Inge Müller: Daß ich nicht ersticke am Leisesein. Herausgegeben von Sonja Hilzinger Aufbau-Verlag, Berlin 2002
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Eine tot getanzte Liebe."Gesammelte Texte" von Inge Müller
In den beiden brauchbarsten Lyrikanthologien der letzten Jahre, Jörg Drews "Das bleibt" (1995) und Thomas Klings "sprachspeicher" (2001), findet sich jeweils ein Müller-Gedicht. Drews entschied sich für "Wiedersehn mit der bösen Cousine" von Heiner Müller und Kling für "Feuerprobe" von Inge Müller. Die beiden Gedichte könnten unterschiedlicher nicht sein, unverkennbar ist das eine von Heiner, das andere von Inge Müller geschrieben. Dass eine solch klare Unterscheidung allerdings nicht immer leicht zu machen ist, das zeigt der jetzt im Aufbau-Verlag erschienene Band "Daß ich nicht ersticke am Leisesein". Er enthält die "Gesammelten Texte" von Inge Müller, bzw. das Material, "das zum gegenwärtigen Zeitpunkt als Hinterlassenschaft Inge Müllers angesehen wird", wie die Herausgeberin Sonja Hilzinger einschränkend und einigermaßen verunsichert bemerkt, denn in "dreizehn Jahren Lebens- und Produktionsgemeinschaft" sei "eine schier untrennbare Mischung entstanden", die es geradezu unmöglich mache, viele der Texte, besonders die aus dem Nachlass, eindeutig einem der beiden Autoren zuzuordnen.
In einem Interview hat Inge Müller die Textproduktion als einen eng mit dem Ehepartner verschränkten Prozess beschrieben: "In tage-, ja oft nächtelangen Diskussionen klären wir die aus dem Leben aufgegriffenen Probleme, ihre Gestaltung und den Ablauf der Handlung. Dann kann schließlich ich dort weiterschreiben, wo Heiner aufgehört hat und umgekehrt." Auch in ihren Gedichten thematisiert sie eine wechselseitige Inanspruchnahme: "und du greifst nach dem Bleistift wie nach meiner Hand/ (Wie ich nach deiner greife. Manchmal.)" Heiner Müller hingegen beansprucht nach dem Tod seiner Frau die alleinige Autorschaft an den in den fünfziger und sechziger Jahren unter seinem Namen veröffentlichten Texten und vor allem an den unter beider Namen publizierten Stücken "Die Lohndrücker", "Die Korrektur" und "Klettwitzer Bericht", zu denen seine Frau lediglich die Recherche-Arbeit beigetragen haben soll und die schließlich auch in seine bei Suhrkamp erscheinende Gesamtausgabe aufgenommen wurden und im vorliegenden Band mit "Gesammelten Texten" ebenso fehlen wie die von Inge Müller verfassten Kinderbücher und -verse. Gerade Inges Gedichte waren "ihre eigene Welt", sagt Heiner Müller in seiner Autobiographie, und fährt fort: "wenn ich ihr Verbesserungen vorschlug, wurde etwas anderes daraus, etwas für sie Falsches, deswegen ließ ich dann die Finger davon."
Man könnte eine Reihe von Indizien gegeneinander abwägen und umfangreiche Textvergleiche anstrengen: Im Fall von Inge und Heiner Müller ist besonders schwer zu entscheiden, wie groß der Anteil der Einen am Werk des Anderen war und umgekehrt. Bevor sich beide 1953 bei einer Autorenwerkstatt kennen lernten, hatten sie noch nichts Nennenswertes geschaffen und ihr eigenes Idiom, das dann in mancherlei Hinsicht ein nah verwandtes werden sollte, noch keinesfalls ausgebildet. Manche behaupten, Heiner Müllers dichterisches Potential wäre größer gewesen als das seiner Frau, selbst ihr Sohn, den Heiner Müller adoptierte, hält diesen für die eigentlich originäre Kraft. Andere halten ihn als Lyriker für eine eher schwache Begabung, und so wird er in der Forschung auch hauptsächlich als Dramatiker wahrgenommen und sein lyrisches Schaffen weniger beachtet als das Inge Müllers. "Daß ich nicht ersticke am Leisesein" bietet nun mit der Vielzahl an Gedichten, die hier erstmals veröffentlicht werden, die Möglichkeit, wenn auch zu keinem abschließenden Urteil über den Einfluss ihres Mannes auf ihr Werk zu kommen, so doch diejenige, darüber zu reden, inwieweit es sich bei Inge Müller um eine außergewöhnliche Dichterin handelt.
Dass ihre Lebensgeschichte in einem negativen Sinn außergewöhnlich ist, daran zumindest besteht kein Zweifel: Geboren 1925, in ihrer Kindheit von einer gewalttätigen Mutter tyrannisiert, gegen Kriegsende eingezogen, zweimal unter Trümmern verschüttet, einmal für drei ganze Tage. Ihre Eltern allerdings sterben in den Ruinen, sie birgt und begräbt sie, wobei ihrer Mutter ein Finger fehlt, den Nachbarn wegen eines Ringes abgeschnitten haben. Zwei Scheidungen, Geldprobleme (vor allem nachdem Heiner Müller nach der Uraufführung seines Stückes "Die Umsiedlerin" 1961 aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen wird), Alkoholprobleme, schwere Krankheit, mehrere Klinikaufenthalte und ab Ende der fünfziger Jahre zunehmende Probleme innerhalb der Familie (zu der auch Heiner Müllers Bruder zählt, mit dem sie ein Verhältnis hat). Psychotherapeutische Behandlung. Zahlreiche Selbstmordversuche. Ihr letzter, sie ist 41, gelingt (Birgit Vanderbeke hat diese harten Fakten in ein etwas milderes Licht gerückt).
"Da kommt der schwarze Wagen/ Das Pferd, das geht im Schritt/ Und wer allein nicht laufen kann/ Den nimmt der Wagen mit."
Viele biographische Motive speisen Inge Müllers Lyrik und auch ihre in den "Gesammelten Texten" enthaltene Prosa-, Theater- und Hörspielarbeit. Zählt man den Tod zum Leben, so ist er die eigentliche Konstante ihrer Biographie. Der Tod ist bei ihr immer gegenwärtig. Dass sie so häufig mit ihm konfrontiert war, hat ihn zu ihrem ständigen Gefährten gemacht. Er ist der Fluchtpunkt ihres Schreibens. Reinhard Jirgl spricht in Bezug auf ihre Gedichte vom "Leitwort Tod", das mitunter einen "symbolische[n] Tod des Gedichtes" bewirke. Man beachte, wie im folgenden Gedicht die erst lange dann kurze Betonung des Vokals a im Reim Grab/ab das Gedicht in einer vom Klang auf den Sinn rückwirkenden Weise determiniert: "Ich steh mit einem Bein im Grab/ Was mach ich mit dem zweiten./ Ich muß dich doch begleiten./ Ich hack das erste ab." An diesem Gedicht wird auch deutlich, dass Inge Müller sich zum Weiterleben immer neu hat entscheiden müssen. Sie klagt nicht über die Schlechtigkeit der Welt oder über die bittere Unausweichlichkeit des Todes, sondern sieht Tod und Leben in einem dynamischen Verhältnis zueinander, weswegen sie ein ums andere Mal die Gründe zu leben/zu sterben gegeneinander abwägt. Insofern ist nicht ganz richtig, was Adolf Endler schreibt: "Motive des Laufens, Gehens und Weitergehens zeigen bei der Häufung, wie sie Inge Müllers Lyrik bietet, natürlich in die Richtung des Gegenteils: auf permanenten Niederbruch." Zwar erkennt Endler die große Bedeutung von Bewegung für die Poetik der Dichterin, schließt aber, um dieses Motiv zu erklären, auf sein Gegenteil: den Stillstand. Sicher trägt jedes Ding seinen Widerpart in sich und weist zuweilen auch recht deutlich auf ihn hin. Inge Müllers Lyrik aber ist der beharrliche Versuch den Stillstand zu um-gehen. Selbst der Tod besitzt für sie noch ein dynamisches Moment, wie das zitierte Gedicht "Da kommt der schwarze Wagen" zeigt. Er ist ihr lockende Ent-deckung: "Drum hab ich kein Gesicht/ Bis sie mich begraben".
Selbstverständlich kann man die Ursache für Inge Müllers Schreiben am Tod im berühmten "Übriggeblieben zufällig" sehen, kann man ihre Gedichte als die eines Menschen lesen, der bereits einmal mit dem Leben abgeschlossen hatte. Dagegen spricht allerdings ihre gleichzeitige Hinwendung zum Diesseits, ihr Wunsch nach einer besseren, sozialistischen Welt und der Beginn ihrer Schriftstellerlaufbahn als Autorin von Kinderbüchern. Dagegen spricht auch, dass in der Lyrik ihres Mannes der Tod im selben Maße und in ganz ähnlicher Weise immer präsent ist: "Meine Liebe ist stark,/ [ …] Wie der Wald aus dem die Särge gemacht sind", heißt es in einem seiner schönsten Liebesgedichte. Inge Müllers ständige Todesnähe ist wohl eher die Erfahrung einer ganzen Generation, für die "Kriegs-Erleben nicht [ …] zu Vergangenem, Erinnertem" werden konnte und die dem Tod mit völliger "Distanzlosigkeit" (Peter Böthig) gegenüberstand.
Vielleicht ist Inge Müllers Lyrik ganz im Gegenteil ein Kampf ums Vergessen: "Ich schrieb und schrieb/ Das Grün ins Gras", heißt es in einem ihrer Gedichte, und in einem anderen: "Sieh auf die Bäume vor deinem Fenster. Unbewegt/ Bieten sie deinem suchenden Auge die/ Ewige Ruhe: Vergessen in Grün, Farbe/ Die sanft die Sinne tötet." Der poetische Akt, der hier einer Farbgebung gleichgesetzt wird, ist bei ihr also ein Akt der Entsinnlichung, Abstumpfung und letztlich Abtötung. Die "Bruchstückhaftigkeit, die Härte und Trauer vieler Texte, ihre Kargheit und Spröde" - was sich am leichtesten an den vielen unreinen Reimen und dem häufigen Wechsel zwischen Lang- und Kurzzeilen festmachen lässt - zeugt davon. Ob diese "fast minimalistisch zu nennende Poetologie heutigen Kunst-Erwartungen" allerdings entgegenkommt, wie Birgit Dahlke weiter schreibt, ist fraglich. Eine minimalistische Poetologie wird sich kaum ein junger deutscher Dichter bescheinigen lassen wollen. Und Gedichte die man vor allem hart, karg und spröde nennen möchte, sind längst nicht mehr angesagt. Wenigstens möchte man in dem Fall spüren, wie dem Dichter die Galle kocht - man denke an Dieter Roth und eben auch an Heiner Müller, die manche Gedichte weniger ausgeschrieben als ausgekotzt haben.
Inge Müller hingegen gleitet trotz aller Todessehnsucht nie in völlige Selbstreferentialität ab. Fast immer bleibt sie sozial und auf ein Gegenüber gerichtet. Das ist allerdings nicht nur eine Stärke, denn durch den Willen zum Dialog neigt ihre Lyrik zur klaren Aussage und mithin zur Banalität. Deswegen lässt sich über zu viele der etwa 300 Gedichte in "Daß ich nicht ersticke am Leisesein" zu wenig sagen. Viele sind lediglich Kritik oder Kommentar und bergen kein Geheimnis, überraschen nicht, arbeiten nicht im Leser fort. Zwar hat es gerade für die Forschung sein gutes, wenn 36 Jahre nach Inge Müllers Tod die Anstrengung unternommen wird, ihr Gesamtwerk zu versammeln. Das Bestreben um Vollständigkeit aber findet im vorliegenden Band allein im Fall der Gedichte Erfüllung, denn nicht aufgenommen wurden, ohne dass schlüssig erklärt wird warum, weder die Kinderbücher, noch die journalistischen Arbeiten, noch die gemeinsam mit Heiner Müller veröffentlichten Stücke, noch ihre Tagebücher - die vor sechs Jahren teilweise in "Irgendwo; noch einmal möchte ich sehen" einen Platz fanden. Und wie zu viele der Gedichte einen rein dokumentarischen Wert besitzen, so sind auch ihre Prosa- und Theaterstücke wenig geeignet, ein ästhetisches oder intellektuelles Vergnügen zu bereiten. Abgesehen von einigen kurzen Erzählungen und einem längeren Hörspiel handelt es sich um Schnipselwerk, um das, was man so gerne Fragment nennt, um es interessant zu machen.
"Wenn ich schon sterben muss" heißt eine Anthologie, die Richard Pietraß 1985 zusammengestellt und weniger fragwürdig angeordnet hat, als es in "Daß ich nicht ersticke am Leisesein" der Fall ist. In ihr sind alle Gedichte enthalten, für die man Inge Müller mehr als bewundern kann. Nach der Lektüre des neuen, zugleich überfüllten und für ein Gesamtverständnis doch wieder zu knapp angelegten Bandes, ist Inge Müllers Lyrik allerdings wie "eine tot getanzte Liebe". Und wie Inge Müller am Ende tot war, so schnappt schließlich auch "die kleine Mausefalle/ Des Glücks zu zwein" zu.
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