezama Lima, die wiederum als Exponenten einzelner Strömungen (Fantastik, magischer Realismus, Neobarock) gelten, sind hier als gewichtigste Wegbereiter dessen zu nennen, was Walter Moser als „résurgence“ und genauer als „retour du baroque“ bezeichnet. Laut Moser findet in der lateinamerikanischen Literatur der jüngsten Moderne ein Transfer und eine Wiederaufbereitung („recyclage“) europäischen Barocks statt, dies jedoch, und hier nimmt Moser eine Anregung Mabel Morañas auf, ohne dass der Dichter im Besitz des kulturellen Gedächtnisses Europas wäre („imitar sem recordar“)41
.
Die Verwandtschaftsbeziehung zwischen postmoderner und barocker Literatur ist jedoch ein gesamtokzidentales Phänomen, da die postmoderne Literatur sich über die nationalliterarischen Grenzen hinweg durch eine (in ihrer Heterogenität) größere Einheitlichkeit auszeichnet, als es die in Spanien, Italien und Deutschland im 17. Jhd. entstandenen Werke tun.
1985 entwarf Ihab Hasssan eine Liste von Merkmalen, die postmoderne Kunst auszeichnen, dazu zählen: Unbestimmtheit, Fragmentarisierung, Auflösung des Kanons, Verlust von „Ich“ und „Tiefe“, Nicht-Zeigbares und Nicht-Darstellbares, Ironie, Hybridisierung, Karnevalisierung, Performanz und Teilnahme, Konstruktcharakter und Immanenz42
. Sicherlich ist diese Liste nicht vollständig, genauso wenig, wie sich nicht in jeder Borges-Erzählung alle diese Merkmale wiederfinden. Sie will auch keine Definition sein, und ich glaube, dass die Heterogenität dieser Elemente eine Definition, bzw. ein geschlossenes Konzept grundsätzlich ausschließt, dass eine Definition immer nur aus den Texten der Zeit heraus möglich ist, und sich postmoderne ebenso wie barocke Texte einer eindeutigen, bestimmten Charakterisierung verweigern. Sie kann in diesen Fällen lediglich unbestimmt, kann nur Fragment sein.
„Postmoderne Phänomene liegen dort vor, wo ein grundsätzlicher Pluralismus von Sprachen, Modellen und Verfahrensweisen praktiziert wird, und zwar nicht bloß in verschiedenen Werken nebeneinander, sondern in ein und demselben Werk“43
Dieser, von Wolfgang Welsch als „Grundformel“ von 1969 bezeichneter Satz, findet zehn Jahre später Ausdruck in Jean-François Lyotards bekannter These vom Ende der Meta-Erzählungen. Auch Lyotard erliegt nicht der Versuchung eine oder mehrere Facetten fürs Ganze zu nehmen. Was mit dieser Formulierung beschrieben wird ist nicht dieses „schier unausrottbare“44
Verständnis der Postmoderne als Epoche, sondern ein Wandel im Geisteszustand.
Ganz ähnlich formuliert es Umberto Eco: „Ich glaube indessen, dass,postmodern' keine zeitlich begrenzbare Strömung ist, sondern eine Geisteshaltung oder, genauer gesagt, eine Vorgehensweise, ein Kunstwollen“. Und er fährt fort, indem er die Problematik der Beziehung Postmoderne-Barock folgendermaßen zusammenfasst: „Man könnte geradezu sagen, daß jede Epoche ihre eigene Postmoderne hat, so wie man gesagt hat, jede Epoche habe ihren eigenen Manierismus (und vielleicht, ich frage es mich, ist postmodern überhaupt der moderne Name für Manierismus als metahistorische Kategorie)“45
.
Ich möchte diese Idee Ecos aufnehmen, das Wort Manierismus aber durch Barock ersetzen, denn ich denke, dass der Manierismus als Stilbegriff nützlich war, es nun aber an der Zeit ist stilistische und inhaltliche Aspekte, auch im Epochenvergleich, stärker aufeinander zu beziehen, und dass eine stärkere Verschränkung der Elemente Rhetorik-Ideologie und Epoche 1-Epoche 2 einen wichtigen Beitrag zur Geschichte des Denkens liefern kann.
Daher erscheint es mir sinnvoll, von einer klassischen (Baudelaire, Flaubert, Joyce, die Avantgarden der Jahrhundertwende) und einer barocken (Borges, Calvino, Barth) Moderne zu sprechen. Die sehr zahlreichen Parallelen im Schreiben des 17. zum Schreiben in der zweiten Hälfte des 20. Jhd.s harren noch einer eigenen Geschichte, so stellt etwa die von Schulz-Buschhaus angesprochene Tendenz zur Gattungsmischung eine wichtige Verbindung zu modernen Formen von Ironie, Spiel und Performanz dar.
Würde man diesem Weg der mehrfachen Kreuzung der Elemente folgen, dann gelänge man zu einer umfassenden Markierung und Beschreibung dessen, was Eco als Geisteshaltung, bzw. Kunstwollen bezeichnet: Das was uns antreibt zu schreiben und zu lesen.
Literaturverzeichnis
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Curtius, Ernst Robert, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Tübingen 1948 (111993).
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Welsch, Wolfgang, Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte zur Postmoderne-Diskussion, Weinheim 1988.
Fußnoten:
1
Moser, Walter, „Résurgences baroque“, in: Küpper, J., Wolfzettel, F., Diskurse des Barock, München 2000, S. 662.
2
Barthes, Roland, Die Lust am Text, übers. T. König, Ffm 61990, S. 8.
3
Wellek, René, „Der Barockbegriff in der Literaturwissenschaft“, in: ders., Grundbegriffe der Literaturwissenschaft, übers. E. u. M. Lohner, Stuttgart 21971, S. 68.
4
Einleitung in: Barner, Wilfried (Hg.), Der literarische Barock, Darmstadt 1975, S. 7.
5
Curtius, Ernst Robert, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Tübingen 1948 (111993), S. 277.
6
Ebd.
7
Ebd., S. 278.
8
Ebd., S. 286.
9
Ebd., S. 297.
10
Spitzer, Leo, „Der spanische Barock“, in: Barner, W. (Hg.), Der literarische Barock, Darmstadt 1975, S. 239.
11
Ebd., S. 235.
12
Ebd., S. 244.
13
Vgl. ebd., S. 248.
14
Wellek (s. Anm. 1), S. 82f.
15
Friedrich, Hugo, Epochen der italienischen Lyrik, Ffm 1964, S. 597.
16
Ebd., S. 536.
17
Ebd, S. 561.
18
Friedrich klärt nicht, was für ihn das Wort,Tranzendenz' genau umschließt. Deswegen wird es hier in seiner etymologischen Bedeutung verstanden als,Überschreiten', auf die Lektüre von Texten bezogen als,Erkenntnis'.
19
Ebd., S. 571.
20
Luhmann, Niklas, „Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie“, in: Gumbrecht, H.-U., Link-Heer, U. (Hgg.), Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, Ffm 1985, S. 11.
21
Ulrich Schulz-Buschhaus sieht den Grund für die intensive Auseinandersetzung mit der Epochenschwelle um 1600 darin, dass jedes Konzept von Stilepochen durch den Bruch und die Negation einer vorhergehenden Stilepoche geliefert wird. S. Schulz-Buschhaus, Ulrich, „Gattungsmischung - Gattungskombination - Gattungsnivellierung. Überlegungen zum Gebrauch des literaturhistorischen Epochenbegriffs,Barock'“, in: Gumbrecht, H.-U., Link-Heer, U. (s. Anm. 19), S. 216.
22
Curtius (s. Anm. 3), S. 251.
23
Ebd., S. 272.
24
Ebd., S. 273.
25
Allenfalls lässt sich von Restaurationsbemühungen sprechen, die jedoch „der,Chaotisierung' zum Opfer fallen“, Neumeister, Sebastian, „Der Beitrag der Romanistik zur Barockdiskussion“, in: Garber, Klaus (Hg.), Europäische Barockrezeption, Göttingen 1991, S. 852.
26
Buck, A., Heitmann, K., Mettmann, W. (Hgg.), Dichtungslehren der Romania aus der Zeit der Renaissance und des Barock, Ffm 1972.
27
Zitiert nach Curtius (s. Anm. 3), S. 298.
28
Krauss, Werner, Cervantes und seine Zeit, Berlin 1990, bes. S. 37, 69, 97, 200-215.
29
Neumeister, Sebastian, „Die Lyrik im Goldenen Zeitalter“, in: Neuschäfer, Hans-Jörg, Spanische Literaturgeschichte, Stuttgart, Weimar 1997, S. 105.
30
Küpper, Joachim, Diskurs-Renovatio bei Lope de Vega und Calderón, Tübingen 1990, S. 25.
31
Zitiert ebd., S. 284.
32
Foucault, Michel, Die Ordnung der Dinge, übers. U. Köppen, Ffm 1971 (141997), v. a. S. 74-77.
33
Die folgende Darstellung lehnt sich eng an den Aufsatz „Barocke Subjektkonstitution in Mateo Alemáns Guzmán de Alfarache“, erschienen in: Küpper, J., Wolfzettel, F. (s. Anm. 1), S. 269-289. Alle Zitate finden sich auf den Seiten 270ff.
34
Schulz-Buschhaus (s. Anm. 17), S. 216f.
35
Ebd., S. 224.
36
Ebd., S. 228.
37
Vgl. Rössner, Michael, „Das Theater der Siglos de Oro“, in: Strosetzki, C., Geschichte der spanischen Literatur, Tübingen 1996, S. 176f.
38
Stierle, Karlheinz, „Renaissance. Die Entstehung eines Epochenbegriffs aus dem Geist des 19. Jahrhunderts“, in: Herzog, R, Koselleck, R., (Hg.), Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, München, 1987, S. 453.
39
Bahner, Werner, „Ein Dilemma literaturhistorischer Periodisierung: Barock - Manierismus“, in: Ders., Renaissance, Barock, Aufklärung, Berlin 1976, S. 129.
40
Wellek (s. Anm. 1), S. 60f.
41
Vgl.: Moser (s. Anm. 1), S. 655-680. Und: ders.: „Du baroque européen et colonial au baroque américain et postcolonial“, in: Schumm, P. (Hg.), Barrocos y Modernos. Nuevos caminos en la investigación del Barroco iberoamericano, Ffm 1998, S. 67-82.
42
Hassan, Ihab, „Postmoderne heute“, in: Welsch, Wolfgang, Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte zur Postmoderne-Diskussion, Weinheim 1988, S. 45-54.
43
Einleitung in: Welsch (s. Anm. 37), S. 10.
44
Ebd., S. 11.
45
Eco, Umberto, „Postmodernismus, Ironie und Vergnügen“, in: Welsch (s. Anm. 37), S. 75f.