Wilhelm Genazino: Ein Regenschirm für diesen Tag Roman
Carl Hanser Verlag 2001
173 Seiten, Tb. DM 35,00 EUR 17,90
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Midlife-Crisis-Genöle
Genazinos Protagonist hat keinen Namen. Er ist 46 Jahre alt und läuft in der Stadt herum. Er beobachtet die Leute und macht sich dazu seine Gedanken. Zum Nachhausegehen hat er keinen Grund, denn seine Frau ist ihm weggelaufen. Praktisch, dass er fürs Flanieren noch bezahlt wird: er testet edle Lederschuhe auf ihren Tragekomfort. Die Beobachtungen, die er auf seinen Streifzügen macht, öffnen verwinkelte Gedankengänge in seinem Gehirn. Einer Frau fällt ein Päckchen Kaugummi unbemerkt aus dem Rucksack: Warum ist es unmöglich, sie anzusprechen und darauf hinzuweisen, dass sie etwas verloren hat? Soll er einen Schweigestundenplan an alle Freunde verschicken, damit die genau wissen, wann er reden will und wann sie ihn in Ruhe lassen sollen? Warum hat er früher Apfelkrutzen gesagt, ist dann aber zur Bezeichnung Apfelbutzen übergegangen?
Mit solcherlei Überlegungen lenkt sich der Schuhtester davon ab, dass es ihm ziemlich schlecht geht, seit seine Lisa verschwunden ist. „Früher konnte ich damit aufhören, mein Leben zu verdächtigen, sobald ich die Wohnung betrat“. Jetzt ist da nur noch ein leeres Zimmer. Und so schlendert er durch die Straßen, grübelt über „die Gesamtmerkwürdigkeit des Lebens“ nach und kämpft gegen die Schwermut. „Aber du kannst nicht immer ein Ablenkungsleben führen“ denkt er sich in den Momenten, in denen ihm bewusst wird, dass er auch bloß ein Versager ist, der genauso wenig gebacken kriegt wie sein früherer Kumpel Himmelsbach, ein gescheiterter Fotograf. Aber er kann nicht anders, denn er lebt „ohne innere Genehmigung“. In seinen Beobachtungen sucht er nach dieser Genehmigung, der Lösung für alles, der großen Antwort. Penetrant tiefsinnig geht er auch noch der kleinsten Begebenheit auf den Grund — und langsam versteht man, warum seine Frau es nicht mehr mit ihm ausgehalten hat.
Einen erbärmlichen Ersatz für zumindest die körperlichen Freuden bietet Friseuse Margot, die ihn nach dem Haareschneiden mit ins Hinterzimmer des Salons nimmt: “Wieder, wie schon voriges Mal, setzt sie sich auf die Couch, zieht mich zu sich heran und lutscht mir das Geschlecht“. Dann ist er wieder auf der Straße, wo ihm ständig Frauen aus seiner Vergangenheit über den Weg laufen. Gunhild, Regine, Doris, Margit, Elisabeth, Susanne, überkandidelte Hühner allesamt. Susanne kennt er seit der Kindheit. Sie fühlt sich als Schauspielerin, seit sie vor zwanzig Jahren einmal auf der Bühne stand, jetzt stellt sie in einer Anwaltskanzlei Akten zusammen. Susanne läuft dem Protagonisten häufiger über den Weg als die anderen, zufällig kommt man sich näher. Nicht, dass man sich verliebte — man geht eine Beziehung ein. Dass Susanne schön ist, wird erwähnt, doch beim Lesen hat man ständig eine vertrocknete Büromaus mit faltigem Mund vor Augen. Hässlich auf gewisse Weise sind alle Personen in diesem Buch, innerlich verunstaltet durch die Verkrüppelungen, die das Leben ihnen zugefügt hat. Damit das auch der dümmste Leser merkt, begegnet der Schuhtester auf seinen Streifzügen immer wieder Rollstuhlfahrern, Mongoloiden und anderen behinderten Menschen.
Ein tristes Leben führen alle Figuren in diesem Buch, obwohl sie einst soviel Großartiges vorhatten. Es gibt kein richtiges Leben im falschen, sagt man, und diese Leute sind alle im falschen gelandet. Auch Frau Balkhausen, die der Protagonist bei einer Abendeinladung in Susannes Wohnung kennenlernt. Susanne übrigens, die Möchtegern-Künstlerin, hat Magritte- und Miró-Poster an den Wänden, serviert den Nachtisch auf einem Messingwägelchen und ferut sich über pseudointellektuelle Konversation an ihrem Tisch. Allein darum fragt man sich, wieso der Schuhtester es über sich bringt, mit ihr ins Bett zu gehen. Er immerhin besitzt noch so etwas wie Ironie. Er leite ein Institut für Gedächtniskunst und verschaffe seinen Klienten echte Erlebnisse, tischt er der Abendgesellschaft auf. Frau Balkhausen möchte schon lange mal wieder was Authentisches erleben, der Schuhtester gibt ihr seine Telefonnummer und findet sich unversehens in der Rolle des Therapeuten wieder. Da wird es ein bisschen lustig in Genazinos Buch, leider erst ziemlich weit hinten, schade. Denn das Midlife-Crisis-Genöle seiner 46jährigen Hauptfigur geht einer 31jährigen Leserin gewaltig auf die Nerven, da können die Alltagsbeobachtungen noch so fein beschrieben sein. Diese Beschreibungen sind schlicht und genau, und ihretwegen habe ich das Buch nicht weggelegt. Allerdings war ich weniger begeistert als die Rezensenten der großen Tageszeitungen. Sie fanden „Ein Regenschirm für diesen Tag“ ganz großartig. Wahrscheinlich erkannten sie sich selbst in Genazinos gescheiterten Träumern. Ein schönes Buch für ältere Herren.
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