Einer von uns kann sich nicht irren
"der himmel ist der bildschirmschoner gottes"
Meine Telefonrechnung war immens hoch letztens, weil ich alle möglichen
Leute anrief, um ihnen zu sagen, wie verdammt gut und plausibel dieser Satz
ist. Er stammt aus Gerald Fiebigs neuem Buch "erinnerungen an die 90er
jahre", das im yedermann Verlag erschienen ist.
Und? Ist dieser Satz etwa fettgedruckt, doppelt unterstrichen oder
himmelgroß in Schriftgröße 10 000 im Buch zu finden? Nein! Er steht da als
ein wundervoller von vielen wunderbaren Sätzen:
"die vorführerin schenkt dir zum abschied ein / standbild"
Wie viel Zärtlichkeit in diesem Satz liegt; mehr gibt es höchstens noch in
einer warmen weichen Hand. Und der Verführer schenkt dir laufend solch
standhafte Sätze:
"im rauschen / einer leitung / ohne nummer / singt der abgemeldete / regen sein lied"
Welchen Gesichtsausdruck mag der Herr Fiebig wohl aufgehabt haben, während
und nachdem er diesen Satz zu Papier gebracht hat? Fragt mich nicht, er muss
wahnsinnig gewesen sein. Wahnsinnig schön.
Anfangs hab ich das Buch nachts eingesperrt, weil ich schlicht und einfach
Angst hatte, die monströsen Bilder Fiebigs würden mir die Luft und
vielleicht auch noch die Nase wegbeißen, während ich schliefe.
Das Erstaunliche an Gerald Fiebigs Gedichten ist der durch und durch
originäre Standpunkt, den der Erzähler einnimmt; das muss ein sehr geheimer
Ort sein, noch niemand sonst hat von dort berichtet. Ich wähle den Begriff
'Erzähler' im übrigen ganz bewusst, denn in diesen manchmal herben und fast
immer hochkonzentrierten Texten werden uns oftmals Dinge erzählt, wegen
denen das Zählen erst erfunden wurde: zum Luftanhalten. In diesen Sätzen
erfährt man viel über sich selbst, weil man mit ihnen nachdenken kann.
Gerald Fiebig schreibt so messerscharf, als käme er aus Solingen. Dabei
kommt er aus Augsburg. Das ist die Stadt Bertolt Brechts; und auch die Stadt
Roy Blacks. Ganz in weiß kommt Fiebig daher
zum Schlachten.
Er kennt die Worte beim Namen und ich weiß, er mag sie auch - wenn es aber
sein muss, dann staucht er sie zusammen wie jeder gute Vater
landsverräter; denn Fiebig schreibt über manche der hiesigen Hässlichkeiten,
als käme er selbst aus einem schöneren Land; vielleicht gar von einem
anderen Planten, so als sähe er alles "wie stumme bilder vom mond / durch
die scheibe [seines] funkstillen raumhelms" ("postkarten vom mond").
Da trägt ein anderes Gedicht einen Titel, der in manch einem Band anderer
Autoren schon das beste Gedicht wäre: "augenlied, küchenohr". Was für ein
schöner Kanon; das kann ich einen Tag und eine Nacht lang in meinem Kopf
singen und das Lächeln bleibt.
Der unglaublichste Text des Buches aber ist meiner Meinung nach der, der
"besuche" genannt wird. Nimm alle Romane, die du jemals gelesen hast, press
die Essenz heraus, lass diese dann durch die Luft schwirren, stell dich
darunter und versuch, allein auf der Welt zu sein. Du wirst dich fühlen wie
ein Wunder. Oder auch so, als würdest du um halb vier Uhr morgens aufwachen
und verkehrt herum im Bett liegen. Oder denk an einen Sonntagnachmittag im
Regenfall. Und dann riechst du, als wärst du da draußen gewesen. Dabei sitzt
du im Mutterlaib und bereitest dich darauf vor, das Geheimnis des Lebens zu
vergessen. Aber jetzt kommst du damit nicht mehr durch, denn Gerald Fiebig
hat es aufgeschrieben. "besuche" heißt der Text auf den Seiten 33 bis
unendlich. Wenn du die Seite herausreißen und einen Flieger daraus falten
würdest, er würde um die ganze Welt fliegen.
Gerald Fiebig selbst war auch viel unterwegs: er war in Portugal, in den
Dummköpfen von Werbestrategen, in Trance, in Sorge, in Gefahr, in großer
Form. 49 texte sind dabei herausgekommen. Il faut être absolument moderne!
Gerald Fiebig hat ein Buch geschrieben, das "erinnerungen an die 90er jahre
heißt" . Mehr konnte er nicht tun. Legionen, macht euch auf!