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Oktober 2002
Ekkehard Knörer
für satt.org

Jonathan Franzen:
Die Korrekturen

Rowohlt Verlag, Reinbek 2002

Jonathan Franzen: Die Korrekturen
780 Seiten, 24,90 EUR
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Potemkinscher Realismus

Das Publikum und die Kritik, erst in den USA, dann bei uns, haben Jonathan Franzens Roman „Korrekturen“ begrüßt, als sei ihnen der Messias erschienen. Von Oprah Winfrey bis zur FAZ war das Entzücken groß, die erste Million ist verkauft, Franzen ist der Star der Saison. Fragt sich nur: Wie kommt's? Franzen selbst, scheint es, hat die Perspektive vorgegeben. In seinen früheren Werken hat er sich am Experiment abgemüht, ohne große Resonanz, und hat dann - natürlich gleich öffentlich - beschlossen, Jahre zu investieren in einen Gesellschaftsroman, in dem Amerika und der Gegenwart mit ausdauerndem erzählerischen Atem der Spiegel vorgehalten wird. Warum, so Franzen trotzig und alle sprechen es ihm nach, soll man heute keinen realistischen Roman nach Art des 19. Jahrhunderts schreiben können, gegen alle akademische Skepsis und als Gegengift gegen die bei aller Welthaltigkeit leserunfreundliche Raffinesse von Pynchon, DeLillo, Gaddis & Co.

Zum Schauplatz, an dem sich die Gegenwart versammeln soll, wird die amerikanische Familie Lambert, Mutter Enid und Vater Alfred wohnen noch im mittleren Westen, wo sie auch hingehören, denn nicht nur ihre Moralvorstellungen sind von vorgestern. Die an die Ostküste geflohenen Kinder Chip und Gary und Denise dafür sind mitten drin in den kulturellen und ökonomischen Strudeln der Gegenwart. Der Roman beschäftigt sich abwechselnd mit allen Beteiligten, erzählt Geschichten aus ihrem Leben und zwar immer so, dass jeder mitkommt. Diese Leben ergeben im Grunde jedes einen Roman, mit grobem Garn ist das zusammengenäht, aber auf unlösbare Weise ineinander geschlungen ist es nicht, auch wenn am Ende alles auf die große weihnachtliche Wiederbegegnung der Familie hinausläuft: mit Müh und Not, mit dem Schweiß der Anstrengung auf der Stirn schiebt der Erzähler die Geröllhalden seiner Einzelromane zum Schlussbild zusammen.

Die Teilstücke sind streng um ihre jeweiligen Protagonisten herumgebaut. In deutlich ausgeflaggten Rückblenden wird psychologische Erläuterung herangeschafft: Chip, dessen akademische Karriere den Bach runtergeht, war als Junge schon ein Schwindler vor dem Herrn, für Denise's sexuelle Verunsicherung gibt es gleichfalls gute, zum besseren Verständnis vorgeführte Gründe. Keine der Figuren gerät dabei zu mehr als zum Schattenriss ihrer selbst. Franzen behängt sie mit aktuellen und zeitlosen Problemen, mit Lüsten und Krankheiten und Neurosen und Alkoholismus und Börsenschwindeleien, alles kommt vor, nichts wird ausgelassen und am Ende ächzen sie alle unter der Last des vermeintlich Lebensechten, die sie, zum höheren Zwecke des Gesellschaftsromans, zu tragen haben.

Nicht minder problematisch als die Menge des Materials, das Franzen in seinen Roman gestopft hat, ist die Behandlung. Er ist nämlich alles andere als der geborene Erzähler, als der er sich mit den „Korrekturen“ zu inszenieren versucht. Sein Entwurf des Romans, der nicht Kopfgeburt sein soll, ist nichts anderes als das. Satz für Satz steht ihm das, dem Leser zum baldigen Verdruss, auf die Stirn geschrieben. Franzen erzählt nicht, sondern er transformiert sein Wissen in Fiktion. Weder die Sprache ist zuerst da noch die Lust am Fabulieren, sondern der Stoff, der, koste es, was es wolle, unterzubringen ist und der Kommentar, die Erläuterung, die anzubringen sind. Die Figuren rennen, von Anfang an, dem hinterher, was ihnen, der Ambition des Autors wegen, zustoßen muss. Eine Satire auf die politisch korrekte Kulturlinke hat Franzen sich vorgenommen, da muss Chip jetzt durch (übrigens ist sie reichlich abgeschmackt, die Satire). Den Teil mit der Geschlechterverwirrung hat Denise abbekommen, Alfred darf sich mit Parkinson herumschlagen, Gary trinkt zu viel. Enid hat auf der Kreuzfahrt, auf der es zur einzig wirklich komischen Szene des Romans kommt, eine Affäre mit Psychopharmaka. Dann hat der Autor noch eine Reise ins transformationsgeschüttelte Litauen gemacht, das ist wieder was für Chip, so geht das die ganze Zeit. Das ist doch kein Leben, auch nicht für eine Romanfigur.

Fürs Detail interessiert sich Franzen dabei kein bisschen: Denise ist Köchin, aber nicht in Ansätzen wird der Versuch unternommen, sie aus diesem Punkt heraus dem Leser vors Auge zu stellen. Auch Chip wird im akademischen Feld nur entlang der dümmsten Klischees verortet, übers bloß Exemplarische (und exemplarisch Dumme) gelangt das nirgends hinaus. Zudem führt der Erzähler seine Figuren fast durchgehend am Gängelband seiner Ansichten und Erklärungen: über eine halbe Seite erläutert er etwa, was Denise, als sie in ihr erstes sexuelles Abenteuer rennt, alles nicht kapiert. Er kann es nicht zeigen, also bietet er den psycho-sozialen Kommentar: „Sie kam nicht auf die Idee, dass Don Armours Hauptwesenszug das Selbstmitleid war und dass er, mit ebendiesem Selbstmitleid, schon viele Mödchen vo rihr herumgekriegt hatte. ( …) Sie kam nicht auf die Idee, dass Don Armour der Klassenunterschied zwischen ihnen beiden, der ihr unangenehm war, vielleicht gerade reizte.( …) Nichts von alledem kam Denise in den Sinn, damals ebenso wenig wie später.“ Und nichts von alledem kann der Autor voführen, in fast jede Szene, die er beschreibt, drängt sich - und sei es in den unauffälligsten Wendungen - die den Figuren und ihrer Perspektive fremde Stimme des immer eine Spur zu neunmalklugen Erzählers.

Enid öffnet die Tür, vor der ihr Sohn Gary steht. Der Anblick, der sich bietet, wird so beschrieben: „Die Straße war von jenem widernatürlich goldenen Licht aus den Häusern überflutet, mit dem ein weniger begabter Maler die Teilung des Roten Meers illuminieren mochte.“ Wo, fragt man sich, kommt plötzlich das Rote Meer her? Dass es sich um Enids Assoziation handeln könnte, ist höchst unwahrscheinlich. Nein, hier spricht der Erzähler, und zwar mitten hinein in Enids Wahrnehmung, aus der er mit seinem Farbvergleich auf irritierende Weise hinausspringt. Das geht so ein ums andere Mal und es ist nichts anderes als der selbstgefällige Wunsch einer Erzählerstimme, immer selbst im Vordergrund zu stehen. Alfred, der Eisenbahner, sinnt nach über glückliche Zeiten in der Vergangenheit: „Das waren Abende, und es gab Hunderte, vielleicht Tausende davon, an denen nichts die Keimzelle der Familie befallen hatte, was traumatisch genug gewesen wäre, eine Narbe zu hinterlassen.“ Unter den mit viel Fleiß gesuchten Metaphern ist das noch eine der weniger verunglückten, jedoch: wer denkt hier, bringt die Erinnerung auf dieses denkbar unsinnliche Bild? Wieder und wieder schmuggelt Franzen ein seltsam szientistisches Vokabular in seine oft ganz unsäglich misslungenen Vergleiche und Metaphern und stößt damit seine Figuren, die von den angeschleppten Sprachspielen keine Ahnung haben können, vor den Kopf.

Der Dauerton der Erzählerstimme, bald schon ein Tinnitus im Leserohr, scheint ein Symptom. Keineswegs nämlich ist Franzen, wie er behauptet, von seinem Temperament her ein realistischer Erzähler: die glatte Identifikation, das Entwickeln von Psychologie und Geschichten aus der Logik der Narration oder der Sprache, all das bleibt seiner Prosa denkbar fremd. Die Naivität der Mimesis ist vielmehr Produkt der Reflexion, die in der Erzählerstimme Symptom wird. Franzen will durch die Hintertür wieder ins Paradies, aber es geht nicht. Er hat das Paradies des vormodernen Erzählens mit viel Mühe nachgebaut, aber es ist eine potemkinsche Realität: auf der Rückseite der Figuren und der Gegenstände steht immer schon der Kommentar, die wissenschaftliche Beschreibung. Franzen liefert keine Individuen, sondern aufgespießte und scheinhaft reanimierte Exempel für dies und das. „Korrekturen“ ist ein Romanimitat und kein Roman. Er ist synthetischer als die avantgardistischste Fiktion, aber er verleugnet es. Er ist nicht Fisch und nicht Fleisch und doch stürzt sich alle Welt mit Heißhunger darauf.