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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen



September 2002
Marc Degens
für satt.org

Michael Chabon:
Die unglaublichen Abenteuer von Kavalier & Clay.
Roman.
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Andrea Fischer
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002

Michael Chabon: Die unglaublichen Abenteuer von Kavalier & Clay.
811 Seiten, gebunden, 24,90 EUR
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Die
unglaublichen Abenteuer
von Kavalier & Clay


Es läßt sich vortrefflich darüber streiten, wo und wann Comics entstanden sind. Sind Wilhelm Buschs Bilderzählungen nicht eigentlich schon Comics – oder die von Goethe gelobten Bilderromane des Genfer Rhetorikprofessors Rodolphe Töpffer? Oder die populären Bildzyklen von William Hogarth? Oder gar der Wandteppich von Bayeux? Die meisten Kenner einigten sich auf das Entstehungsjahr 1895 - das Jahr, in dem Richard Felton Outcaults „Yellow Kid“ in William Randolph Hearsts Sonntagszeitung „Sunday World“ das Licht der Welt erblickte. Diese Einschätzung macht durchaus Sinn, denn Outcaults Geschichten um das kahlköpfige New Yorker Straßenkind mit den Segelohren und dem knallig gelben Nachthemd stehen tatsächlich am Anfang einer Entwicklung, in deren Folge in den Zeitungscomics fast die gesamte Bildersprache des Mediums – von der Sprechblase über Speedlines bis hin zu den Klangwörtern – entwickelt oder zumindest festgelegt wurde.

Von Anfang an dienten die abgedruckten Bildgeschichten ausschließlich der Unterhaltung der Leser und also der Auflagensteigerung der Zeitung - der eingeimpfte Massenkulturcharakter wurde ebenfalls ein Wesenszug des Mediums! Und wie bei den beiden anderen illegitimen Kunstformen des zwanzigsten Jahrhunderts, Film und Fotografie, war die Entstehung des Comics eng mit der Entwicklung moderner Herstellungsverfahren verbunden; in diesem Fall mit der Einführung des Rotationsdrucks 1872. Dennoch gibt es einige gute Gründe dafür, die Geburtsstunde des Comics noch später zu datieren – und zwar in das Jahr 1938 zu verlegen, als ein bis dahin gänzlich unbekanntes Wesen die Welt betrat: „Look! Up in the sky! It’s a bird? It’s a plane? It’s Superman!“

Zurecht gelten Superheldencomics als das einzige originäre Genre, daß die Erzählform Comic hervorgebracht hat. Das heißt: Es gab schon Rittererzählungen vor den Prinz-Eisenherz-Comics, Lausbubgeschichten vor den Katzenjammerkids, es gab bereits Sci-Fi-Stories vor den Flash-Gordon-Zeitungsstrips, Tarzan-Romane vor den Tarzancomics und Micky-Maus-Zeichentrickfilme vor den ersten Disney-Comics. Allein einen authentischen Superheldenroman gab es vor 1938 noch nicht. Und unverkennbar sind Superheldencomics ein Produkt der damals in Amerika herrschenden instabilen politischen und ökonomischen Situation. Massenarbeitslosigkeit, Armut, soziale Unruhen … der Wunsch nach einem unbestechlichen, unverwundbaren und allgegenwärtigen Retter materialisierte sich in den trivialmythischen Überpolizisten, in den selbstlosen Weltbewegern, die ihr ganzes Leben dem Kampf gegen das Böse geweiht hatten. Mit ihnen sollten Goldene Zeiten anbrechen - und schon kurze Zeit später erhielten die Märchengestalten Gelegenheit, sich in der Wirklichkeit und auf allen Kontinenten zu bewähren: Superman, Captain America, Star-Spangled Kid … Eine Legion von Superhelden, die Justice Society of America, setzte sich in Bewegung, überwand die Ozeane und kämpfte in der Ferne gegen Hitler, Mussolini, Kaiser Hirohito und deren Schergen. Fast die Hälfte der zwölf Millionen G.I.’s las regelmäßig Superheldenbildgeschichten, Comichefte machten seinerzeit ein Viertel der von den USA exportierten Druckerzeugnisse aus.

Superheldencomics hatten ebenfalls einen entscheidenden Anteil daran, daß sich das Medium zu der ästhetisch so vielfältigen und gesellschaftlich inzwischen anerkannten Kunstgattung fortentwickeln konnte. Denn die eigens für die Comichefte produzierten Abenteuer lösten kreative Fesseln: Bilder wurden bunt, Panels unterschiedlich groß, Geschichten lang und länger. Comics waren nun nicht mehr bloßes Zeitungsbeiwerk - und eine neue, riesige Käuferschicht entdeckte das Medium für sich: Kinder und Jugendliche. Fortan galten die in den Massenblättern abgedruckten schwarzweißen Comicstreifen als mehr oder minder anspruchsvolle Erwachsenenlektüre, während man den Inhalt der bunten Comichefte sogleich als infantil, pubertär und läppisch etikettierte, mitunter auch als entartet und gefährlich, Schmutz und Schund! Daran hat sich bis heute nicht viel geändert.

Superhelden sind eine uramerikanische Errungenschaft, und über die Pionierzeit dieses Genres hat der 1963 in Washington DC geborene Schriftsteller Michael Chabon einen gewaltigen, kenntnisreichen und klugen Roman geschrieben. Einen Roman über zwei fiktive Comicmacher, Kavalier und Clay, ein atemberaubendes Meisterwerk, das nicht nur sprachlich und stilistisch brilliert, sondern vor allen Dingen mit einer phantastischen, ungemein virtuos durchkomponierten Handlung aufwartet, die sich von 1939 bis 1954 erstreckt.

In einem Sarg flieht der neunzehnjährige Jude Josef Kavalier aus dem besetzten Prag nach Brooklyn, seine Familie bleibt zurück. Er findet Unterschlupf bei einer Tante, ihr Sohn Samuel Klayman ist ein großer Comicfan und begeistert ihn für die neuen Superheldencomics. Kurz darauf kreieren die zwei eine eigene Figur: der Eskapist, einen König der Ausbrecher. Und tatsächlich finden die beiden auch Verleger, die das Comicheft drucken. Der Erfolg ist überwältigend, der Eskapist wird ein Verkaufsschlager, nicht zuletzt weil er Monat für Monat in Übersee gegen die Nazis kämpft. Allerdings reicht Kavalier diese Form des Kampfes schon bald nicht mehr, freiwillig meldet er sich als Soldat bei der amerikanischen Armee, um höchstpersönlich die Nazis zu bezwingen und seine Familie zu befreien: Doch Kavalier wird als Funker am Südpol stationiert und ihm widerfährt Schreckliches. Traumatisiert zieht er sich nach dem Krieg aus der Comicbranche und aus dem öffentlichen Leben zurück, erst 1954 kehrt er zu seiner Frau und seinem Cousin und ehemaligen Arbeitspartner zurück.

Das ist in groben Zügen die Romanhandlung – und doch sagt sie wenig über das Werk aus. Denn die Hauptfiguren des Buches sind auch Orte und nicht zuletzt die Zeit. Das verlorene Prag, die unwirkliche Antarktis, New Yorks Wolkenkratzer, die bewegten dreißiger und vierziger Jahre, die erstarrten, restriktiven fünfziger Jahre. Kavalier und Klayman machen Bekanntschaft mit Orson Welles, Salvador Dalí, ja, sogar der Golem spielt eine nicht unbedeutende Rolle.

Stellenweise übertreibt Chabon - geht die Phantasie mit dem Autor durch: Ein Nazi-Spionagering namens „United Snakes of America“, ein Bungeesprung vom Empire State Building, „Das mächtige Molekül“ … derartige Überspanntheiten haben allerdings Methode, denn Chabon webt in sein Buch munter Versatzstücke aus der Pulp- und Trivialliteratur ein - schließlich weiß er auch von „unglaublichen Abenteuern“ zu berichten. Gleichwohl ist der Roman ein sehr ernstes und aufrichtiges Werk, ein Roman über die Liebe und die Rache, und Chabon behandelt seine Protagonisten zärtlich, ohne jede Ironie.

Stilistisch und erzählerisch ist das Buch vollkommen – und auch in der hervorragenden deutschen Übersetzung entwickelt Chabons Sprache ihren Sog und treibt den Leser spielend durch die immerhin über achthundert Seiten. Das ist nicht verwunderlich, schließlich hat der Autor schon früh mit seinen deutlich autobiographisch grundierten Büchern - mit dem soliden Debütroman „Die Geheimnisse von Pittsburgh“ (1987) und vor allen Dingen mit dem grandiosen Erzählungsband „Ocean Avenue“ (1991) - bewiesen, daß er ein hervorragender Schreiber ist. Doch daß das einstige „Wunderkind“ eines Tages ein solch großes und großartiges historisches Romanpanorama schaffen würde, das zurecht 2001 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, damit hatte kaum jemand gerechnet! Hierin zeigt sich vielleicht auch der Unterschied zwischen deutschen und amerikanischen Autoren, denn daß Alexa Hennig von Lange oder Benjamin von Stuckrad-Barre in fünf Jahren ihre altbewährten Pfade verlassen und etwa einen Roman über die öffentlich-rechtlichen Fernsehanfänge oder die Dada-Bewegung in Berlin schreiben könnten, das ist unvorstellbar. Etwas wagen, riskieren, Unmögliches tun - Michael Chabon hat es getan, sein Roman ist einzigartig!