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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen



Februar 2002
Philipp Mehne
für satt.org

Ralf Rothmann:
Milch und Kohle.

Suhrkamp, Ffm. 2000 (HC)

Ralf Rothmann: Milch und Kohle

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HC: EUR 18,80 | SC: EUR 10

"No Milk Today":
Zu Ralf Rothmanns Roman
Milch und Kohle


Rothmanns Geschichte beginnt mit einem rabiaten Aufräumen. Nach dem Tod der Mutter kehrt der Erzähler, nach Jahren der Abwesenheit, in die Wohnung seiner Eltern, seiner Kindheit zurück. Was er noch in den Schränken findet, räumt er aus, packt es in Müllsäcke, die er mit Klebeband verschließt - bis er unter der Matratze des ehemaligen Ehebetts ein Messer findet und ein beschriebenes altes Kalenderblatt. "Simon! Ich habe die Mutti geschlagen, mehr Mals, auch ins Gesicht. Ich weis nicht, wie es passieren konnte." Von den Sätzen, die der Vater ihm wohl geschrieben haben musste, aber nie überbracht hatte, lässt er sich in die Vergangenheit, in die eigene Geschichte zurückkatapultieren.

Die Eltern waren vom Land in die Stadt gekommen; gegenüber dem Bauerhof, auf dem beide gearbeitet hatten, schien die Stadt vor allem Leben zu versprechen: "Hier ist Stadt: Asphaltierte Straßen, nette Nachbarn, ein Fernseher und jeden Tag Tanz bei Maus". Der Vater, gelernter Melker, verdient nun in einer Kohlegrube gerade eben soviel Geld, dass die vierköpfige Familie davon leben kann. Die Illusionen über die vermeintlich wunderbare und moderne Stadt verlieren sich aber schnell. Die Kuhmilch, für die sie symbolisch die Kohle eingetauscht haben, verbildlicht bald eine ferne Idylle; das Geld, die "Kohle", die man in der Stadt verdienen kann und ohne die Leben noch weniger möglich ist, als auf dem Land, fehlt an allen Enden. Simons Vater, der in Rothmanns Roman seltsam ungreifbar bleibt, und eigentlich nur in den Empfindungen der anderen Figuren spürbar ist, verliert in der Zeche seine Gesundheit, während sich ihm der Kohlenstaub allmählich in den Gesichtsfalten festsetzt. Die Mutter richtet ihre Hoffnungen auf ein erlebnisreiches und glückliches Leben derweil an den Gastarbeiter Gino, mit dem sie bald in einem fast öffentlichen Verhältnis lebt. Eines nachts schlägt ihr Mann sie, sie verlässt ihn und die Kinder, kehrt dann wieder zurück; der genaue Ausgang verliert sich in Simons Erzählung. Anders als der ältere und ruhigere Simon kann der jüngere Thomas oder Traska, wie er genannt wird, keine Distanz einnehmen, hasst seine Familie, rächt sich für seine Unterlegenheit und Nichtbeachtung durch sadistische Aufsässigkeit, und trifft doch immer wieder sich selbst. Wie Traskas epileptische Anfälle beschrieben werden, offenbart Wesentliches über alle Figuren und bezeugt Rothmanns Geschick um Umgang mit Symbolik und Ambivalenz: "Er stöhnte leise, wie oft im Schlaf, und kam ein wenig ins Wackeln auf dem einbeinigen Schemel. Das dauerte nur Sekunden, dann zuckte er wie erschrocken und sah auf. Hm? Was ist?' Nichts', sagte ich. Du hast geträumt'". Die Träume, die in Milch und Kohle geträumt werden, sind nie nur harmlos, immer legen sie auch Verletzungen offen, lassen Abgründe erkennen, sprechen von Entbehrungen ebenso, wie sie Befreiung versprechen. Wirklich glücklich scheinen Rothmanns Figuren nie zu sein, immer scheinen sie sich nach weit Entlegenem zu sehnen, nach fernen Ländern vielleicht oder ferner Liebe.

Rothmanns Roman ist auf eine klassische Weise erzählt, fast möchte man sagen, auf eine unspektakuläre. Er lässt seinen Protagonisten Simon beiseite stehen, beobachten, wie sein Freund Pavel, der Bruder Traska und die Mutter unterschiedliche Wege aus der Enttäuschung suchen - und er vermeidet dabei, die Fäden bis ins Kleinste zu verfolgen und der Geschichte so jede Möglichkeit zur Entwicklung, zur Vieldeutigkeit zu nehmen. Stattdessen lässt Rothmann Andeutungen stehen, scheint die Geschichte am Ende beinahe aus der Hand geben zu wollen, lässt sie ein wenig auseinanderlaufen, ohne sie jedoch dabei ganz zu verlieren. Unspektakulär im positiven Sinne ist Milch und Kohle auch bezüglich seiner Sprache. Ebenso schlicht ist die Handlung - und doch macht erst ihre Schlichtheit die Geschichte so berührend, weil man sie als vorstellbar empfindet. Rothmann gelingt damit etwas, an dem Romane wie Soloalbum von Stuckrad Barre ebenso gescheitert sind wie jüngst Thomas Hettches Der Fall Arbogast. Es gelingt ihm, das alltägliche Leben in den Blick zu nehmen, ohne dabei an der Oberfläche der Details zu bleiben. Dass seine Figuren so gelebt haben könnten, das glaubt man Rothmann, auch wenn er nicht mit Rechereergebnissen glänzen kann, und sich mit wenigen konkreten Einzelheiten begnügt, die dann allerdings fast zeichenhaft wirken. Im besten Fall gelingt es Rothmann, seine Charaktere über sich hinauswachsen zu lassen und dem Leser ein größeres Bild anzudeuten: eine Jugend im Arbeitermilieu einer Industriestadt, das Deutschland der 60er Jahre.