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November 2002
Anne Hahn
für satt.org

Hari Kunzru:
Die Wandlungen des Pran Nath
Karl Blessing Verlag, München 2002

Hari Kunzru: Die Wandlungen des Pran Nath

505 Seiten, 24,90 EUR
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Nur eine leere Hülle?

Hari Kunzru lässt einen Jungen zwischen Hautfarben und Kulturen irrlichtern

„Ihr Liebesakt ist unerfahren und gewaltsam, mehr Kampf als Sex, wie sie sich über den festgestampften Boden wälzen und sich aneinander krallen. Es passiert schnell, und dann liegen sie lange ineinander verschlungen und atmen heftig. Das nie gekannte Gefühl eines anderen Körpers lässt sie von neuem beginnen, und das tun sie noch zweimal … Beim letzten Mal ist das Feuer niedergebrannt, und Schweiß und Staub haben ihrer beider Haut die gleiche rotbraune Farbe verleihen. Die Farbe der Erde.“ Die zwei, die sich hier am Beginn des Romans während einer Sturzflut in einer Höhle lieben, sind Amrita, die opiumsüchtige indische Adlige und Ronald Forrester, englischer Beamter für Baumbepflanzung. Es wird ihre einzige, für das Buch die ausschlaggebende Begegnung bleiben. Denn Amrita gebiert nach entsprechender Zeitspanne einen Knaben, der anders ist als sein offizielles Brahmanin-Kaschmiri-Pandits Elternpaar. „Pran Nath ist zweifellos ein gutaussehender Junge. Sein Haar hat im Sonnenlicht einen leichten Kupferton, der die Leute an die Berge erinnert. Seine Augen enthalten einen zarten Anflug von Grün. Seine Wangenknochen sind hoch und springen vor, und darüber legt sich wie ein teures Trommelfell eine Bespannung aus Haut, die nicht braun ist, ja nicht einmal weizenfarben, sondern weiß.“ Die schöne, weltfremde Mutter stirbt bei der Geburt des Sohnes und der vermeintliche Vater, Razlan Nath, kümmert sich wenig um den egozentrischen, hellhäutigen Sohn.

Die chronologisch ausführliche Entwicklungsbeschreibung unseres Helden setzt im Jahre 1918 ein. Der nunmehr fünfzehnjährige Pran tyrannisiert die Angestellten und steht im Begriff, die Tochter einer Dienerin zu verführen. Der Vater kuriert in den Gemächern des Stadthauses eine Grippe mit Zwiebelbädern. Die Dienerin Anjali greift zum letzten Mittel, ihre Tochter zu retten, sie zieht ein wohlgehütetes Geheimnis aus ihren weiten Röcken - eine verblichene Fotografie des fremdem Weißen, dessen nackte Leiche sie vor sechzehn Jahren aus dem Morast unterhalb der Banditenhöhle zogen; „vor der saß Amrita in Khakihemd und Shorts … Es war nicht schwer, sich vorzustellen, was passiert war.“

Anjali präsentiert dem im Zwiebelfass und Fieberwahn delirierenden Razlan Nath das Foto von Forrester und den weißhäutigen Knaben. Dieser begreift. „Pran Nath und das Foto sind zwei Versionen ein und desselben Bildes. Dies hier ist nicht sein Sohn. In diesem Moment zerspringt etwas … Noch ehe die Leiche kalt ist, werfen sie Pran aus dem Haus.“

Mit diesem Bruch aller Werte im Leben des jungen Pran beginnt seine verzweifelte Suche nach eigener Identität, nach dem Überleben in einer vielschichtigen Gesellschaft verschiedenster Hautfarben und Kulturen. Hari Kunzru entwirft ein Kaleidoskop an Geschichten und Geschichte, verknüpft Kolonialerfahrungen des indischen Kontinents mit individuellen Lebensläufen. Überraschend ist die Detailgenauigkeit des Autors, das riesige Ausmaß an Recherchen, das hinter jedem Absatz steckt.

Pran lungert herum, Pran landet in einem Hurenhaus, wird mit „Spezial-Lassis“ unter Drogen gesetzt, verwahrlost, ist unbestimmte Zeit eingesperrt, hat Visionen. Sein Ich zersplittert. „Pran ist jetzt in tausend Stücken. Ein Haufen Pran-Scherben, bereit, durch das nächste zufällige Ereignis in neuer Reihenfolge wieder zusammengesetzt zu werden.“ Am Ende des ersten Teils holen zwei hochgewachsene Frauen Pran ab, waschen ihn und kleiden ihn in Frauenkleider. Ein dichter Schleier hängt ihm vor dem Gesicht. Pran wird Rukhsana.

Nun lebt Pran im Palast des Nawab von Fatehpur, der einer Torte, einem Schaumgebäck gleicht. Dieser Palast, erfahren wir, ist eine dreidimensionale Projektion eines zerrütteten Geistes – sein italienischer Architekt litt an Syphilis. Pran soll nur allzu schnell seine neue Bestimmung erfahren. Der Khwaja-sara , der Haupthijra (wörtl. Hermaphrodit; Mensch eines sogenannten dritten Geschlechts) von Fatehpur, fuchtelt vor Pran mit einem Messer herum „Leider haben wir und anderen Dingen zu widmen, ehe wir dich von der Tyrannei deines Geschlechtes erlösen. Du bist Rukhsana, was heißt, dass du nichts bist. Du bist hierher gebracht worden, damit du dem Staate Fatehpur einen Dienst erweist, und du wirst dein Pflicht ohne Klagen tun. Danach erhältst du deinen Lohn.“ Der Dienst ist, man ahnt es schon, ein Leibes- Liebesdienst. Pran soll dem Major Privett-Clampe zu Diensten sein, der damit erpressbar und lenkbar für die Geschicke Fatehpurs werden soll. Prans Rettung, was die Erhaltung seines Geschlechtes betrifft, ist das Scheitern des Erpressungsplans. Der Majors kann nicht beim „Akt“ erwischt, das entscheidende Foto nicht geschossen werden. So lernt Pran englische Gedichte und ein wohlgesetzte Aussprache, besucht den Major in englischer Schuluniform in dessen Residenz und wird ein immer kostbarerer Unterpfand. Berückend sind Kunzrus Beschreibungen der mondänen Partys in Fatehpurs Palastgemächern, Kokain- und Opiumexzesse wechseln mit pornographischen Filmvorführungen, nackte weiße Mädchen fahren vor Prans Nase Fahrrad durch die Palastgänge … Und eines Tages wird eine Tigerjagd in Fathpurs Wäldern inszeniert, an der die englische Verwaltungsspitze und indische Aristokratie teilnimmt. Dabei kulminieren die Ränke und Drogenverstrickungen aufs köstlichste. Es wird geschossen und gestorben, geschrieen und verflucht. Pran und die Tiger hauen ab.

Der dritte Teil der 505 Seiten langen Wandlungen des Pran ist mit „White Boy“ überschrieben. Doch diese zehn Seiten lange Episode beweist nur, dass Pran unter bestimmten Umständen als weißer Junge durchgeht. Im folgenden Teil „Pretty Bobby“ lernt er als Dandy – Mischling die Unterwelt Bombays kennen und durchschauen. Bei einer Missionarsfamilie untergekrochen, studiert er mit dem Hausherren Mr. Macfarlane die Kraniometrie (Schädelvermessung) und mit Mrs. Macfarlane die Esoterik. Geisterbeschwörung kam als Mode und Einnahmemöglichkeit semibürgerlicher Schichten auf, deren pekuniären Wert Pran bald zu schätzen weiß. Aber er schafft sich auch andere Quellen für die Uhren, teuren Schuhe und Anzüge, mit denen er sich nunmehr schmeichelt. Botengänge im Zuhältermilieu und Begleitdienste für betrunkene Matrosen erhöhen sein Taschengeld beträchtlich. Pran baut sich selbst eine Traumwelt, in der er Prinz sein darf. Diese gerät in Gefahr, als er sich in die weiße Schönheit Lily verliebt und auch noch glaubt, sie für sich gewinnen zu können. Lily lässt alle Bombayträume platzen, als sie Pran mit den Sätzen verjagt; „Hau ab, Kleiner. Na los, zieh Leine und komm nicht wieder. Sollte ich dich noch mal zu Gesicht kriegen, hier oder sonst wo, sag ich’s denen. Sie stecken dich ins Gefängnis. Niemand mag Nigger, die weißer Mann spielen.“ Pran ist empfindlich verletzt. Als er kurz darauf den jungen Engländer Jonathan Bridgemann trifft, reagiert er routiniert. Dem unangenehmen Alkoholiker verschafft er am Abend einer Hatzjagd auf Weiße, die den Höhepunkt größerer Unruhen in Bombay darstellt, einen Puffbesuch. Brigdemann ist der zügellose letzte Spross eines Schnapsherstellers, der seinen Vormund in London kennen lernen soll. Er ist gerade 18 Jahre alt und noch nie in England gewesen. Auf dem Rückweg zum Hafen, wo in wenigen Stunden ein Schiff mit Bridgemann an Bord zur Überfahrt nach England auslaufen soll, wird der halb bewusstlose Bridgemann von aufgeregtem Mob erschlagen. Pran war geflohen. Doch nun kehrt er zur entstellten Leiche zurück und findet dessen Schiffsticket und Pass. Klar, dass Pran die Gelegenheit nutzt.

Die nächste Wandlung des Pran Nath beginnt. Über 200 Seiten lang entwickelt sich Pran zum Engländer Jonathan Bridgemann. Er besucht Schulen und die Universität, notiert englische Redewendungen und Verhaltensweisen und spielt den vollkommenen Engländer. Und doch schockiert ihn, dass er einige Jahre später von seiner Braut zugunsten eines Schwarzen(!) verlassen wird. Angezogen von dessen Exotik erklärt Star ihrem Verlobten; „ich kenne dich, Jonny. Ich habe das Gefühl, ich kenne dich in- und auswendig. Gloustershire, Chopham Hall, Oxford, bla bla bla. Du bist sehr lieb, aber du bist genau wie alle anderen. Du machst dieselben Dinge wie alle anderen. ( …) Du bist der konventionellste Mensch, den ich kenne, Jonny. Ich finde das in Ordnung, aber das ist nichts für mich. Du folgst gerne den Regeln und hast alles genau so. Ich möchte davon weg.“ Das ist ein Schlag ins Gesicht für den jungen Mann, der seinem Lebensziel so nahe war. Als studierter englischer Mann mit einer intelligenten, schönen Engländerin verheiratet zu sein …

Nun schlittert der Roman seinem überraschendem Ende zu, um das der Leser bangt. Wie mag es mit dem „Imitator“ der letzten 60 Seiten nur ausgehen? Hari Kunzru hält auch über dieses finale Kapitel seines Helden hinweg eine beinahe beängstigende Höhe der Erzählkunst. Mit gleichbleibender Detailfreude breitet er Zivilisationen und Lebensläufe, diesmal des afrikanischen Kontinents, vor uns aus. Er schildert, ohne zu mahnen, die kulturelle Überheblichkeit der Europäer, das Scheitern einseitiger Machtmodelle – auch im wissenschaftlichen Denken - und die offenbare Verlorenheit solcher Zwitterwesen wie Pran Nath.

Der Autor selbst ist der dreiunddreißigjährige Sohn einer Engländerin und eines Inders. Er lebt in London und arbeitet an seinem zweiten Roman, auf den man gespannt sein darf. Mit seinem Debüt hat sich Hari Kunzru bereits in die Literaturgeschichte ersten Ranges eingeschrieben! Dem Blessing Verlag ist dafür zu danken, dass er so schnell ein Meisterwerk der paneuropäischen Literatur für deutsche Leser zugänglich gemacht hat und dem Übersetzter Benjamin Schwarz für die behutsame und wortgewaltige Übertragung aus dem Englischen.